Читать книгу Oceanside Affairs - Alexandra B. Schopnie - Страница 6

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Den Heimweg von Leas geräumiger Single-Wohnung im Stadtkern würde Maddie auch mit verbundenen Augen finden. Sie hatte die Wahl zwischen Bus, Fußweg oder Fahrrad und obwohl das Wetter an diesem Oktobertag zwischen grau und mies schwankte, hatte sie sich für das gelbe Fahrrad entschieden, das ihre Eltern ihr zum Studienbeginn geschenkt hatten. Sie liebte es, obwohl der dritte Gang manchmal klemmte und das Licht nur einen dürftigen, wackeligen Kegel warf.

Ein Abend mit Lea bedeutete meist folgendes: Zwei Folgen Oceanside Murders, ein Bier. Und dann ab nach Hause. Das klang nicht besonders spannend, doch ein Serienabend war zwischen dem Ausarbeiten neuer Unterrichtsstunden immer eine willkommene Abwechslung. Ganz besonders, wenn man dabei zu einer Pizza hervorragend die Seele baumeln lassen und einem hübschen Macho-Detective hinterherschmachten konnte.

Der Regen fiel nicht stark, dafür stetig und hing an den Nähten ihres blauen Regenponchos, tropfte in Rinnsalen auf ihre Knie und Handgelenke. An guten Tagen brauchte sie 13 Minuten, an schlechten 17. Heute war ein mittlerer Tag. Nach einer Viertelstunde betrat Maddie den Hausflur und streifte sich das nasse Stück Plastik ab.

Ziel des Heimwegs von Madeline Valentina García war eine Drei-Zimmer-Wohnung in einer ruhigen Mehrfamilienhausgegend abseits des Zentrums von Portland, Oregon. Es war eine nette Gegend mit vielen jungen Paaren und Familien. Das war wohl auch der Gedanke, den Pete und Maddie hatten, als sie hier einzogen: hier könnte man gut wohnen und müsste nicht gleich umziehen, falls in den kommenden Jahren ein kleiner Pete oder eine kleine Maddie heranwüchse. Sie waren Beide 27 geworden und Pete schien der Gedanke an ein Baby keine Angst zu machen, obwohl sich ihre Beziehung ziemlich schnell entwickelt hatte. Mit dem Studium waren sie beide im letzten Jahr fertig geworden. Es kam Maddie manchmal vor, als wäre es schon ewig her, dass sie das letzte Mal über den Campus der Portland State University gelaufen war. Seitdem hatte sich vieles verändert, stellte sie mit einem Blick in den dunklen Hausflur fest.

Gedankenverloren faltete sie den Poncho zusammen und stieg die Treppen hoch in den zweiten Stock. Die Handgriffe saßen, sie brauchte kein Licht zu machen, um das Schlüsselloch der Wohnungstür zu finden. Die hässlichen, wasserfesten Turnschuhe mussten draußen bleiben. Vermutlich lag Pete schon im Bett. Jemand, der fleißig ist, darf auch gut schlafen – das hatte ihr Papa immer gesagt, bevor er wegen seiner Lunge früh in Rente gehen musste.

Mit leisen Schritten huschte Maddie in den kleinen Raum neben ihrem Schlafzimmer, der von Pete nur „die Bastelküche“ genannt wurde. Abgesehen von ein paar Kartons, einem Koffer und der Deckenlampe hatten Maddies Dinge das kleine Zimmer annektiert. Ihr schmaler Schreibtisch stand vor dem Fenster, um das sich Bücherregale rankten. Die schönen, wichtigen Bücher wie Harry Potter oder Der Name des Windes hatten es ins Wohnzimmer geschafft, sodass hier die Nachschlagewerke aus Studium und Kochwelt, sowie solche Bücher, die man nicht mehr las, aber nicht verschenken mochte, ihren Platz gefunden hatten.

Dazwischen hatten sich Kartons gequetscht, in denen Erinnerungen lagen, darunter ihr Cheerleader-Kostüm aus der High-School oder Postkarten aus fernen Ländern, die Maddie nie selbst besucht hatte.

Maddie ließ sich auf den Bürostuhl fallen, klappte ihren Laptop auf. Die Websites, die sie gestern Abend geöffnet hatte, waren noch offen. Ein Forum, in welchem sie Ihre Fan-Geschichten über ihre derzeitige Lieblingsserie Oceanside Murders veröffentlichte, eine Seite mit Salsa-Musik in Dauerschleife und Twitter. Maddie klickte auf den Tab mit dem kleinen blauen Vogel und versteifte sich. 218 neue Benachrichtigungen. Sie starrte auf die kleine Zahl, die als blaue Bubble in ihrem Menü erschien. 218 Benachrichtigungen glichen einer Explosion ihres Accounts. Und schon ertönte ein leises Pling, das auf 219 erhöhte.

Mit nervösen Händen machte Maddie sich auf die Suche nach der Ursache und scrollte in der Benachrichtigungsliste nach unten. Offenbar hatte ihr letzter Tweet viele (und zwar wirklich viele) Menschen erreicht, über 1.500 genau genommen. Wo kamen die ganzen Leser plötzlich her? Eine Antwort auf diese Frage erhielt sie durch Lesen der ersten, unscheinbaren Benachrichtigung: „Chase Anderson folgt dir jetzt auf Twitter“ und die Tatsache, dass er ihren Beitrag geteilt und kommentiert hatte.

Von @mads_v_g

Ich frage mich wirklich, warum Chase in #OceansideMurders immerzu Cargo-Hosen trägt. Jeans wären eine willkommene Abwechslung! Vielleicht sollte man/frau eine Petition klarmachen.

Mit großen Augen las Maddie, was er darauf geantwortet hatte:

Von @Chase_Anderson_for_real

Liebe @mads_v_g, du brauchst keine Petition einzureichen. Der Grund dafür ist, dass unser zuständiges Garderoben-Team glaubt, die Cargo-Hosen würden besser zu meiner Po-Form passen. Ich sehe mal, ob ich da was machen kann. Grüße, Chase Anderson

Pling.

Pling.

Pling.

Eine kurze Weile starrte Maddie noch auf den Kommentar von dem australischen Schauspieler, den sie eben noch im Fernseher oben ohne am Strand bewundert hatte und der jetzt offenbar ihrem Account folgte.

Chase Anderson war, gemeinsam mit Stef Martinez, das Herz der amerikanischen Actionserie Oceanside Murders. Die beiden spielten zwei Detectives, die im schönen amerikanischen Küstenort Oceanside Morde und sonstige Verbrechen aufklärten. Dass die Serie sich zu Maddies Lieblingsserie gemausert hatte, lag vor allem an Chase Anderson. Der attraktive Australier mit dem dunklen Haar und den himmelblauen Augen hatte es ihr angetan und deshalb war das, was hier gerade passierte, ziemlich abgefahren.

Sie begann, die Fakten zu recherchieren: war das eine Marketing-Offensive? Folgte er vielen weiblichen Fans, um die Gefolgschaft etwas anzukurbeln? Nein, sah nicht danach aus. Während er nur knappe 400 Leute abonnierte, folgten ihm weit über eine Millionen Menschen. Was waren seine letzten Tweets? Etwas über Klimawandel, über die Dreharbeiten, ein Aufruf einem Freund beim Sammeln für Charity-Aktionen zu helfen und ein Foto von sich beim Boxen.

Maddie atmete tief aus. Konnte es sein, dass sie eine Ausnahme war? Einer von wenigen Fans, denen er zurückfolgte? Und wenn ja, warum? Ihr Twitterverhalten war stinklangweilig! Sie kommentierte die neuen Folgen der Serie und schrieb manchmal etwas über ihren Alltag als Grundschullehrerin. Und hatte er sich durch ihr Twitter-Profil geklickt und festgestellt, dass sie öfter über ihn schrieb, als er es eigentlich wissen sollte? War er das überhaupt hinter seinem Account? War er ein echter Mensch, der auch hinter dem Fernseher existierte? Klar, bestimmt. Jemand wie er war aber nicht dafür gedacht, plötzlich real zu werden.

Aus einer Kurzschlussreaktion heraus klappte Maddie den Laptop zu. Sie würde jetzt ins Bett gehen und sich das Ganze morgen Abend in Ruhe ansehen. Bis dahin würde sie sich damit nicht mehr beschäftigen sondern schlafen, sich auf ihren Job konzentrieren und sich nicht nach Hollywood zu einem Schauspieler einer Fernsehserie träumen. Es gab Grenzen, die man besser nicht übertrat, wenn man sein echtes Leben noch auf die Reihe bekommen wollte.

*

Noch zehn. Neun. Acht. Sieben… Chase Anderson zählte gedanklich hinunter bis null und ließ dann die Arme sinken. Er spürte die Nachwirkung der Übung an der inneren Seite seiner Oberarme und anhand des fast schmerzhaften Ziehens in den Brustmuskeln. Mehrere Teile seines Körpers meldeten Erschöpfung an und Chase war dankbar, dass er das Training jetzt guten Gewissens beenden konnte. Das weiße Handtuch sog den Schweiß von seiner Stirn, als er sich damit über das Gesicht fuhr.

Beim Aufstehen fühlte er den hartnäckigen Rest einer leichten Zerrung im rechten Unterschenkel, die er sich vorletzte Woche beim Dreh auf einem Hügelkamm zugezogen hatte, die Prellung seines Arms von einer Kampfszene und die Schürfwunde am Knie, die er sich bei einem Sturz während eines Sprints eingehandelt hatte. Er trank einen Schluck kaltes Wasser aus einer silbernen Trinkflasche, die das Logo des Senders trug, dessen Serie das Haus finanzierte, in dem er seit vier Jahren lebte.

Die Rolle, die man ihm vor vier Jahren angeboten hatte, lebte von abenteuerlichen Szenen und waghalsigen Aktionen. Außerdem war es unabdingbar, dass der Detective eines Küstenorts auch in Badehosen eine herausragende Figur machte, und so fügte sich Chase seitdem einem straffen Trainingsplan. Einmal die Woche hatte Chase einen Termin bei einem Physiotherapeuten, der mit ihm sein Trainingsprogramm besprach, prüfte, ob sein Körper Zeichen von Überbelastung zeigte und der ihn, falls notwendig, auf bestimmte Stunts oder Szenen vorbereitete. An den meisten Tagen machte es ihm Spaß, doch manchmal, wenn die Muskeln zu übersäuern schienen und die Drehtage viel Präsenz forderten, sehnte auch der sportlichste Mensch sich mal nach seiner Couch.

Und genau dahin würde er jetzt gehen, dachte Chase bei sich, als er seinen privaten Fitnessraum im Keller seines Bungalows hinter sich ließ.

Vermutlich nagte auch noch das Quartalsgespräch von heute Morgen an ihm, in welchem man ihm mitgeteilt hatte, dass die Zuschauerzahlen von Oceanside Murders seit der aktuell laufenden Staffel sanken und es zur Debatte stand, die Serie nach dem Abschluss des gerade begonnen Drehs der fünften Staffel abzusetzen. Sie konnten offenbar nicht mit den Dauerbrennern der Primetime mithalten.

Halbherzig schmiss er das Handtuch auf die Couch im Wohnzimmer und ließ sich hinterherfallen, die Beine lang ausgestreckt. Er griff zu der Wundsalbe, die immer auf dem Couchtisch lag, und verteilte die weiße Creme auf dem geschundenen Knie. Wenn er irgendwann mal kein Actionheld mehr sein würde, brachten ihn zu viele Narben wohlmöglich um eine Rolle. Sein Kopf fiel zurück. Er fühlte die weichende Wärme unter seiner Haut, die Müdigkeit seiner Beine. So sehr er seine Arbeit auch mochte, er war einfach geschafft.

Der Fernseher füllte den Raum mit Hintergrundrauschen, das die Stille übertönte. Chase griff nach seinem Handy. Eine Nachricht seiner Schwester Susie, eine Terminerinnerung für morgen – sämtliche Benachrichtigung weiterer sozialer Medien waren ausgeschaltet. Dennoch schaute er einmal bei Twitter vorbei. Die App mit dem kleinen, blauen Vogel war das einzig noch verbliebene Medium, dessen beruflichen Kanal er selbst bediente.

Eher lustlos scrollte Chase durch seine Timeline und verlor sich in Meinungen von Fans und Kritikern, die unter dem Hashtag #OceansideMurders etwas gepostet hatten. Meistens sparte er sich eigene Reaktionen auf Fanmeinungen. Fans waren sehr sensible Wesen und reagierten nicht immer so wie erhofft, wenn man in Interaktion mit ihnen trat. Aber es war erst halb acht und er war zu kaputt, um noch viel mit diesem Abend anzufangen.

Chase wusste, dass manche Kollegen sogar feste Stundenkontingente für die Netzwerke hatten, aber das war einfach nicht sein Ding, auch wenn ihm bewusst war, dass Interaktionen mit den Fans ihn in seiner Außenwirkung nahbarer machten. Schauspieler mit Rollen wie seiner kämpften häufig mit Vorurteilen. Zu zeigen, dass man ein ganz normaler Mensch war, half dagegen.

Sein Blick blieb an einem Post hängen, in dem sein Po erwähnt wurde. Chase rieb sich die Stirn, die Wärme wich langsam einer kriechenden Kälte – einem Gemisch aus herunterfahrenden Vitalfunktionen und Müdigkeit. Mehr oder weniger wahllos klickte er auf das kleine Herzsymbol, um seinen Like zu geben, und dann auf die Kommentarfunktion. Er schrieb etwas, das er für einigermaßen charmant hielt, und fragte nach irgendwas, was mit der Serie zu tun hatte. „Content erzeugen“ nannte sich das, eine der wenigen Strategien von Social Media Marketing, die er ansatzweise verstand: Wenn du willst, dass die Leute deine Serie gucken, dann bring sie dazu, sich darüber zu unterhalten.

Abgesehen von seinen beruflichen Sorgen hatte er kalte Füße. Chase griff nach der grauen Wolldecke, während er auf das Profil des Fans klickte, dessen Beitrag er gerade geliket hatte. Es war eine Frau, was auf die meisten seiner Fans zutraf. Ihre letzten Tweets drehten sich um die Serie.

Und dann las er: „Ein Fan zu sein, bedeutet, das Herz dem Unbekannten zu öffnen. Es bedeutet Treue und Loyalität dem Fremden gegenüber und den gezielten Einsatz der Fantasie, um die Fremde zu überbrücken.“

Ob es das war, was seine Fans taten: Ihm sein Herz öffnen? Wofür? Für die Idee eines erfundenen Detectives? Für einen Hauch des Salzwassers in der Luft Kaliforniens, für einen zu stolzen Mann mit einer Waffe?

Chase klickte aus einem inneren Impuls heraus auf „Folgen“ und warf das Handy beiseite.

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