Читать книгу Arunis - Alexandra Balzer/ Karin Kehrer - Страница 3

Kapitel 1

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Licht.

Hell und scharf explodierte es vor ihren Augen, drang in ihren Kopf ein, durchsuchte ihn mit gierigen Fingern, breitete sich in ihrem Körper aus, verbrannte ihn.

Schmerz.

Reißende Pein jagte durch sie, jede Faser ihres Seins ausfüllend.

Sie schrie.

Und wachte auf.

Robina fuhr hoch, starrte blinzelnd in die Dunkelheit. Es dauerte eine Weile, ehe sie begriff, dass sie sich in der Sicherheit ihrer Hütte befand.

Wieder hatte ihr eigener Bannzauber Schlimmeres verhindert. Ein leises Pochen hinter der Stirn erinnerte sie an die Schrecken ihrer Traumvision. Seit drei Monden ging das nun schon so und sie konnte sich nicht erklären, was das zu bedeuten hatte. Versuchte jemand, gewaltsam von ihr Besitz zu ergreifen? Ein mächtiger Dämon? Ein anderer Magier?

Sie lauschte auf das Jaulen und Pfeifen des Windes, das sich wie das Wehklagen verlorener Seelen anhörte. Schaudernd hüllte sie sich fester in ihre Decke aus Schafwolle. Nur zu deutlich erinnerte sie sich an ihren Albtraum. Das Brennen des gleißenden Lichtes vermeinte sie noch zu spüren. Das mochte auf Lichtmagie schließen lassen. Wer war imstande, so einen mächtigen Zauber zu wirken? Es gab in ihrer näheren Umgebung keine Magier.

Schlafen konnte sie jetzt bestimmt nicht mehr. Wie immer nach einem ihrer Visionsträume war sie aufgewühlt, ihre Sinne aufs äußerste geschärft. Sie warf einen kurzen Blick auf ihre Ziehtochter. Die schwache Glut des Feuers tauchte Ambras Gesicht in sanfte Helligkeit und verlieh ihm einen überirdischen Schimmer.

Ambra. Ein zärtliches Gefühl wallte in ihr auf. Ohne dieses Mädchen konnte sie sich das Leben nicht mehr vorstellen. Zugleich überkam sie ein Hauch von schlechtem Gewissen. Gewiss, sie hatte Ambra wie einen kostbaren Schatz gehütet, ihr alles beigebracht, was sie selbst wusste. Zugleich hatte sie das Mädchen aber auch von der Welt abgeschirmt und nun war sie viel zu unschuldig und ahnungslos für ihre beinahe zwanzig Jahre, um alleine überleben zu können.

Robina seufzte. Ambra würde Probleme bekommen.

Hast du beschlossen, mir ein wenig Gesellschaft zu leisten?

Die sanfte Stimme in ihrem Kopf ließ sie zusammenzucken. Arunis? Wie oft habe ich dir schon gesagt, du sollst mich nicht so erschrecken! Ich bin nicht mehr die Jüngste.

Verzeih. Die Stimme des Geistes klang zerknirscht, doch Robina konnte gleichzeitig die Besorgnis in ihr hören.

Du hattest einen bösen Traum.

Ja. Er hat mich ziemlich erschreckt.

Das tut mir leid, meine Freundin. Kann ich dir helfen?

Sie war nicht sicher, ob Arunis’ Mitgefühl echt war. Seine Wesenheit würde sie niemals ganz erfassen.

Ich weiß es nicht. Möchtest du mir eine Geschichte erzählen?

Sie stand auf und stocherte vorsichtig in der Glut, um das Feuer am Brennen zu halten. Es würde eine lange Nacht werden, so oder so.

Die längste Nacht des Jahres. Wie immer dachte sie mit leisem Grauen daran. Sie hatte alles getan, was zu tun war, um das Wachsen des Tages zu begrüßen. Sie hatte zwölf Zweige der Orakelblume geschnitten und in einen Krug gestellt. Die Art und Weise, wie die Knospen aufgingen, würden ihr sagen, wie sich das Wetter im kommenden Jahr entwickelte. Sie hatte, bevor der Sturm aufgezogen war, die Hütte mit Beifuß geräuchert und Ambra hatte ihr geholfen, den Schornstein mit Stechpalmenzweigen zu reinigen.

Die geernteten Misteln hingen nun von den Deckenbalken der Hütte. Außerdem hatte sie noch die Ziege versorgt und ihre Unterkunft vor dem aufkommenden Sturm gesichert.

Der Wind peitschte den Schnee an die Wand und Robina hatte das Gefühl, mitsamt ihrer Behausung in den weißen Massen langsam zu ersticken. Diese Vorstellung fand sie so beklemmend, dass sie aufstand und zur Tür ging. Durch die Ritzen der Holzbohlen spürte sie einen Luftzug, den sie tief einatmete.

Mit einem leichten Lächeln schüttelte sie den Kopf über die seltsame Anwandlung, die sie befallen hatte. Rasch schlug sie ein Schutzzeichen über die Tür. Die dunklen Nächte drückten auf ihr Gemüt, so viel war gewiss. Daran änderte auch die Gesellschaft Ambras und Arunis’ nichts.

Sie setzte sich in den Stuhl vor dem Kamin. Vielleicht half ihr eine von Arunis‘ Geschichten. Er wusste viele und noch längst hatte er ihr nicht alle erzählt, obwohl er schon unzählige Jahre bei ihr weilte. Sie starrte auf die kleine Flasche auf dem Kaminsims. Ein leichtes Flackern im Inneren verriet ihr, dass auch Arunis unruhig war. Irgendetwas lag in der Luft. Ihre immer wiederkehrenden Albtraumvisionen von diesem Licht.

Weißt du etwas darüber?

Lichtmagie. Nicht ungefährlich, weil derjenige, der sie anwendet, nicht wirklich weiß, was er damit anrichten kann. Du solltest deinen Schutzbann stärken. Wahrscheinlich sucht wieder einmal jemand nach mir. Arunis’ Stimme klang gelangweilt. Kein Wunder. Er verbrachte schon Aberhunderte von Jahren in seinem Gefängnis, dazu verdammt, auszuharren, bis jemand das Zauberwort sprach, das ihn dazu bringen sollte, einen Wunsch zu gewähren. Nur dass eben niemand mehr das Zauberwort kannte. Robina musste sich eingestehen, dass sie nur halbherzig danach geforscht hatte. Sie hätte nicht gewusst, was sie sich von Arunis wünschen hätte sollen.

Dabei wärst du eine der Wenigen, die Gutes bewirkt hätten, sagte Arunis bitter.

Ach, Arunis. Das hatten wir doch schon. Du wolltest mir eine Geschichte erzählen, oder?

Die kleine blaue Flasche vibrierte leicht.

Also gut. Ich erzähle dir die Geschichte vom Magier Gormis. Der hatte wirklich einen sehr besonderen Wunsch …

***

Ambra wischte mit dem Ärmel über ihre schweißbedeckte Stirn und stützte sich auf den Stiel der Schneeschaufel, die sie selbst aus einem dünnen Brett gefertigt hatte. Sie verbrachte schon den ganzen Nachmittag damit, die Schneemassen zu beseitigen, die der Sturm gebracht hatte. Erst vom Dach der Hütte, dann rund um das kleine Gebäude, an dessen Rückseite das Holz gelagert war und wo sich auch der Stall für die Ziege befand. Die Bewegung im Freien bereitete ihr Spaß, sie hasste nichts mehr, als untätig herumzusitzen. Was eigentlich nicht oft geschah, denn es gab immer etwas zu tun.

Sie streckte ihren schmerzenden Rücken und betrachtete die stille Winterlandschaft. Sanfte Erhebungen in einheitlichem Weiß, nur unterbrochen durch die dunkle Ader des Baches, der sich am Fuß des Hügels entlang schlängelte. Zu ihrer linken Seite der Buchenwald, die Äste der mächtigen Bäume ächzten unter der Schneelast. Ihr Blick schweifte zum Himmel, der sich in einem einheitlichen Hellgrau über ihr wölbte. Sie hob schnuppernd die Nase. Der frische, kalte Geruch sagte ihr, dass es bald noch mehr Schnee geben würde.

Eine leichte Bewegung lenkte ihre Aufmerksamkeit in Richtung des Horizonts. Sie kniff die Augen zusammen. Ein mächtiger Hirsch führte drei Weibchen über den Hügel auf den Fichtenwald zu. Die Tiere wurden vom Dunkel verschluckt. Ihre Ziehmutter hatte ihr erklärt, dass dieser Wald die Grenze des Reiches Sumar bildete.

Sumar.

Ambra stellte sich den Klang des Namens vor, wie Robina ihn aussprach. Sie öffnete den Mund, wusste aber im gleichen Moment nicht, wie sie es anstellen konnte, den Namen, den sie im Kopf hörte, laut zu sagen. Nur ein leises Keuchen entwich ihren Lippen. Es war, als hätte der Schöpfergott Mokil, der auch Arunis in seine Flasche gebannt hatte, vergessen, ihr eine Stimme zu geben. Wie grausam dieser Gott doch war!

Ein Frösteln überlief sie und mit einem Mal hielt sie die Stille nicht mehr aus. Sie nahm die Schaufel auf und lief über den schmalen Pfad, den sie von der Hütte weg geschaufelt hatte, zurück. Robina wartete gewiss schon mit einer heißen Tasse Lindenblütentee.

Ambra stampfte mit den Füßen, um den Schnee von den Stiefeln zu schütteln und öffnete mit einem Ruck die Tür. Der würzige Geruch von Baumpech empfing sie. Am Vormittag hatte sie zusammen mit Robina eine Salbe gegen Gliederreißen gekocht. Einen Teil davon konnten sie im Dorf verkaufen, sobald das Wetter eine Wanderung dorthin zuließ.

Sie brauchte einen Moment, um sich an das Dämmerlicht zu gewöhnen. Warum hatte Robina die Kerzen noch nicht entzündet?

Mit steifen Fingern nestelte sie an den Bändern ihres Umhangs und streifte ihn ab. Wieder fröstelte sie. Das Feuer war ausgegangen.

Robina?

Suchend sah sich Ambra um. Erst jetzt entdeckte sie ihre Ziehmutter, die zusammengekauert im Lehnstuhl saß. Heißer Schreck fuhr durch ihr Herz. Sofort war sie an ihrer Seite, rüttelte sachte an ihrer Schulter.

Robina fuhr hoch, blinzelte benommen. „Ambra? Ach … was …? Ich muss eingeschlafen sein“, murmelte sie.

Ambra zog fragend die Augenbrauen hoch, streichelte sanft ihre Schulter. Wie zerbrechlich sich ihre Knochen anfühlten! Noch nie war ihr das so bewusst gewesen. Robina wurde alt.

Der Gedanke machte ihr Angst.

Robina schüttelte den Kopf und schob ihre Hand weg. „Ich habe nicht besonders gut geschlafen“, meinte sie abwesend.

Ambra nickte. Ja, sie hatte schon bemerkt, dass Robina manchmal Albträume hatte und in letzter Zeit schienen sie sie immer öfter und intensiver zu quälen.

„Es geht so nicht weiter.“ Robina stemmte sich hoch und bemühte sich, ein Ächzen zu unterdrücken. „Ich war zu lange sorglos. Ich muss Vorkehrungen treffen.“

Ambra schüttelte den Kopf und hob die Hände.

„Doch, Liebes. Es wird eine Zeit kommen, wo ich nicht mehr für dich da sein kann. Ich hätte schon viel früher …“ Sie wandte sich ab. „Aber was rede ich da. Du wirst hungrig und müde sein nach der vielen Arbeit. Außerdem brauchst du etwas Warmes zum Trinken. Du bist ja völlig durchgeschwitzt. Zieh nur schnell die nassen Kleider aus und hänge sie auf die Trockenstange. Ich werde das Feuer wieder anfachen, es ist zum Glück noch nicht völlig ausgegangen. Wie nachlässig von mir …“

Ambra lauschte auf das Murmeln Robinas. Etwas bedrückte sie, ganz gewiss. Ambra kannte die Angewohnheit ihrer Ziehmutter, sorgenvolle Gedanken unter einem Wortschwall zu begraben.

Während sie sich aus den Kleidern schälte, fiel ihr Blick auf die kleine blaue Flasche auf dem Kaminsims. Täuschte sie sich oder flackerte Arunis’ Licht in ihrem Inneren lebhafter als sonst?

Obwohl Arunis immer da gewesen und ihre Kindheit begleitet hatte, war ihr der Geist ein wenig unheimlich. Im Gegensatz zu Robina konnte sie sich nicht mit ihm unterhalten und oft fühlte sie sich ausgeschlossen, wenn ihre Ziehmutter Zwiesprache mit dem unsichtbaren Wesen hielt. Es sah sonderbar aus, wenn Robina lautlos die Lippen bewegte oder einer für Ambra unhörbaren Stimme lauschte.

Einmal, nur ein einziges Mal, war ihre Neugier groß genug gewesen und sie hatte die Flasche in die Hand genommen. Das Flackern des Lichtes hatte sie fasziniert. Wie sehr erschrak sie, als sie merkte, dass das Glas ganz warm war und vibrierte! Beinahe hätte sie die Flasche fallen lassen und schnell hatte sie sie wieder auf ihren Platz gestellt.

Manchmal fragte sie sich, warum Robina Arunis eigentlich behielt, wo er ihr doch nichts nützte. Robina hatte ihr zwar erklärt, dass es fatale Folgen haben konnte, wenn Arunis in die falschen Hände gelangte und dass es besser war, wenn er hier in ihrer Hütte blieb, wo ihn niemand vermutete, auch wenn niemand das Zauberwort wusste, um die Dienste des Geistes beanspruchen zu können. Ambra lauschte auch den Geschichten, die Robina von Arunis hörte. Die meisten handelten von blutigen Schlachten und verzwickten Intrigen und das alles interessierte sie nicht besonders.

Manchmal gab es aber auch nette darunter. Sie mochte besonders die eine von der hässlichen Hexe Mehrab, die von Arunis in ein wunderschönes Mädchen verwandelt wurde und einen tapferen Prinzen zum Gemahl bekam.

Ambra schlüpfte in ihr langes Nachthemd und setzte sich ans Feuer, das wieder lustig prasselte. Der süße Duft der Lindenblüten kroch in ihre Nase, als Robina eine Handvoll davon in einen Becher gab und mit heißem Wasser auffüllte.

Gemeinsam verzehrten sie ein bescheidenes Abendmahl, das aus kaltem Haferbrei und getrockneten Früchten bestand. Wie immer schwieg Robina während des Essens, doch als Ambra aufstehen wollte, um das Geschirr wegzuräumen, hielt sie sie mit einer Handbewegung zurück.

„Setz dich zu mir, mein Kind. Ich muss dir etwas sagen.“

Ambras Herzschlag stockte für einen Moment, aber dann kuschelte sie sich in die Arme Robinas, die es sich auf ihrem Lager bequem gemacht hatte.

Robina streichelte über Ambras Haar, ihre Finger versuchten allerdings vergeblich die schwarzblau glänzende Lockenpracht zu entwirren, die ihrer Ziehtochter bis auf die Hüften fiel. „Ich habe mich vergeblich bemüht, das Geheimnis deiner Herkunft zu lösen, also habe ich alles getan, um dir eine gute Mutter zu sein“, flüsterte Robina. Das Sprechen fiel ihr sichtlich schwer. „Ich war vielleicht sogar zu gut zu dir, habe dich von allem Bösen abgeschirmt, auch weil du diesen besonderen Makel hast.“ Ein trauriges Lächeln huschte über Robinas Gesicht. „Natürlich habe ich das nie so gesehen. Doch andere tun es. Andere Menschen.“

Ambra nickte. Es gab kaum Gelegenheiten, wo sie andere Menschen traf. Sie lebten so abgeschieden, dass nur wenige Bittsteller den weiten Weg zu ihnen wagten. Manchmal besuchte sie mit Robina das nächstgelegene Dorf, das etwa einen halben Tagesmarsch entfernt war, um ihre selbst gefertigten Arzneien gegen Getreide und etwas Fleisch zu tauschen. Bei diesen seltenen Begegnungen wurde Ambra immer mit Misstrauen gemustert.

Sie glauben, die Götter haben mich verflucht und jeder, der mit mir in Berührung kommt, zieht Unglück auf sich.

Die alte Frau holte tief Luft. „Ich glaube, andere Menschen bedeuten keine so große Gefahr. Es ist die Lichtmagie.“

Was meinst du damit?, bedeutete ihr Ambra in der Zeichensprache, in der sie sich mit Robina verständigte. Die beiden hatten sie gemeinsam entwickelt.

„Ich habe dir erklärt, wie du meine Magie und die der meisten Heiler verstehen kannst. Das ist so, als ob ich die Lebenskraft der Lebewesen sehen könnte, die durch sie fließt. Ich merke auch, wenn sie unterbrochen ist und kann sie in den meisten Fällen so lenken, dass sie sich wieder zusammenfügt. Lichtmagier dagegen sind zu viel mehr imstande. Sie können diese Lebenskraft an sich ziehen, anderen Wesen ihren Willen aufzwingen und sie können sogar Kraft aus der Luft und dem Licht holen und sie nach ihrem Gutdünken gebrauchen. Es gibt nicht mehr viele, die das zuwege bringen und das ist gut so. Denn die meisten von ihnen nutzten diese Gabe zum Verderben der Menschen.“

Ambra musste den Blick abwenden. Der sorgenvolle Ausdruck auf dem Gesicht ihrer Ziehmutter machte ihr Angst.

„Es ist Lichtmagie, die mich immer öfter heimsucht“, wisperte Robina. „Starke Lichtmagie. Ich vermag ihr kaum mehr zu widerstehen. Jemand sucht etwas. Ich ahne, was es ist.“

Ambra zuckte fragend mit den Schultern. Wovon sprichst du?

„Es gibt nur eine einzige Kostbarkeit in meinem Besitz, die solcher Mühe wert ist.“ Robinas Blick glitt zu der kleinen Flasche auf dem Kamin.

Arunis? Aber ...

Robina fasste nach Ambras Hand. „Sieh mich an, mein Kind. Es ist wichtig. Du wirst auf Arunis achten, nicht wahr? Ich befürchte, du musst mich verlassen, wenn mein Schutzbann bricht. Nicht sofort, denn solange die Wege unpassierbar sind, kann niemand zu uns gelangen, selbst ein Lichtmagier nicht. Doch sobald Tiasnas Atem den Schnee schmelzen lässt, wirst du gehen müssen.“

Was? Gehen? Wie …

Ambra saß wie erstarrt.

„Hast du verstanden? Du musst es tun, denn hier bist du nicht mehr lange in Sicherheit. Derjenige, der Arunis haben will, kennt keine Barmherzigkeit, das spüre ich nur zu deutlich.“

Robina schüttelte sie sanft. Tränen standen in ihren Augen.

Ambra schluckte. Ein heißes Brennen stieg in ihr auf, sie öffnete den Mund, brachte nur ein heiseres Krächzen heraus. Sie presste die Hand auf ihr Herz. Es klopfte so wild, dass sie glaubte, es müsste ihr aus der Brust springen.

Ich will dich nicht verlassen. Das kann ich nicht. Nein! Nein! Nein! Niemals!

***

„Und, hattest du diesmal mehr Erfolg?“ Pan’Col schaffte es, seiner Stimme einen respektvollen Klang zu verleihen, obwohl er tief im Herzen nichts als Verachtung und Hass spürte. Hass auf seinen Ziehvater Kronuk, mit dem er heimatlos wie ein Bettler durch Sumar streifen musste, statt auf dem Thron zu sitzen und all die Macht und den Reichtum auszuleben, der ihm von Geburt wegen zustand.

„Geduld, mein Junge“, erwiderte Kronuk erschöpft. Ein Hustenreiz schüttelte den kleinen, rundlichen Lichtmagier. Er klammerte sich an Pan’Cols Arm, der seine ganze Selbstbeherrschung brauchte, um den Alten nicht fortzustoßen. Wie sehr er ihn verabscheute! Diesen Scharlatan, der selbst auf dem Höhepunkt seiner Macht nicht fähig gewesen war, die Herrscherfamilie zu beschützen. Pan’Cols Eltern starben, als ein blutgieriger Mob den Palast gestürmt hatte. Eine Revolution, nur weil die anhaltende Dürre und eine Heuschreckenplage die Ernte vernichtet hatte. Oh, Pan’Col wusste, was Hunger war! An Kronuks Seite hatte er mehr als genug davon durchlitten. Gerade deshalb wollte es ihm nicht in den Sinn, warum das Volk nicht auf seine Herrscher vertraut hatte. Der Hunger hatte seinen Zoll gefordert, Kinder, Alte und Schwache geraubt. So war der Lauf der Dinge. Die Revolution hatte Rakati, den Gott des Todes, nur noch mehr genährt. Pan’Col konnte ihn vor sich sehen, in Gestalt einer fetten Aaskrähe, die damals reiche Beute gemacht hatte …

Für die Freiheit!, hatten die Aufständischen gebrüllt. Pan’Col war erst drei Jahre alt gewesen, doch er erinnerte sich daran, wie seine Amme ihn in einen Weidenkorb gesetzt und unter blutigen Laken begraben hatte – eine der Dienerinnen hatte ihr Kind geboren, während die Palastwachen versuchten, gegen die Flut wütender Bauern anzukommen. Fast ohnmächtig vom Gestank des Blutes hatte Pan’Col nur verschwommen miterlebt, was in dem Zimmer geschah, als es gestürmt wurde. Die Schreie des Neugeborenen verstummten als Erstes, unmittelbar darauf das Gebrüll von dessen Mutter. Warum seine Amme, eine junge und schöne Frau, hingegen so lange geschrien, geweint und um den Tod gebettelt hatte, war ihm erst Jahre später klar geworden …

Kronuk hatte ihn gefunden und im Schutz der Dunkelheit aus dem Palast geschmuggelt. Vorbei an zahllosen verstümmelten Leichen und betrunkenen Rebellen. Niemand hatte sie aufgehalten, Tarnzauber gehörten zu den Fähigkeiten, die Kronuk besonders gut beherrschte.

Zunächst waren sie einfach nur geflohen. Schon damals war der Magier ein alter Mann gewesen und er hatte wenig getan, um dem Jungen in seiner Obhut durch Liebe oder Rücksicht über den erlebten Schrecken hinwegzuhelfen. Kronuk konnte Kinder nicht ausstehen, er hatte Pan’Col nicht aus Herzensgüte gerettet, sondern um durch ihn eines Tages wieder im Zentrum der Macht zu stehen. Sumar war in den vergangenen sechzehn Jahren nicht zur Ruhe gekommen, ein Tyrann folgte dem nächsten. Pan’Col besaß das Anrecht auf den Thron, ihm würde das Volk gehorchen, er würde das Land befrieden! In diesem Sinn hatte Kronuk ihn aufgezogen. Immer wieder hatte er Söldner aufgetrieben, sie mittels Magie seinem Willen unterworfen und so gezwungen, Pan’Col zu unterrichten. Er hatte gelernt zu reiten, zu fechten, beherrschte die Armbrust genauso wie den Säbel. Kronuk selbst hatte ihn Lesen, Schreiben, Politik, Kriegstaktik und allerlei anderes gelehrt, was ein künftiger Herrscher wissen musste. Ein Jammer, dass es viel Konzentration erforderte, auch nur einen einzelnen Menschen geistig zu unterwerfen. Kronuk musste ständig auf der Hut sein und jene Männer töten, die es im Laufe der Zeit schafften, sich gegen seine Magie aufzulehnen. Zudem erforderte es körperliche Berührung, damit seine Kräfte am besten wirken konnten. Was er alles auf sich nahm, um ihn, solch ein verzogenes, undankbares Kind zum König auszubilden! Das waren die Worte, die Pan’Col ständig zu hören bekam.

Die größte Schwierigkeit lag darin, dass Pan’Col keine Armee besaß. Ohne Geld würde er auch niemals eine besitzen, und das Volk war zu ausgeblutet, zu müde vom ständigen Bürgerkrieg, um allein von Reden und Versprechungen hinter ihn zu treten. Nein, es brauchte ein Wunder, um den Thron zu erobern, und genau daran arbeitete Kronuk schon seit Jahren.

Mit mäßigem Erfolg.

„Du zweifelst an mir“, sagte der Lichtmagier leise. Es war eine Feststellung, keine Frage. Die blauen Augen des Alten zeigten keine Emotion, wie gewöhnlich.

Pan’Col sparte sich jede Erwiderung. Sie hockten in einer zugigen Hütte, in der einst arme Bauern gehaust haben mochten. Wind pfiff durch jede Ritze, Winterkälte und Nässe ließen sich vom löchrigen Dach und vermodernden Holzbalken genauso wenig aufhalten wie von dem kümmerlichen Feuer im Kamin. Kaum das, was eines Prinzen würdig genannt werden konnte!

„Hab Geduld, mein Junge.“ Kronuk wiederholte diese Worte seit Ewigkeiten wie ein Gebet.

„Ich bin der Flasche sehr nahe. Ich kann Arunis spüren. Das Weib, das ihn beschützt, ist alt und schwach.“

„Ein Weib sagst du?“ Interessiert blickte Pan’Col von den Flammen auf, an denen er seine Hände zu wärmen versuchte. Bislang hatte Kronuk lediglich davon gesprochen, dass es ein Magier sein musste, der die Flasche an sich gerissen hatte, und damit die Kontrolle über den Geist besaß, der Wünsche erfüllte. Pan’Cols Denken kreiste unentwegt um diese Wesenheit, die ihm zurückgeben würde, was man ihm gestohlen hatte.

„Ein Weib, ja. Ich habe einen Blick auf sie erhaschen können, als ihr Schutzbann unter meinen Attacken für einen Moment nachgab.“

Ein verträumtes Lächeln erhellte das rundliche Gesicht des Magiers, der so freundlich aussah, der sich Lichtmagier schimpfte, obwohl in seiner Seele nichts als Dunkelheit lauerte.

„Hab Geduld, mein Junge. Noch bevor Tiasna, Göttin des Frühlings, aus ihrem Schlaf erwacht und zurückkehrt in unsere Lande, wirst du in Samt und Seide gekleidet sein und auf goldenen Laken nächtigen.“

Pan’Col erwiderte das Lächeln.

Oh ja, das werde ich. Du hingegen …

***

Traurig beobachtete Arunis die beiden Frauen, die sich still weinend im Arm lagen. Robina beherrschte sich zu stark, um ihren Kummer und ihre Angst laut herauszuschluchzen, Ambra hingegen war es nicht gegeben, irgendeinem Gefühl ihre Stimme zu verleihen.

Schon so oft hatte Arunis einen Menschen von der Blüte der Jugend bis zum Tod begleitet. Die Jahre huschten dahin, Winter um Winter folgten aufeinander wie weiße Wirbel im rhythmischen Herzschlag der Zeit. Nie hatte es ihm etwas ausgemacht, die Menschen bedeuteten ihm nichts. Das war der Grund, warum sein göttlicher Vater Mokil ihn vor tausenden von Jahren in die Flasche verbannt hatte … Niemals vergaß er die Worte, die zu seiner Verdammung führten.

Vater, deine Schöpfung ist dir wahrlich gut gelungen.“ Arunis liebte den Anblick der Wälder und Flüsse, der Berge und Wüsten, von all dem wimmelnden Leben, das dort gedeihte, kämpfte, lebte, starb.

Aber die Menschen, du hast ihnen zu viel von deinem Segen gewährt. Sie sind klug genug, um deine Schöpfung zu begreifen, zu beherrschen und sie sogar zu verändern, doch sie lieben deine Gabe nicht.“ Missbilligend verfolgte Arunis das sinnlose Gemetzel, das einige tausend Menschen betrieben. Mit Metallwaffen schlugen sie aufeinander ein, mordeten sich grausam gegenseitig, ließen verletzte und verstümmelte Männer achtlos liegen, ohne Mitleid für ihre Schreie.

Du meinst, nur weil sie die Natur von Leben, Leid und Tod verstehen, müssten sie besser sein als etwa jener Löwe dort, der seine Beute bereits frisst, obwohl ihr Herz noch schlägt?“, fragte Mokil nachdenklich. „Oder diese Spinne da, die ihr Männchen tötet, das sie gerade zuvor begattet hat?“

Ja!“ Arunis beherrschte seinen Zorn nur schwer. „Statt füreinander da zu sein, ihr Wissen und ihr Können zu nutzen, den Schwachen und Kranken beizustehen und die Armen zu nähren, töten sie einander für einen bedeutungslosen Flecken Land, für ein paar goldene Metallscheibchen, die sie für wertvoll genug halten, um Tag und Nacht danach zu gieren, oder sogar für eine bloße Beleidigung! Die Menschen sind verdorben, du solltest sie beseitigen, bevor sie deine restliche Schöpfung zerstören.“

Arunis, siehst du nicht, dass diese Menschen genauso sind wie Löwen und Spinnen und alles andere Getier? Sie brauchen Nahrung, Schutz vor Kälte, sorgen sich um ihre Nachkommen. Dass sie verstehen, was Leid bedeutet, ist eben das, was ihre Klugheit ausmacht. Nur wer Leid erfahren hat, kann den Willen zeigen, das Leid anderer zu lindern.“

Das ist Unsinn!“, schrie Arunis und zeigte auf einen der Krieger, der schon viele Gegner erschlagen hatte. „Dieser dort, er wurde von seinem trunksüchtigen Vater fast zu Tode geprügelt. Statt anderen zu helfen ist er stolz darauf, wie viele Feinde er bereits getötet hat! Statt Liebe zu suchen, vergewaltigt er Frauen und bringt selbst Kinder um!“

Mokil lächelte mild, was Arunis’ Wut nur noch stärker schürte.

Mein Sohn, dieser Mann kann keine Liebe geben, denn er hat selbst nie welche empfangen dürfen. Genauso wie ein Baum nicht wachsen kann, dem kein Licht gewährt wird.“

Solche Bäume töten aber keine anderen Pflanzen! Ich sage, die Menschen sind ein Fehler und deiner unwürdig!“

Genug!“ Mit einem Mal wurde sein Vater sehr zornig.

Die Menschen sind mein wichtigstes Werk, und du wirst lernen, sie zu achten!“

Zur Strafe für seinen Starrsinn wurde Arunis in eine Flasche verbannt. Nur mit einem Zauberspruch konnte er daraus für kurze Zeit erlöst werden, gerade lange genug, um demjenigen einen Wunsch erfüllen zu müssen. Jeden Wunsch, egal welchen, solange es nicht ewiges Leben oder gottgleiche Macht war, oder aber die Erfüllung von weiteren Wünschen.

Und so war er zu einem Ding geworden, ein Objekt der menschlichen Gier. Mord und Totschlag folgte, sobald ein Mensch ihn in Besitz nahm. Mit jenem, dem seine Flasche gehörte, konnte er sprechen. Einen Grund hatte er dafür nie gefunden. In der Regel blieb er kaum länger als ein paar Minuten ein Sklave des neuen Herrn. So lange wie es eben dauerte, die eitlen, selbstsüchtigen und zerstörerischen Wünsche anzuhören und sie zu erfüllen. Seine Verachtung für Menschen schlug irgendwann in Gleichgültigkeit um. Sie waren jämmerlich, allesamt, doch sie lebten nur für kurze Zeit. Arunis hatte gelernt, sie und ihr sinnloses Streben nach Glück, Macht und Reichtum zu ignorieren. Sein gefangener Geist stumpfte ab, während er auf den nächsten Meister wartete. Er war nicht unglücklich gewesen, als seine Flasche und das Wissen um den Zauberspruch verloren ging…

Bis Robina ihn gefunden hatte. Damals war sie ein junges Mädchen gewesen, gerade erst dabei, die Magie zu begreifen, mit der sie gesegnet war. Den Zauberspruch kannte sie nicht und Arunis hatte sich auf einige Jahrzehnte Mühsal eingestellt, in denen er gezwungen war, Robinas Gedanken zu lauschen.

Wie überrascht war er gewesen, als er herausfand, dass sie eine reine Seele war, wie es wenige gab! Alles Leid, was ihr widerfuhr – und das war genug – bestärkte sie nur darin, das Leben und jedes einzelne Wesen von Mokils Schöpfung zu lieben. Arunis lernte, ihre Gespräche zu schätzen. Robina besaß einen wissbegierigen Geist, mit ihr konnte er streiten und sogar lachen und sich daran erfreuen, wenn sie glücklich war. Ihre bedingungslose Liebe, ihre Hingabe an das Leben schaffte es, Arunis nachdenklich zu stimmen. Vielleicht besaßen sie tatsächlich eine Bedeutung, diese Menschen?

Die Magie machte Robina einsam, sie fand keinen Mann, der ihr Herz erobern wollte. Darunter hatte sie gelitten, sie hatte sich stets Kinder gewünscht. Wie groß war ihr Glück, als sie eines Tages Ambra fand! Das Mädchen war erst wenige Wochen alt gewesen. Grausam hatten ihre Eltern es ausgesetzt, als diese herausgefunden hatten, warum der Säugling niemals laut schrie: Ambra war ohne Stimme geboren. Das galt als böses Omen, als Zeichen göttlichen Zornes.

Arunis seufzte innerlich – warum verdrehten Menschen bloß immer alles? Wieso sahen sie nicht, dass Ambra von allen Göttern besonders geliebt wurde und man ihr deshalb dieses Zeichen mitgegeben hatte?

Er wusste um das Geheimnis von Ambras Herkunft. Genau darum hatte er es Robina niemals verraten, es hätte ihr das Herz gebrochen, das Kind hergeben zu müssen … Und es hätte das Schicksal der Welt verändert.

Robina würde sehr bald sterben. Unfassbar, wie schmerzlich dieser Gedanke für Arunis war! Ambra würde seine neue Meisterin werden. Es linderte die Trauer nicht und trotzdem schenkte es Arunis etwas, was er seit Jahrtausenden hatte missen müssen: Neugier auf das, was der folgende Tag bringen mochte.

Arunis

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