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ОглавлениеA. Begriff und Verortung
der Allgemeinen Staatslehre
„Die wichtigste, auf menschlicher Willensorganisation beruhende soziale Erscheinung aber ist der Staat […].“
Georg Jellinek [1]
„[D]ie Basis aller juristischen Betrachtungen ist nach wie vor die rechtsdogmatische Festlegung der Begriffe.“
Hans Peters [2]
Was ist Allgemeine Staatslehre? In welchem Verhältnis steht die Allgemeine Staatslehre zum Staatsrecht, zur (vergleichenden)[3] Verfassungslehre, zur Staats-, Politik- aber auch zur Sozial- und Wirtschaftswissenschaft? Ist eine Allgemeine Staatslehre im 21. Jahrhundert in Zeiten voranschreitender Globalisierung und eines (vermeintlichen) Untergangs des modernen Staates noch zeitgemäß? Ist sie im ausgefächerten Wissenschaftssystem noch möglich? Und wenn ja: Wie könnte ein angepasstes und auf aktuelle Entwicklungen reagierendes Lehr- und Forschungsprogramm aussehen, das versucht, Tradition und Gegenwart der Disziplin miteinander zu versöhnen?
Die Antwort auf diese Fragen fällt schwerer als man angesichts der langen, in das 19. Jahrhundert zurückreichenden[4] und vornehmlich deutschsprachigen[5] Tradition der Allgemeinen Staatslehre vermuten würde.[6] Eine |2|allgemeingültige Definition „dieses in die Jahre gekommenen Disziplinformats“[7] fehlt weiterhin, man wird sogar sagen können, dass die Beschreibung ihres Gegenstandes den ersten Streitpunkt unter denjenigen darstellt, die sich der Allgemeinen Staatslehre verschrieben haben. Es besteht dadurch eine erhebliche Unsicherheit, wenn man zu bestimmen versucht, womit sich die Allgemeine Staatslehre beschäftigt oder womit sie sich beschäftigen sollte. Vor diesem Hintergrund ist es nicht überraschend, dass (klassische) Lehrbücher auf diesem Gebiet nicht nur eine individuelle Begrifflichkeit zugrunde legen, sondern zugleich individuelle Schwerpunkte setzen und damit ihren eigenen (wissenschaftlichen) Weg gehen. In der Konsequenz unterscheiden sich die Lehrbücher signifikant in Inhalt, Aufbau und Konzeption. Anders ausgedrückt: Allgemeine Staatslehre ist nicht gleich Allgemeine Staatslehre. Der Großteil der Lehrbücher – und das gilt gleichermaßen für ältere wie für neuere Werke – verzichtet auf eine knappe und einprägsame Definition und wählt stattdessen den Weg der beschreibenden Erläuterung, in der weniger dargelegt wird, was Allgemeine Staatslehre generell ist oder sein sollte als vielmehr, was der jeweilige Verfasser darunter versteht.[8] Für die Vorlesungen, die an den unterschiedlichen Fakultäten gehalten werden, gilt nichts anderes, zumal diese bisweilen mit der Verfassungsgeschichte und anderen Grundlagenfächern kombiniert werden und schon dadurch divergierende Schwerpunkte setzen. Zum juristischen Pflichtstoff zählt die Allgemeine Staatslehre ohnehin – wenn überhaupt – nur als Bestandteil der Grundlagenfächer.[9] Was Studierende erwarten können, die diese Vorlesung besuchen, erfahren sie daher erst zu Beginn des Semesters und es variiert in Abhängigkeit von den DozentInnen. Hier zeigt sich bereits ein Unterschied zu den Kerngebieten des öffentlichen Rechts. Inhalt und Aufbau der gängigen Lehrbücher weisen dort eine große Ähnlichkeit auf, was daran liegt, dass eine prinzipielle Einigkeit über den behandelten Gegenstand und auch über die Art der Darstellung besteht. Das gilt für den Bereich des Staatsrechts (insbesondere für die Grundrechts-Lehrbücher), ebenso aber für das Verwaltungsrecht.[10] Deutlich wird dies auch in den Prüfungsordnungen der Landesjustizprüfungsämter, die in diesen Bereichen vergleichsweise kongruent ausfallen.
|3|Diese unterschiedlichen Lehrverständnisse spiegeln die wissenschaftliche Welt der Allgemeinen Staatslehre. Ein konsentiertes Forschungsprogramm fehlt,[11] was allerdings nicht zwingend als Defizit angesehen werden muss, sondern auch als wissenschaftliche Offenheit einer sich entwickelnden Programmatik im (globalen) Kontext interpretiert werden kann. Wichtiger als wissenschaftlicher Konsens, so ließe sich formulieren, ist dann die konstante Debatte über Begriff und Aufgabe der Allgemeinen Staatslehre. Diese Debatte hält die Allgemeine Staatslehre am Leben; käme sie an ihr Ende, dürfte das das Ende der Allgemeinen Staatslehre in ihrer bisherigen „experimentellen“ Form sein.
Auf den folgenden Seiten soll vor diesem Hintergrund ein Beitrag zu dieser Debatte geleistet und ein Vorschlag gemacht werden, was unter einer modernen Allgemeinen Staatslehre zu verstehen sein könnte, welche Aufgaben eine solche im 21. Jahrhundert sinnvollerweise (noch) wahrnehmen kann und an welchen Stellen sich konkreter Forschungsbedarf entdecken lässt. Anders formuliert: Es geht um die Beantwortung der an die Schiller’sche Antrittsvorlesung aus dem Jahre 1789 anknüpfenden Frage: Was heißt und zu welchem Ende studiert man Allgemeine Staatslehre?
Betrachtet man die bestehenden Vorstellungen von und Beschreibungen der Allgemeinen Staatslehre vor diesem Hintergrund, lassen sich drei Gemeinsamkeiten herausschälen, die – bei allen Unterschieden im Detail und in der Gewichtung – das weitgehend konsentierte Fundament der Allgemeinen Staatslehre bilden. Sie werden im Folgenden skizziert (I–III) und liegen der knappen Definition zugrunde, die anschließend vorgeschlagen wird (IV).