Читать книгу Die Midgard-Saga - Hel - Alexandra Bauer - Страница 5
2. Kapitel
ОглавлениеNach dem Aufstehen verbrachte Wal-Freya viel Zeit damit, in einem Nebenraum der Halle ihre Sachen zusammenzupacken. Akribisch kontrollierte sie das auf einem stummen Diener hängende Kleid und füllte diverse Taschen mit Pulvern und Beutelchen. Tom und Juli waren von ihr in Begleitung von Brunhild nach Sessrumnir geschickt worden, wo sie neue Kleider bekommen sollten. Juli hatte nach der langen Abschiedsnacht in Gladsheim lauthals gegen das frühe Aufstehen protestiert, aber Wal-Freya war unerbittlich geblieben. So saß auch Thea völlig übermüdet im Sessel und beobachtete das Tun der Wanengöttin. Ebenso wie Juli, war Thea überrascht und verdutzt zugleich gewesen, als Wal-Freya sie zum Bleiben aufgefordert hatte. Sicher wollte die Wanin, dass Thea beim Ausrüsten der Kleider mit den Zaubermitteln zusah und lernte. Staunend stellte Thea fest, wie viele Taschen sich in dem Kleid der Göttin versteckten. Selbst in den oberen Teil eines Ärmels füllte Wal-Freya ein Täschchen mit Pulver. Als sie damit fertig war, zog sie eine enge Hose an, schlüpfte in das Kleid und schloss mit wenigen Handgriffen den goldenen Panzer um ihre Brust, gefolgt von Arm- und Beinschienen. Nachdem sie ihren Gürtel mit Schwert und Messer umgeschnallt hatte, wandte sie sich an Thea, die voller Bewunderung zusah, wie Wal-Freya mit jedem Rüstungsteil zu der imposanten Gestalt heranwuchs, die sie so sehr bewunderte.
„Jetzt kümmern wir uns um deine Ausrüstung“, verkündete Wal-Freya feierlich.
„Mein Wams hat, soweit ich weiß, keine Taschen“, erwiderte Thea lächelnd.
Wal-Freya verschränkte die Arme vor der Brust. „Dein alter Flickenwams! Baba Jaga konnte die Spuren der Wolfsattacke zwar gut beseitigen, aber den musst du nun wirklich nicht mehr tragen. Außerdem brauchst du einen neuen Umhang. Niflheim ist kalt.“
Thea zwinkerte. „Ich weiß.“
„Natürlich tust du das. Dein Kettenhemd hast du ebenfalls beschädigt, deinen Helm verloren …“ Sie runzelte die Stirn. „Was hast du in Jötunheim eigentlich nicht kaputt gemacht?“
Thea lachte. „Mein Schwert!“
„In Hel befürchte ich das Schlimmste für Kyndill“, erwiderte Wal-Freya trocken.
Thea lachte. Wal-Freya hatte versprochen, ihr eine gute Freundin zu sein. Obwohl sich eine Freundin wohl weniger oft wie eine Mutter aufspielte, stellte Thea immer wieder mit Freude fest, dass Wal-Freya ihr Versprechen problemlos einlöste. Thea fühlte sich wohl in der Nähe der Walküre, auch wenn sie ihre Familie jeden Tag vermisste. Die bevorstehende Reise entlockte ihr jedoch das erste Mal seit langer Zeit ein freudiges Gefühl. Sie war bereit, ihr Schicksal anzunehmen. Je schneller sie ihre Mission zum Ende brachte, desto schneller würde sie Mats und ihre Eltern wiedersehen. Die Gewissheit, dass sie mit ihren Taten nicht nur die Götter rettete, sondern auch ihrer Familie ein sorgenfreies Leben fernab von Ragnarök sicherte, ließ sie der Aufgabe mit Zuversicht entgegenblicken. Schmunzelnd winkte sie ab. „Wenn es selbst Mjölnir nicht schafft, Kyndill zu zerstören, wird es mir erst recht nicht gelingen.“
„Allerdings, sonst hättest du es in Jötunheim sicher kaputt bekommen.“ Wal-Freya lachte beherzt und nahm Thea in den Arm. „Jetzt komm! Ich kann es kaum erwarten, dir deine Sachen zu zeigen. Ich bin so gespannt, was du dazu sagst.“
Sie ergriff Theas Hand, führte sie hinaus in die Halle und von dort in einen weiteren Nebenraum. Thea betrat die große Kammer zum ersten Mal und wie alle Zimmer war auch dieses mit den goldenen Steinen errichtet worden, aus denen ganz Asgard bestand. Wal-Freya hatte es jedoch geschafft, dem Raum eine besondere Note zu geben und ihn zu einem Rückzugsort zu machen. Eine riesige Truhe befand sich auf der rechten Seite. Weit hinten, in der linken Ecke, stand ein großes Himmelbett mit hölzernen Streben, die einen dunkelblauen Stoff über seidenen Kissen und Decken hielten. Zwischen den beiden Fenstern an der Frontseite wuchs von irgendwoher eine Korkenzieherweide und spannte sich über die gesamte Decke. Fasziniert folgte Thea den Ausläufern mit den Augen, da berührte Wal-Freya sie an der Schulter und richtete ihre Aufmerksamkeit auf einen Stummen Diener, der neben einem Sessel aufragte. Thea stand augenblicklich der Mund offen. Unter einem schwarzen Umhang, dessen Ränder mit goldenen Knotenmustern abgesetzt waren, leuchtete eine rote Tunika, auf deren Brust mit goldenem Faden das Symbol einer Frau gestickt war. Thea erkannte es wieder. Es zierte auch die Schnalle ihres Schwerttornisters – eine Frau in einem langen Gewand, die mit ausgestreckten Armen einen Becher in den Händen hielt.
„Alles für dich!“, verkündete Wal-Freya.
„Das ist doch viel zu kostbar“, wisperte Thea überwältigt.
„Du wohnst in Asgard bei der Liebesgöttin und du reitest bald auf einem Walkürenpferd, da musst du einfach kostbar aussehen“, erwiderte Wal-Freya mit einem Lächeln. „Ich hätte eine blaue Tunika bevorzugt, aber Sigrún meinte, sie habe sich an die rote gewöhnt. Leider musste ich ihr Recht geben, obwohl sich deine roten Haare auf Blau sicher noch schöner abgesetzt hätten.“
Thea tastete die Stickarbeit auf der Brust der Tunika ab. „Hat das eine Bedeutung?“
„Natürlich. Es ist das Symbol meiner Walküren.“
„Aber … ich bin keine von deinen Walküren.“
Ein Lächeln huschte über Wal-Freyas Lippen. „Das ist richtig, nur ist Sigrún schon lange davon überzeugt, dass du einen Platz in ihren Reihen bekommen solltest.“
Thea konnte nicht anders als erstaunt die Augenbrauen zu heben. Ungeachtet dessen legte Wal-Freya den Umhang über den Arm und zog als nächstes die Tunika vom Diener. Theas Blick fiel auf ein kurzärmliges, goldenes Kettenhemd. Sie mochte kaum glauben, was sie da sah. Wieder berührte sie das Kleidungsstück mit den Fingerspitzen, fuhr die einzelnen Kettenglieder nach und bewunderte die Art und Weise, wie das Rüstungsteil gefertigt worden war.
„Aber ist Gold nicht ein bisschen schwer?“, sagte Thea verhalten.
Wal-Freya warf Umhang und Tunika auf den Sessel. „Dummerchen! Das ist kein Gold.“ Sie holte nun auch das Kettenhemd vom Diener und reichte es Thea. Erneut konnte sie nur staunen, denn das Rüstungsteil wog nicht mehr als ein gewöhnlicher Mantel.
„Aber, wenn es kein Gold ist …“
„Muss es aus einem Metall sein, das es in Midgard nicht gibt“, erwiderte die Walküre mit einem Zwinkern. „Durch dieses Kettenhemd kommt sicher keine Wolfsklaue mehr durch. Los! Zieh es an! Ich kann es kaum erwarten dich damit zu sehen!“
Ehe Wal-Freya in Versuchung kommen konnte ihr zu helfen, löste Thea den Gürtel, legte Kyndill auf den Sessel und streifte die Kleider ab. Die Wanin reichte ihr eine schwarze Hose und schob ein Paar Stiefel hinterher. Thea zog die Hose an, schnürte sie zu und schlüpfte in die Schuhe. Das Fell, mit denen diese gefüttert waren, schmiegte sich angenehm weich um ihre Füße. Schon stülpte ihr Wal-Freya eine langärmlige Steppjacke über den Kopf und ließ das Kettenhemd folgen.
„Wundervoll“, kommentierte Thea, die Leichtigkeit der Rüstung bewundernd. Sie fühlte die roten Borten am Ende der Ärmel und des Kragens. Auch diese zierten kunstvolle Knotenmuster.
„Und jetzt die Tunika“, verkündete Wal-Freya feierlich.
Thea hob die Arme und schlüpfte in das Kleidungsstück. Als sie an sich herabsah, fühlte sie ihr Herz schneller schlagen vor Stolz. Erneut fuhr sie mit den Fingerspitzen über das Walkürensymbol. Sie war Teil von etwas Großem geworden. Nie zuvor in ihrem Leben hatte sie sich besser gefühlt – in keinem ihrer Leben. Aber auch für Wal-Freya schien dies ein erhebender Moment zu sein. Thea hatte in den Augen der Wanin selten so viel Freude gesehen.
Wal-Freya deutete auf Kyndill. „Schnall es um!“, forderte sie Thea auf und nahm etwas Abstand, um sie zu betrachten. Ihr fröhlicher Gesichtsausdruck wurde abschätzend. „Sigrún ist ebenso wie du kein Freund von Kleidern. Aber ich finde, auch eine Kriegerin darf ein wenig verführerisch aussehen.“ Sie wandte sich um, hob den Deckel der Truhe an und warf noch einmal einen Blick hinter sich, während sie in der Kiste wühlte. Schließlich zog sie einen schwarzen Stoff heraus, breitete ihn vor sich aus und lächelte zufrieden.
„Oh bitte, Wal-Freya! Keinen Rock! Das behindert doch nur“, stöhnte Thea.
„Ich trage ein Kleid. Hast du schon einmal gesehen, dass mich das in irgendeiner Weise behindert hätte?“
„Nein, aber du bist eine Göttin. Sicher könntest du noch komplett eingewickelt kämpfen.“
Wal-Freya lachte lauthals. „Ja, vielleicht!“
„Wen sollte ich außerdem damit beeindrucken?“
„Mich!“ Wal-Freya trat an Thea heran und forderte sie auf, Steppjacke und Kettenhemd anzuheben. Kaum hatte sie Folge geleistet, band Wal-Freya den Stoff um Theas Hüfte. Erneut nahm die Wanin Abstand und nickte zufrieden. „Außerordentlich!“
Thea fuhr mit den Händen seitlich über den Rock. Tatsächlich ließ er an der Schnürung das komplette rechte Bein frei und zur linken Seite war er so tief geschlitzt, dass sie keinerlei Bewegungseinschränkung wahrnahm. Auch dieser Stoff war an seinen Rändern mit goldenen Knotenmustern verziert.
„Ich werde das Gefühl nicht los, dass das kein Kleidungsstück von dir ist“, brummte Thea.
Wal-Freya lachte. „Bin ich so leicht zu durchschauen?“
„Irgendwie schon.“
„Du wirst noch froh sein, ihn zu haben. Er hält dich zusätzlich warm. Links ist eine Tasche eingearbeitet. Sie enthält Mondsand, um deine Zauber zu verstärken. Das ist natürlich nur für Notfälle.“
„Natürlich.“
Wal-Freya öffnete einen Beutel, der neben dem Diener stand. „Nun fehlt nur noch ein bisschen Rüstzeug“, erklärte sie und reichte Thea Arm- und Beinschienen, die ebenso golden schimmerten wie das Kettenhemd. Silberne Muster waren auf ihnen abgesetzt. Thea wagte kaum zu atmen, als sie das fremdartige Metall in den Händen drehte. „Aber Wal-Freya. Das ist doch alles viel zu kostbar für mich …“
„So ein Unsinn! Zieh sie an! Diesmal werden wir keine Baba Jaga bei uns haben, wenn du wieder Unsinn anstellst.“ Sie lächelte, doch Thea konnte sehen, dass es ein abgerungenes Lächeln war.
„Glaubst du, dass es sehr gefährlich wird?“
Wal-Freya holte tief Luft. „Ich weiß es nicht. Bisher war nichts einfach und ich wage mir gar nicht vorzustellen, was passiert, wenn Hel uns dabei erwischt, wie wir Balder aus ihrem Reich schmuggeln.“
Thea seufzte bekümmert. „Was meinst du, könnte sie dann machen?“
„Wer weiß das schon, ich kenne sie nicht. In diesem Fall werden du und Kyndill sehr wichtig für uns sein. Es ist also nur recht und billig, dir ein paar kostbare Geschenke zu machen.“ Wieder lächelte sie. Dann holte sie einen, in einer ledernen Tasche steckenden Dolch aus dem Beutel. „Es kann nicht schaden, wenn du eine Klinge bei dir trägst, die nicht brennt“, sagte sie mit einem Zwinkern und befestigte den Dolch am Gürtel auf Theas Rücken.
„Denkst du, dass wir das Richtige tun?“, fragte Thea, während sie die Beinschienen über den Stiefeln anbrachte.
„Keine Ahnung. Manchmal glaube ich ja, manchmal glaube ich nein. Aber es ist mühsam, darüber nachzudenken. Wir haben uns im Thing dafür entschieden, also werde ich alles daran setzen, dass wir Erfolg haben.“
„Vielleicht hätte Juli auch einfach nur die Klappe halten sollen“, raunte Thea und schloss bereits die letzte Schnalle der Armschienen.
Wal-Freya lächelte. „Vielleicht wäre auch ein anderer auf die Idee gekommen, Balder zu befreien.“
„Fertig“, verkündete Thea.
„Fast!“ Abermals griff Wal-Freya in den Beutel und zog einen Brillenhelm hervor. „Der wird aber nicht wieder verloren!“, sagte sie, während sie ihn Thea entgegen warf.
Thea fing den Helm auf. Wie auch die Beinschienen war er aus dem fremden, goldenen Material gefertigt und wies silberne Knotenverzierungen auf. Thea wog den Helm in den Händen und betrachtete die filigrane Arbeit. „Haben das Zwerge gemacht?“
„Lichtalben“, erwiderte Wal-Freya ungerührt. Sie lächelte und ging zurück in die Halle. „Vergiss den Umhang nicht!“
Thea nahm das Kleidungsstück und warf es sich über die Schulter. Es war aus dickem Stoff und hatte sogar eine Kapuze. Sie schloss es, rückte die Kapuze zurecht und eilte Wal-Freya nach, die unterwegs ihren eigenen blauen Umhang mit dem Fellbesatz schnappte und durch die Tür auf der gegenüberliegenden Seite der Halle trat. Hier befand sich die große Terrasse, die Folkwang und Sessrumnir miteinander verband.
Sigrún stand mit weiteren Walküren zusammen. Thea erkannte auch Hermodr, Tom und Juli, die sich alle nach Wal-Freya umdrehten, als sie ihre Schritte über den Platz hallen hörten. Djarfur, der mit den anderen Pferden neben der Gruppe wartete, fixierte Thea mit seinem Blick und nickte mehrmals. Thea hatte keine Zeit darüber nachzudenken, was das zu bedeuten hatte, denn schon stürzte Juli auf sie zu. Ebenso wie Tom war auch sie völlig neu eingekleidet, nur den Brillenhelm, den sie in der rechten Hand hielt, erkannte Thea wieder. Wie Thea waren ihre Freunde mit neuen Bein- und Armschienen ausgestattet, die kunstvoll verziert, aber offenbar aus gewöhnlichem Eisen gefertigt waren. Juli trug eine grüne Tunika und braune Hosen, Tom eine blaue Tunika und schwarze Hosen. Zu ihrer eigenen Verwunderung machte ihr Herz einen kleinen Sprung, als Tom auf sie zusteuerte. Die dunklen Kleider hoben seinen zarten Bart hervor, der sich um die Mundpartie dichter abzeichnete als im Rest des Gesichts. Die alte Baba Jaga hatte auch in Asgard des Öfteren gescherzt, dass es Mittelchen gäbe, um Toms Barthaare sprießen zu lassen. Im Vergleich zu Hermodr, dessen Bart so wild und lang um sein Gesicht quoll, dass er in der Lage war, ihn von der Oberlippe aus zu Zöpfen bis hin zur Brust zu flechten, wirkte Toms zarter Flaum tatsächlich welpenhaft. Aber für Thea hätte Tom gar nicht anders aussehen dürfen. Auch Juli löste sich sofort aus dem Kreis, nachdem sie ihre Freundin erblickte. Ein dicker Umhang mit Fellbesatz wehte um ihre Schultern, Tom trug den gleichen. Beide Freunde sahen stattlich aus, dennoch war weder Julis noch Toms Tunika mit dem Walkürensymbol verziert.
Auch Juli bemerkte das. „Wie immer eine Extrawurst“, kommentierte sie lachend.
Thea legte unwillkürlich die Hände über das Zeichen und senkte betreten den Blick.
Juli gab ihr einen Knuff. „Das war ein Witz, Thea! Du bist die Hüterin des Zauberschwerts, schon vergessen? Es ist völlig in Ordnung, dass du eine Extrawurst bekommst. Es sieht toll aus!“
Thea fiel Juli um den Hals und drückte sie fest an sich. Sie war unendlich dankbar, solch eine Freundin an ihrer Seite zu haben.
„Das finde ich auch! Und der Helm erst!“, stimmte Tom zu.
„Ich weiß nicht, womit ich euch verdient habe“, erwiderte Thea mit dünner Stimme, da ihr vor Rührung die Tränen in die Augen stiegen.
„Jetzt rede mal nicht so einen Unsinn!“ Juli löste sich aus der Umarmung. „Weißt du, es ist verdammt cool, eine so besondere Freundin zu haben. Wer hat das schon?“
Thea presste die Lippen zusammen. „Ich bin nichts Besonderes. Ich habe nur vor vielen hundert Jahren den Fehler gemacht, mich auf ein Geschäft mit Loki einzulassen.“
„Ach, jetzt hör schon auf! Du zauberst, führst ein magisches Schwert, das selbst Odin nicht berühren kann und wer weiß, zu was du sonst noch alles in der Lage bist. Wenn du mich fragst, ist da noch viel mehr in dir. Wahrscheinlich hat Loki dich genau aus diesem Grund ausgewählt. Er hätte damals jeden anderen Schmied in Midgard aufsuchen können, aber er kam zu dir! Hast du darüber schon einmal nachgedacht? Sicher hätte niemand anderes dieses Schwert schmieden können.“
Wieder erstickte Thea ihre Freundin in einer Umarmung. Für einen Moment erwiderte Juli diese, dann löste sie sich von Thea und klatschte mit den Füßen tänzelnd in die Hände. „Jetzt los! Ich kann es kaum erwarten, dich vor Angst schreien zu hören, wenn Djarfur losgaloppiert.“
„Oje, da war ja noch was“, erwiderte Thea trocken.
Als sich Thea im Kreis der Versammelten einreihte, spürte sie die Blicke aller Walküren auf sich ruhen. Sigrún lächelte Thea vielsagend zu. Plötzlich erklang ihre Stimme in Theas Geist:
„Du siehst aus wie eine von uns. Ich bin so stolz auf dich!“
Beinahe hätte Thea vergessen, dass sie und Wal-Freya nicht die Einzigen waren, die die Kunst der Gedankensprache beherrschten. Sie lächelte verlegen.
„Das habe ich wohl dir zu verdanken.“
„Ganz richtig, aber die anderen waren auch dafür. Herja hat sich leidenschaftlich für dich eingesetzt, als Thrud leise Bedenken äußerte.“
„Thrud? Warum?“
„Weil du nun mal ein Mensch bist, eine Tochter Midgards. Am Ende war sie auch dafür, dass du Trägerin unseres Zeichens wirst.“
„Du hast mich schon einmal damit ausgestattet. Nach meinem Abenteuer in Niflheim, als du mir den Tornister gegeben hast, in dem ich Kyndill verstecken kann.“
Sigrún lächelte. „Wirklich? Das ist mir gar nicht aufgefallen.“
„Natürlich nicht“, scherzte Thea.
Ein Stoß in ihren Rücken ließ Thea herumfahren. Djarfur hatte sich genähert. Als sich ihre Blicke trafen, wieherte der Hengst und warf den Kopf in den Nacken. Abermals glaubte Thea, das Tier kichern zu hören.
„Er macht mir ein wenig Angst“, sagte sie.
„Nicht doch! Er kann es nur nicht abwarten“, erwiderte Thrud.
Herja stellte sich neben ihn und tätschelte seine Flanke. „Er ist aufgeregt, wer kann es ihm verdenken?“
„Man könnte meinen, es sei sein erster Ritt“, brummte Thea verunsichert.
„Ist es auch“, erklärte Herja und alle lachten, als Thea erschrocken die Augen aufriss.
„Sein erster Ritt in Begleitung“, beruhigte Thrud sofort.
Wal-Freya löste sich aus der Gruppe und tätschelte Djarfurs Hals. „Er hat völlig Recht. Wir sollten endlich aufbrechen!“
Juli setzte ihren Helm auf, schob die Brillenbügel durch die Maske und setzte das Gestell auf die von Thor gebogenen Mulden. „Dann mal rauf auf die Gäule. Mit dir erlebt man immer wieder neue Sachen, Thea!“
Djarfur schüttelte den Kopf und wieherte. Diesmal klang es wütend.
„Ich würde sie nicht Gäule nennen“, erwiderte Thea beunruhigt, erntete aber nur einen Knuff von ihrer Freundin, die sie stehen ließ und sich zu ihrem Pferd gesellte. Thrud half ihr in den Sattel und gab Juli letzte Anweisungen. Skögull winkte Tom zu sich und überreichte ihm die Zügel, nachdem er aufsaß.
Erneut stieß Djarfur Thea an, wieherte und nickte mit dem Kopf. Thea wurde das Verhalten des Tieres zunehmend unheimlich.
„Gibt es irgendwas, dass ihr mir über Djarfur verschwiegen habt?“, fragte sie misstrauisch.
Sigrún lachte. „Mitnichten! Aber ich bin schon sehr gespannt, was du uns über ihn erzählen kannst, wenn du wieder zurück bist.“
„Falls er mich nicht vorher in der Luft abgeworfen hat“, brummte Thea misstrauisch und zum wiederholten Male wieherte Djarfur scheinbar erheitert und warf den Kopf in den Nacken.
Wal-Freya steckte den Fuß in den Steigbügel und schwang sich in den Sattel. Hoch zu Ross wirkte die oberste der Walküren noch unbändiger und imposanter. Hell und entschlossen leuchteten ihre blauen Augen hinter der Brillenmaske des Helmes, als sie ein letztes Mal in die Runde blickte. Hermodr lenkte sein Pferd neben sie.
„Dann los!“, sprach sie und ohne sich noch einmal umzusehen nahm sie die Zügel in die Hand. Vala setzte sich in Bewegung, ohne dass ein hörbarer Befehl erfolgt war. Nur Augenblicke später erhob sich das Tier in den Himmel. Hermodr schnalzte mit der Zunge und trieb sein Pferd mit einem lauten „Hopp!“ hinterher.
Thea spürte einen Ruck durch ihren Körper fahren, als sich Djarfur den beiden anschloss. Als das Tier vom Boden abhob, schlang sie die Arme um seinen Hals und schloss die Augen.
„Ich hasse es, ich hasse es, ich hasse es“, flüsterte sie, während die Jubelrufe ihrer Freunde in ihr Ohr drangen. Thea beneidete sie. Wie immer empfanden sie Spaß bei solchen Dingen.
„Trägerin des Walkürensymbols, du gehst zur Totengöttin. Wo ist dein Mut?“
Überrascht öffnete Thea die Augen. Es war nicht Wal-Freyas Stimme, die in ihren Geist drang. Es war eine männliche, eine unbekannte Stimme. Wo kam sie her?
„Oh mein Gott, lass mich bloß nicht fallen, hörst du?“, schnappte Thea, als sie entdeckte, dass Asgard zu einem winzigen Punkt unter ihr zusammenschrumpfte und sie bereits über das offene Meer ritten.
Djarfur wieherte amüsiert. Mit der plötzlichen Bewegung packte Thea seinen Hals noch fester.
„Warum reitest du nicht entspannt?“, drang die fremde Stimme erneut in ihren Geist. „Lass mir Luft! Sonst fallen wir beide.“
Thea richtete sich staunend auf. Es war doch nicht möglich, dass Djarfur mit ihr sprach! Neben ihr warf Juli die Arme in die Luft.
„Thea! Das ist großartig! Das ist viel cooler als auf einem Wagen zu reisen!“
Tom lenkte Leiftri an Theas Seite, als wäre er schon immer auf einem fliegenden Pferd geritten. „Das ist besser als Achterbahn fahren, oder?“, neckte er sie.
„Wirklich großartig!“, erwiderte Thea sarkastisch.
Erneut wieherte Djarfur und wieder glaubte Thea ein amüsiertes Kichern darin zu hören.
Thea schaute verunsichert zu Wal-Freya, die mit wehendem Umhang vor ihr ritt. „Wal-Freya? Kann es sein, dass … Djarfur spricht?“
Die Walküre drehte sich im Sattel und lachte. „Ich habe gehofft, dass er das tut. Mit mir spricht er selten, dieser Sturkopf!“
„Das ist nicht dein Ernst, dass du mich auf ein sprechendes Pferd setzt!“
Thea konnte Wal-Freya lachen hören. „Ich sagte dir doch, dass du es leichter haben wirst, mit ihm umzugehen!“
„Können das die anderen Pferde etwa auch?“
„Was? Sprechen? Ja! Mein Pferd Vala kann es und Sigrúns Begleiter ebenso. Nicht alle bringen die nötige Intelligenz mit, ganze Sätze zu formen, aber sie verstehen einfache Befehle.“
„Hättest du mich darauf nicht irgendwie vorbereiten können?“
Wal-Freya lachte erheitert. „Ich wusste nicht, ob er mit dir spricht. Außerdem hätte es wohl kaum eine Rolle gespielt.“
„Wohl nicht“, erwiderte Thea und doch wusste sie, dass es durchaus eine Rolle spielte. Auf einem gewöhnlichen Pferd zu reiten, das einfach nur seine Befehle befolgte, oder auf einem Tier, das in der Lage war, sie zu verstehen, war ein gewaltiger Unterschied. Was, wenn sie die falschen Worte an Djarfur richtete und sie ihn verärgerte? Sie betrachtete seine nachtblaue Mähne und seufzte.
„Ich habe ein bisschen Angst“, gestand sie dem Tier, in der Hoffnung, dass ihre Gedanken auch dort ankamen, wo sie sie hinschickte.
„Das merke ich!“, gab Djarfur zur Antwort.
„Nicht nur vor der Höhe. Auch vor dir.“
Wieder wieherte er amüsiert. „Vor mir?“
„Ja. Ich habe noch nie mit einem Tier gesprochen. Zumindest nicht so.“
„Dafür machst du das ganz gut.“ Leichter Spott schwang in seinen Worten mit.
„Ist das für dich nicht ungewöhnlich, mit einem Menschen zu reden?“
„Bisher habe ich nur mit Walküren gesprochen. Die sind nicht ganz so vorsichtig wie du. Aber sonst macht es nicht viel Unterschied“, erwiderte Djarfur. „Schade, dass du Fenrir nicht getroffen hast, der kann sogar laut reden. Ich nicht. Ich glaube, dafür ist meine Zunge zu dick.“
Zur Demonstration streckte er die Zunge raus und blies geräuschvoll Luft aus. Thea musste lachen und tätschelte erheitert seinen Hals. Da kam ihr ein unheilvoller Gedanke und sie zog sofort die Hand zurück. Sie konnte Djarfur doch nicht behandeln wie ein gewöhnliches Pferd!
„Tut mir leid! Das kannst du sicher nicht leiden“, entschuldigte sie sich.
„Ich stehe drauf“, erwiderte Djarfur und wieherte.
Erheitert lachte Thea und tätschelte ihn ein weiteres Mal. Der Rappe schnaubte wohlig und schüttelte den Kopf.
Einige Stunden später führte Wal-Freya die Gruppe hinab in Richtung des Meeres. Aus einer ihrer vielen Taschen zog sie ein Stück Pergament. Während Vala in einen leichten Trab wechselte, faltete Wal-Freya das Papier auseinander. Juli und Thea, die die Prozedur schon von ihrer ersten Reise nach Niflheim kannten, waren wenig überrascht, als sich mit jedem Öffnen der Papierkanten allmählich ein Schiff herausbildete, das die Wanengöttin schließlich zu Wasser ließ. Tom allerdings wollte seinen Augen nicht trauen. Als sein Pferd auf den Planken Skidbladnirs aufsetzte, plapperte er wild vor sich her, sprang aus dem Sattel und prüfte Schiffsreling und Boden auf ihre Festigkeit.
„Wie ist das nur möglich?“, staunte er abschließend.
„Ein Zauberwerk der Zwerge“, erklärte Thea. Auch sie hievte sich aus dem Sattel. Liebevoll fuhr sie Djarfur über die Schulter und steckte die Hand unter die Satteldecke. „Soll ich dir den abnehmen?“
Nickend erwiderte Djarfur: „Bitte! Und den Rücken abreiben!“
Schmunzelnd tätschelte sie Djarfur und beobachtete zufällig Hermodr, der gerade ein Tuch aus einer seiner Satteltaschen holte. Sie schaute in der Tasche an Djarfurs Sattel nach und fand ebenfalls ein Tuch darin.
„Faszinierend“, erwiderte Tom und ließ seinen Blick das rotweiße Segel entlang schweifen.
Im Vorbeigehen knuffte Juli ihn. „Jetzt freuen wir uns erst einmal aufs Essen!“
„Ihr freut euch erst einmal darauf, die Pferde zu versorgen. Nehmt euch ein Beispiel an ihr“, konterte Wal-Freya, drückte Juli Valas Zügel in die Hand und deutete auf Thea, die sich gerade das Handtuch über die Schulter warf und Djarfurs Sattelgurt löste.
„Ach so“, brummte Juli beleidigt. „Und ich darf dein Pferd mitversorgen?“
Hermodr lachte leise.
„Sicher. Denn du darfst danach auch an meinem Feuer sitzen“, erwiderte Wal-Freya. Herausfordernd zog sie eine Augenbraue hoch.
Juli grinste diplomatisch. „Ich sage es nicht gerne, aber das scheint mir ein gerechter Deal zu sein.“
„So sehe ich das auch.“ Gezielt steuerte Wal-Freya auf eine der Ruderbänke zu und zog die Kiste darunter heraus. Sorgfältig platzierte sie eine Feuerschale in der Mitte des Schiffes und stapelte einige Scheite Holz auf. Als sie damit fertig war, sah sie zu Thea hinüber, die das Handtuch zurück in der Satteltasche verstaute.
„Komm her, Thea. Wenn du lernst, das magische Feuer zu beherrschen, schaffst du es vielleicht auch irgendwann bei Kyndill.“
Juli sah von ihrer Arbeit auf. „Ich finde es keine gute Idee, das auf einem Schiff inmitten des Ozeans zu üben. Ich erinnere nur daran, wie viele Äpfel starben, bis sie diesen Bewegungszauber beherrscht hat.“
„Du bist echt fies!“, erwiderte Thea und knuffte ihrer Freundin im Vorbeigehen auf den Arm.
„Nur besorgt“, erwiderte Juli lachend.
Wal-Freya hockte sich vor der Feuerschale nieder.
Thea setzte sich zu ihr. „Kenaz?“, fragte sie.
Wal-Freya nickte. „Ja, ich denke, du nimmst besser eine Rune zur Hilfe.“
Thea benetzte ihren Finger mit Spucke und malte das Symbol auf ihre linke Hand. Wie sie es schon so oft bei Wal-Freya gesehen hatte, legte sie die Hand offen über die Holzscheite. „Brenne!“, befahl sie den Scheiten, doch nur ein schwaches Kribbeln lief ihr in die Fingerspitzen.
„Konzentriere dich“, flüsterte Wal-Freya und nahm die andere Hand ihres Schützlings.
Den Befehl wiederholend legte Thea ihre Aufmerksamkeit auf Rune und Scheite. Sie fühlte Energie in ihre Finger fahren und zuckte in einem aufkommenden Schmerz zurück. Überrascht löste sie sich aus Wal-Freyas Griff, ballte die Zauberhand auf der Brust und legte die freie Hand schützend darüber.
In einer bedauernden Geste presste Wal-Freya die Lippen zusammen. „Feuerzauber schmerzt, aber sei beruhigt. Es bleiben keine Verletzungen zurück. Ohne brennbares Material ist es noch viel schlimmer.“ Sie legte beide Hände über die Schale. Konzentriert murmelte sie ein paar Worte, bis einige der Hölzer zu glühen begannen. Kurz darauf breitete sich das Feuer in der Schale aus und warf sein flackerndes Licht auf das Deck.