Читать книгу Die Midgard-Saga - Hel - Alexandra Bauer - Страница 6
3. Kapitel
ОглавлениеZwei Tage nach ihrem Aufbruch aus Asgard breitete sich die Dunkelheit auch bei Tag über dem Himmel aus. Mit aller Kraft reckten sich die Sonnenstrahlen über den Horizont, berührten das aufkommende Nordlicht und verabschiedeten sich in einem letzten Gruß von den Freunden. Mit zunehmender Finsternis fielen auch die Temperaturen und im Nebel ihres Atems bildeten sich kleine Eiskristalle auf den Härchen der Pferdemäuler. Selbst Hermodr und Tom blieben nicht davon verschont.
So lange wie möglich reisten sie auf den Pferden. Nur zum Aufwärmen und Schlafen zogen sie sich auf Skidbladnir zurück.
Trotz der eisigen Temperaturen und der bevorstehenden Aufgabe genoss Thea die Reise. Begleitet vom Nordlicht auf dem Rücken eines sprechenden Pferdes zu reiten war etwas Besonderes. Djarfurs Fell schien das Sternenlicht einzufangen und ließ es trotz des Zwielichts noch intensiver schimmern. Thea fühlte die sie überall durchströmende Magie. Auf ihrer ersten Reise nach Niflheim und letztlich in dem Moment, als ihr Odin verbot, zurück nach Midgard zu kehren, hatte sie geglaubt mit einer Strafe belegt worden zu sein. Doch dieser Eindruck war dem Gefühl von Dankbarkeit und Stolz gewichen. Juli hatte Recht. Ein Flammenschwert zu besitzen, mit Göttern zu reisen, Magie zu lernen und jetzt sogar die Begleitung eines sprechenden Pferdes zu genießen, das war etwas, von dem manche Menschen nicht einmal zu träumen wagten. Sie hatte lachen müssen, als ihr Djarfur gestand, dass er sie nur gewählt hatte, weil sie die Heldin in diesem besonderen Spiel sei und er das Pferd sein wollte, von dem einst Lieder und Sagen berichteten. Allmählich begriff sie jedoch, dass Djarfur Recht hatte. Sie würde helfen, Balder zu befreien. Sie würde eine der Personen sein, die Ragnarök zu einer Gruselgeschichte aus alten Tagen werden ließen. Sie war die Freundin der Liebesgöttin und der obersten der Walküren geworden, ihr vertrauten die Götter, die sie treu begleiteten und die ihr in so vielen kleinen und großen Momenten zeigten, dass sie bessere Freunde nie haben würde. Die Freude darüber vertrieb den Trennungsschmerz von ihren Eltern und ihrem Bruder. Sie würde sie bald wiedersehen und die Gewissheit darüber, dass sie dann alle ein unbeschwertes Leben führen würden, machte ihr die Trennung leichter.
„Wir sind da!“, drang Hermodrs Stimme in die Stille.
„Das ist wirklich sehr beeindruckend“, sagte Djarfur.
Thea hob den Kopf. Eine gewaltige Platte aus Eis ragte aus dem dunklen Ozean auf. Von hier oben waren die Erhebungen in der Landschaft kaum zu erkennen. Nur die zerklüfteten Klippen entlang der Küste rissen Löcher in den weißen Teppich. Thea holte tief Luft. Abermals hatte sie Niflheim erreicht, eine Welt, die so weit entfernt von der Sonne lag, dass diese sie nie erreichte. Dennoch gelang es dem Schnee, die wenigen Strahlen der Sterne und des Mondes für sich zu nutzen, um nicht gänzlich in der Dunkelheit zu versinken.
„Jetzt geht diese Stapferei im knietiefen Schnee wieder los“, keuchte Juli.
Hermodr drehte sich im Sattel. „Der Eingang nach Hel liegt weit im Nordwesten Niflheims. Wenn wir dorthin laufen, brauchen wir Wochen.“
Auch Wal-Freya wandte sich um. „Ein paar Walkürenpferde werden kein Aufsehen erregen. Wir reiten weiter.“
„Und was ist mit denen dort unten? Deren Aufmerksamkeit haben wir bereits erregt“, meldete sich Tom zu Wort. Thea folgte seinem Fingerzeig. Tatsächlich waren undeutliche Bewegungen im Schnee auszumachen.
„Das sind nur ein paar Tiere“, brummte Hermodr.
Anscheinend war es den Walkürenpferden nicht möglich, ohne Bewegung in der Luft stehen zu bleiben, denn Wal-Freya lenkte Vala im Kreis, um das Geschehen näher unter die Lupe zu nehmen. Djarfur und die anderen passten sich Valas Schritt an und tanzten schließlich ebenso auf der Stelle, als die Walküre mit Vala verharrte.
„Das sind nicht nur Tiere“, brummte sie und lenkte Vala in die Tiefe.
Als Djarfur die Hufe auf dem Schnee aufsetzte, verstand Thea, von was Wal-Freya gesprochen hatte. Für einen Augenblick jagten ihr die von weißem Fell bedeckten Geschöpfe Angst ein. Doch es waren keine Schneedämonen, wie sie zuerst glaubte, sie erinnerten vielmehr an Affen. Spitz zulaufende Ohren standen zu beiden Seiten ihrer Köpfe ab, von denen das weiße Fell ebenso lang fiel, wie vom Rest ihrer Körper. Bärte, die mit den buschigen Augenbrauen der wulstigen Stirn verwachsen zu sein schienen, umrahmten ihre Gesichter und ließen nur den Blick auf ihre dunklen Augen, Wangen und Lippen frei. Auf den Rücken der Tiere saßen Menschen.
„Die sehen ein bisschen aus wie Yetis“, raunte Juli.
„Wir nennen sie Eis- oder Nifltrolle“, erwiderte Hermodr.
Um die Brust der zweieinhalb Meter aufragenden Geschöpfe kreuzten sich Lederriemen, die zu einem Teil einer Sattelkonstruktion gehörten. Sie ermöglichte es den Reitern, aufrecht auf den Rücken der Wesen zu sitzen. Anscheinend lenkten sie die Geschöpfe über die Schulterriemen, denn links und rechts auf dem Leder waren ein paar Zügel angebracht. Die Reiter waren Menschen. Dicke Felljacken hüllten ihre Oberkörper ein. Als Wal-Freya neben ihnen landete, schoben sie ihre Mützen aus der Stirn und zogen die Tücher aus dem Gesicht. Bärtige Gesichter offenbarten sich. Theas Blick fiel auf die karierten Hosen und ließ sie vermuten, dass diese Männer zu Ingvars Leuten gehörten. Aber was suchten sie so weit im Süden?
Wal-Freya lenkte Vala nahe an sie heran. Sie stellte keine Frage, dennoch nickte ihr einer der drei Reiter achtvoll zu und erklärte sich sofort.
„Sei gegrüßt, meine Göttin. Es ist mir eine Ehre. Ingvar schickt uns.“
„Ich verstehe nicht. Wie kann er wissen, dass wir hier sind?“, erwiderte die Wanin staunend.
Juli seufzte hörbar. „Wie immer sind wir überaus unauffällig gereist.“
Wal-Freya warf ihr einen bitteren Blick zu.
Der Mann legte die Faust auf die Brust und neigte leicht den Kopf, während er antwortete: „Seit einiger Zeit geht das Gerücht um, dass die Asen auf dem Weg nach Niflheim sind.“
Sowohl Wal-Freya, als auch Hermodr schnappten nach Luft. Das erste Mal, seit sich Thea erinnern konnte, wich der Walküre die Farbe aus dem Gesicht. Beide Götter wechselten Blicke.
„Wie ist das möglich?“, brummte Hermodr. „Wer erzählt das?“
Der Mann, die Faust noch immer aufs Herz gelegt, senkte nun den Blick in Richtung des Gottes, ehe er antwortete. „Wie du weißt, betreiben wir Handel in der Feste. Verschiedene Kaufmänner berichteten davon.“
Wal-Freyas Miene versteinerte. „Wenn das so ist, dann können wir unser Vorhaben unmöglich weiterverfolgen.“
„Ingvar schlägt vor, dass ihr ihm einen Besuch abstattet“, erwiderte der Mann rasch.
Hermodr schüttelte den Kopf. „Wir haben keine Zeit für Geschwätz, das sind zwei Tage mehr, in denen wir unseren Plan gefährden!“
„Oder davon ablenken“, knirschte Wal-Freya.
„Also ich hätte gegen ein warmes Bad und eine Nacht in weichen Kissen nichts einzuwenden“, erwiderte Juli.
Eindringlich sah Wal-Freya zu Hermodr. Thea war sich sicher, dass die Walküre ihm einen Gedanken schickte.
„Was ist?“, fragte Thea.
„Wir müssen herausfinden, was das für Gerüchte sind und woher sie stammen. Vor allem aber müssen wir genau überlegen, was wir jetzt tun. Ich verstehe nicht, wie es durchgesickert ist, dass wir auf dem Weg nach Hel sind. Es müsste schon einen Verräter in Asgard geben und das ist ausgeschlossen!“, antwortete Wal-Freya bereitwillig.
„Vielleicht wurde Hermodr gesehen, als er den verborgenen Zugang gesucht hat.“
„Das gilt es rauszufinden. Ich nehme an, dass Ingvar seine Männer nicht mit näheren Informationen gefüttert hat und wir sollten es auch nicht tun.“ Sie nickte dem Mann zu. „Wir nehmen Ingvars Einladung an. Er ist ein guter Freund. Mit unseren Pferden werden wir ihn aber schneller erreichen als ihr.“
„Selbstverständlich. Wir erwarten nicht, dass du wartest.“
Ohne die Männer eines weiteren Blickes zu würdigen, nahm Wal-Freya die Zügel in die Hand und Vala galoppierte in den Nachthimmel davon. Alle folgten ihr, nur Djarfur blieb stehen.
„Was ist los? Warum läufst du nicht?“, fragte Thea ihn.
„Ich dachte, du sagst mir zur Abwechslung mal, was ich machen soll.“
„Du weißt doch, dass wir Wal-Freya folgen müssen.“
„Weiß ich das? Ich bin doch nur das Pferd!“
Thea öffnete empört den Mund und seufzte. „Würdest du Vala also bitte folgen?“
Djarfur kicherte. „Aber gern doch, Thea.“
Sie stoben in Richtung der Feste davon. Zwei Tage ritten sie nach Westen. Zwischendurch rasteten sie, gewärmt von Wal-Freyas magischem Feuer, aßen und legten sich für ein paar Stunden schlafen, bevor sie weiterreisten. Von der eisigen Kälte umschlossen, die auf dem Rücken der Pferde noch viel unangenehmer in ihre Kleider drang, forderte Juli zur häufigeren Rast, aber Wal-Freya und Hermodr blieben unnachgiebig. So ritten sie weiter, bis sie irgendwann die Umrisse eines Gebäudes ausmachten. Auf einer Anhöhe hoch über dem Land leuchteten Eiszinnen und Mauern hinter treibenden Schneeflocken. Thea erkannte den geschlungenen Bergpfad, welchen sie damals genommen hatten. Auf den Wehrgängen und Türmen entdeckte sie patrouillierende Soldaten. Thea erinnerte sich gut an ihren ersten Aufenthalt in Ingvars Feste. Ein Schauer überfiel sie, als sie an den Lampengeist und seine ausgesprochene Drohung dachte, dass sie sich eines Tages wiedersehen würden. Ob er noch immer sein Unwesen in Niflheim trieb?
Wal-Freya führte Vala über die Feste und ließ das Tier im zweiten Innenhof landen. Nebel waberte über den Platz und hüllte die Pferde bis zu den Knien ein. Tom ließ seinen Blick über die eisblauen Mauern schweifen und pfiff beeindruckt aus.
„Hattest du nicht erzählt, Ingvar sei ein Mensch? In dieser Feste könnten Riesen wohnen“, sagte er.
„Nun, sie ist ein wenig kleiner als Utgard-Lokis Feste“, meinte Juli.
„Um einiges“ bestätigte Wal-Freya. Sie schwang sich aus dem Sattel und tätschelte Vala sanft an der Schulter. Im gleichen Augenblick wurde das goldene Tor des Turms aufgestoßen und Ingvar stapfte mit erhobenen Armen heraus. Er trug ein Wams aus Fell, das von einem breiten Gürtel mit einer goldenen Schnalle zusammengehalten wurde. Darunter flatterte eine Hose aus blaugrün-kariertem Stoff. Sein blondes Haar war lang, ebenso sein Bart, der sich in der Kinnmitte in zwei filzige Strähnen teilte. Mit ihm wehte der Geruch von Herdfeuer und gebratenem Fleisch zu ihnen.
„Meine Freunde! Ich freue mich, euch wieder zu sehen!“
Ehe es sich Wal-Freya versah, erstickte Ingvar sie in einer Umarmung.
Überrumpelt streckte Wal-Freya die Arme zur Seite, erwiderte die Geste dann aber doch. „Wir uns auch, Ingvar. Wir uns auch.“ Sie löste sich mit sanftem Druck.
Ingvar lachte amüsiert und klopfte der Walküre hart auf die Schulter.
„Ein lustiger Mann. Er hat Glück, dass ihm Wal-Freya keinen Fausthieb verpasst.“ Djarfur wieherte amüsiert.
Weniger euphorisch verbeugte sich Ingvar vor Hermodr. „Es ist mir eine Ehre.“
„Mir ebenso, Ingvar“, antwortete Hermodr von seinem Pferd aus.
Der Wikinger wandte sich zu Tom und streckte ihm die Hand entgegen. „Und du bist Tom, nicht wahr?“
„Ja, aber woher …“ Zögernd schlug Tom ein.
„Nur weil ich im hintersten Teil der Welt lebe, bedeutet das nicht, dass mir die Ereignisse jenseits von Niflheim verborgen bleiben. Ihr erregt so einiges Aufsehen!“
„Nicht doch, Ingvar!“, erwiderte Juli spöttisch.
Schmunzelnd drehte er sich um. „Und stets in Theas Begleitung die treue Juli! Komm runter und lass dich umarmen!“
„Nur wenn du ein Festmahl für uns vorbereitet hast“, scherzte Juli.
Ingvar lachte. „Wohlweißlich. Ich ahnte doch, dass du kommst.“
Juli rutschte aus dem Sattel. Kaum dass ihre Beine den Boden berührt hatten, zog Ingvar sie an sich und begrüßte sie auf die gleiche Weise wie zuvor Wal-Freya. Wieder kicherte Djarfur amüsiert. Da wandte sich Ingvar schon von Juli ab und sah zu Thea auf.
„Verdammt und eins, siehst du gut aus! Du bist gereift!“
Kaum war Thea aus dem Sattel gesprungen, da fand auch sie sich in Ingvars Umarmung gefangen. Treuherzig ließ sie sich auf den Rücken klopfen. „Du Teufelsweib! Von dir hört man ja Geschichten“, sagte Ingvar abschließend und gab ihr einen Knuff. „Ich kann es kaum erwarten, alles aus erster Hand zu erfahren. Kommt mit rein. Ich werde jemanden schicken, um eure Pferde zu versorgen.“
„Das sind keine gewöhnlichen Tiere“, mahnte Wal-Freya.
„Fressen sie etwas anderes als Müsli, Heu und Obst? Saufen sie Met statt Wasser?“ Ingvar lachte.
„Nein, das nicht. Aber ihr solltet sie mit größtmöglichem Respekt behandeln“, mahnte Wal-Freya.
„Ich denke nicht, dass ich meine Leute darauf hinweisen muss. Sie sind die Pferde unserer Götter! Nun kommt!“ Er wandte sich um und öffnete die Tür zur Halle. Stimmen wurden laut und der Geruch von frischem Braten und gerösteten Kartoffeln wurde intensiver. Nacheinander traten sie ein, das Gemurmel der Menschen ebbte ab. Von den umstehenden Tischen erhoben sich bärtige Männer und Frauen mit wundervoll hochgesteckten Haaren. Hier und da mischte sich ein Kind unter die Erwachsenen. Grüßend neigten sie die Köpfe, während Ingvar die Gruppe in Richtung seines Herrschersitzes leitete. Die Wärme innerhalb des Eisschlosses war Thea vertraut, dennoch kam sie überraschend und trieb ihr Schweißperlen auf die Stirn. Den anderen schien es ähnlich zu gehen, denn sowohl Tom, als auch Hermodr hatten die Handschuhe bereits ausgezogen und fingerten an den Verschlüssen ihrer Umhänge. Wal-Freya trug ihren bereits über dem Arm. Noch während sie Ingvar an einen freien Tisch nahe seines Herrschersitzes folgten, hatten sich alle der schweren Umhänge entledigt und warfen diese über die Stühle. Als sie sich nacheinander setzten, nahmen auch die Menschen wieder Platz. Langsam erhoben sich die Stimmen, bis sie erneut zu einem alles übertönenden Gemurmel anschwollen. Thea beobachtete Tom, der sich fasziniert umblickte und dabei hauptsächlich die Wände in den Blick nahm. Selbst als er am Tisch saß, wandte er seinen Blick nicht von ihnen ab.
„Sind sie aus Eis?“, hörte Thea ihn fragen, gerade in dem Moment, da sie ihm die Erklärung liefern wollte.
Nun kam ihr Juli zuvor: „Ja! Das sind sie tatsächlich und nein, sie schmelzen trotz der Wärme nicht!“
Ingvar nickte heftig. „Die Magie des Djinns ist geblieben. Ein Glück! Sonst müssten wir jetzt auf unser Essen verzichten!“ Er klopfte Juli auf die Schulter, die von der Wucht halb über den Tisch flog.
„Ja! Und zum Glück habe ich mich neben dich gesetzt!“, scherzte sie.
Toms Staunen war mit Ingvars Antwort noch größer geworden. „Die Magie des Djinns?“, wiederholte er.
Während eine Frau und ein Mann Teller und Bestecke auf dem Tisch verteilten, erzählte Juli in einer kurzen Zusammenfassung von den Ereignissen, die sich damals in Niflheim zugetragen hatten.
„Ingvar war einst ein fahrender Händler“, erklärte Juli bedeutungsvoll. „Eines Tages gelangte die Lampe des Djinns in seinen Besitz.“ Sie blickte zu Ingvar. „Die näheren Umstände lassen wir jetzt einmal außen vor. Kaum hatte er die Lampe, wünschte er sich ewiges Leben und danach eine Burg, mächtig und reich, in die kein Dieb je eindringen könne. So geriet Ingvar nach Niflheim, denn kein Djinn handelt jemals im Guten und nicht selten bringt ein unbedacht geäußerter Wunsch dem Besitzer der Wunderlampe Schaden.“
Ingvar nickte bestätigend. „So ist es. Doch ich hatte Glück, denn in der Burg gingen die Waren und Nahrungsvorräte niemals aus. So war es mir trotz dieser lebensfeindlichen und abgeschiedenen Gegend möglich, zu existieren. Mein kleiner Staat konnte weiter bestehen.“
„Sind sie auch alle unsterblich?“, fragte Tom und betrachtete den Mann, der ihm gerade einen Becher neben den Teller stellte.
„Nein, leider nicht. Seit vielen Jahren sehe ich mein Volk aufwachsen und sterben, während ich weiter existiere.“ Wehmut klang aus Ingvars Worten.
Hermodr nahm einen bauchigen Krug von der Frau entgegen und schenkte sich ein. „Hast du nie darüber nachgedacht, deinem Leben einfach ein Ende zu setzen? Wenn du es selbst machst, sollte es doch funktionieren?“
Ingvar lachte. „Zu welchen Preis? Wer weiß schon, welcher Saal sich mir in Hel öffnen würde. Ob ich hier ein Leben in Dunkelheit führe, in dem es mir an nichts fehlt oder einen Tod in der Dunkelheit wähle, der mir möglicherweise kein Bier bietet … Nein, das ist mir zu riskant. Da bleib ich doch lieber hier.“
Hermodr lachte und prostete Ingvar zu, der sich einschenkte und den Gruß lachend erwiderte.
„Den dritten Wunsch, der dich vielleicht zurück nach Midgard hätte bringen können, hast du nie versucht zu äußern“, holte Juli das Gespräch zurück.
„Nein. Die Furcht, dass mir Jekuthiel erneut schadet, war zu groß.“
„Aber dann hast du doch noch einen Wunsch ausgesprochen, den, der dich selbst zum Djinn machte“, erinnerte Thea.
Ingvar strich sich den Schaum aus dem Bart. „Das wisst ihr doch schon alles.“
„Ich aber nicht“, erwiderte Tom rasch.
Ingvar räusperte sich und wartete ab, bis alle Schüsseln und Platten auf dem Tisch abgestellt waren. „Jekuthiel drängte mich, den dritten Wunsch zu sprechen, um endlich aus meinen Diensten treten zu können. Doch ich weigerte mich. Schließlich machte er mir weis, dass ihm das Leben langweilig würde. Er versprach, mir das Geheimnis zu verraten, das mir viele weitere Wünsche bescheren würde, nur damit er wieder Spaß am Leben hätte. Leider vergaß er zu erwähnen, dass dieser Spaß darin bestand, mich selbst zum Djinn zu machen. Er lebte fortan als Ingvar, während ich der Djinn war, der ihm mehr als drei Wünsche erfüllen musste. Er genoss jeden einzelnen Moment seines neuen Lebens.“
„Bis Thea ihm den Spaß verdorben hat“, raunte Juli.
Theas Magen zog sich zusammen, als sie an Jekuthiels Drohung dachte. Nachdem sie die Lampe in ihren Besitz gebracht hatte, forderte Jekuthiel diese von ihr zurück. Er hatte versprochen, sich dankbar zu zeigen, wenn sie seiner Bitte nachkäme. Stattdessen aber hatte Thea das einzig richtige getan, sie hatte einen Wunsch ausgesprochen, der Ingvar von seinem Dasein befreite. Dieser Wunsch verwandelte aber auch Jekuthiel zum Djinn zurück. Erbost hatte er ihr daraufhin prophezeit, dass sie sich wiedersehen würden. Zum ersten Mal verstand sie, dass sie ihm mit ihrem Wunsch etwas weggenommen hatte.
Ingvar lud sich seinen Teller voll und verlangte nach einem weiteren Humpen. „Genug von den alten Geschichten! Jetzt wollen wir erst einmal essen!“
„Wahrlich!“, stimmte Juli zu und zog die Fleischplatte heran.
Mürrisch brummelnd meldete sich Thea zu Wort. Sie konnte nicht fassen, wie Juli jetzt ans Essen denken konnte, statt nach Antworten zu suchen. „Sobald man dir etwas zu essen vor die Nase räumt, scheint dir alles andere aus dem Gehirn gewischt. Hast du vergessen, warum wir hergekommen sind?“
Unerwartet für Thea legte Wal-Freya ihre Hand auf die Hand von Juli und ergriff für sie Partei: „Ist schon gut, wir können in Ruhe essen. Dann sollten wir ohnehin einen Raum aufsuchen, der vor fremden Ohren geschützt ist.“
Ingvars Miene erhellte sich. Lachend hieb er Wal-Freya auf den Rücken, die gerade zum Trinken angesetzt hatte und mit den Zähnen gegen den Becher schlug. Dabei schwappte ein Schwall des Bieres über den Becherrand, der sich seinen Weg über ihr Kinn auf den Teller suchte. Statt einer Entschuldigung ließ Ingvar einen zweiten Schlag auf ihre Schulter folgen, der einen weiteren Schwall aus dem Becher löste.
„Der respektvolle Umgang, den du einer deiner Göttinnen gegenüber hegst, erfüllt mich mit großer Freude“, erwiderte Wal-Freya sarkastisch. Sie wischte sich den Mund, nahm ihren Becher in die andere Hand und hob abwehrend den Arm, um weitere freundschaftliche Gesten zu unterbinden. Die anderen lachten und Wal-Freya schien ihre Erheiterung zu teilen, denn sie zwinkerte Thea mit einem Lächeln zu, bevor sie die Schüsseln heranzog und sich Kartoffeln auf den Teller lud.
„Tut mir leid, Wal-Freya. Wenn man so lange wie ich gelebt hat und sich außerhalb der Regeln bewegt, vergisst man hier und da seinen Stand.“ Er schmunzelte und prostete ihr zu.
Für einige Zeit war ihr Auftrag vergessen. Wie alte Freunde, die sich seit vielen Jahren nicht gesehen hatten, aßen und tranken sie, erzählten Geschichten und teilten die Erheiterung des anderen. Sehr viel später war es Wal-Freya, die die Gruppe ins Hier und Jetzt zurückholte.
„Lasst uns einen Raum aufsuchen, in dem wir ungestört reden können“, sagte sie in einem Moment völliger Entspannung.
Als hätte sie ihn von einem anderen Stern zurückgeholt, runzelte Ingvar ungläubig die Stirn, bevor sich seine Miene erhellte und er hektisch wurde. „Ähm … natürlich …“, erwiderte er, erhob sich und bedeutete den anderen, ihm zu folgen. Er öffnete eine Tür in der hinteren Ecke des Raumes. Ein langer hoher Gang verbarg sich dahinter. Thea erkannte ihn wieder, jedoch wählte Ingvar nicht die Treppe zu den oben gelegenen Wohnräumen, sondern schob eine verborgene Tür auf, die sich im Mauerwerk befand. Ein Zimmer mit einer Tafel in der Mitte und einem hohen Bücherschrank zur Linken offenbarte sich hier. An der Stirnseite des Raumes hing ein riesiger Wandteppich, der eine sonnenüberflutete Landschaft zeigte. Kälte schlug ihnen entgegen, da kein Feuer im Kamin brannte. Fröstelnd zog Thea die Arme enger an den Körper.
„Verzeiht! Ich war auf keine Besprechung vorbereitet“, entschuldigte sich Ingvar.
Wortlos kniete sich Wal-Freya an den Kamin und legte die Hand über die vorbereiteten Hölzer. Wenige Augenblicke später schlugen Flammen um die Scheite, loderten auf und verbreiteten magische Wärme im Zimmer. Beeindruckt nickte Ingvar Wal-Freya zu, dann rückte er seinen Stuhl heran und nahm Platz. Die anderen folgten seinem Beispiel, nur Hermodr blieb stehen, da die Tafel nicht ausreichend Sitzmöglichkeiten bot.
„Also“, eröffnete Hermodr das Gespräch. „Wie kommt es, dass du davon wusstest, dass wir uns auf dem Weg nach Niflheim befanden?“
„Ich betreibe Handel mit einigen Schwarzalben. Die Vorratskammern der Feste sind an jedem Morgen frisch gefüllt, doch fehlt es hier und da an Stoffen, Fellen und manchmal auch an Holz. Einer der Schwarzalben riet mir, aufmerksam zu sein, da sich möglicherweise bald eine göttliche Auseinandersetzung in meiner Nähe abspielen könnte.“
„Eine göttliche Auseinandersetzung?“, wiederholte Wal-Freya. Sie und Hermodr tauschten Blicke. „Hat er das konkretisiert?“
„Nicht wirklich. Als ich fragte, von welchen Göttern er spräche, antwortete er nur: von den Asen.“
„Es ist völlig ausgeschlossen, dass wir einen Verräter in Asgard haben“, brummte Hermodr.
„Wer zum Himmel geschaut hat, hätte unsere Pferde nach Niflheim reiten sehen können“, erwiderte Tom.
„Walkürenpferde auf dem Weg nach Niflheim sind nichts Ungewöhnliches“, versetzte Wal-Freya sofort. „Außerdem hätten es Ingvars Reiter mit ihrer Nachricht nie so schnell an die Landesgrenzen geschafft. Diese Information hatte er lange vor unserem Aufbruch aus Asgard.“
„Das ist richtig“, erwiderte Ingvar. „Der Schwarzalb war vor zwei Wochen hier. Als Ziel nannte er auch nicht Niflheim, sondern Hel.“
Wal-Freya schnaufte überrascht. Auch Hermodr und die anderen holten erschrocken Luft.
Sie beugte sich nah an den Wikinger heran. „Was wir hier besprechen, darf diesen Raum niemals verlassen“, sagte sie eindringlich.
„Natürlich“, bestätigte Ingvar, worauf ihm Wal-Freya ihre Pläne offen legte. Mit jedem Wort, das die Walküre sprach, wurden seine Augen größer.
„Ich weiß nicht, meine Göttin, ob das ein weiser Plan ist“, erwiderte er ehrfürchtig. „Hel ist euch Asen ebenbürtig. Odin gab ihr einst Macht über die neunte Welt. Streng genommen beschränkt sich ihre Autorität nicht nur auf diese. Im Tode gebietet sie sogar über euch! Sie zu verstimmen, halte ich für einen schlechten Plan. Wohin soll das führen?“
Hermodr verschränkte die Arme. „Wir Asen haben ausführlich darüber beraten, Ingvar.“
„Da war der Plan, nach Hel zu gehen, aber noch geheim“, erinnerte Juli. Sie betonte das Wort ‚geheim’ so nachdrücklich, dass Thea die nächsten Worte ihrer Freundin schon erahnte, ehe sie sie aussprach: „Geheim ging wieder einmal mächtig in die Hose!“
„Ob der Schwarzalb Hermodr gesehen hat, als er den versteckten Weg nach Hel gesucht hat?“, fragte Tom.
„Selbst wenn, dann hätte er es niemals vor zwei Wochen erzählen können“, erwiderte Hermodr.
Juli brummte. „Die Idee nach Hel zu gehen, hatten wir schon in Jötunheim.“
„Verdammt! Das stimmt! Ganz sicher hat es von dort seinen Weg in die Welt genommen“, erwiderte Hermodr überzeugt.
Wal-Freya ballte die Fäuste. „Wie es passiert ist, spielt keine Rolle mehr! Die Frage ist, was wir jetzt damit anstellen!“
„Vielleicht blasen wir die Sache einfach ab“, brummte Juli.
Schweigen legte sich über die Gruppe. Schließlich raunte Hermodr: „Wir haben lange und hitzig darüber beraten. Nach vielen Für und Wider haben wir uns dafür entschieden. Wir können uns jetzt nicht über den Beschluss hinwegsetzen. Balder zu befreien ist richtig und es muss unsere oberste Priorität bleiben.“
Sie schwiegen und Thea blickte verunsichert von einem zum anderen.
„Wir klopfen an die Vordertür“, erwiderte Wal-Freya schließlich.
„Was?“, schnaufte Thea.
„Ein Gerücht, das sich bis zu Ingvar trägt, wird auch Hel zu Ohren gekommen sein. Ich bin davon überzeugt, dass sie bereits weiß, dass wir kommen. Wir alle wissen, in wessen Dunstkreis wir gesessen haben, als wir das erste Mal darüber sprachen, nach Hel zu gehen. Wenn Loki uns belauschte, hat er seine Tochter bereits über unsere Pläne informiert. Dieses Schandmaul wird unser Vorhaben überall publik gemacht haben. Was er allerdings nicht weiß, ist, mit wem wir auf die Reise gegangen sind. Wir teilen uns also auf. Hermodr und ich erstatten Hel einen offiziellen Besuch. Wir fordern noch einmal von ihr, Balder frei zu lassen. Ihr drei werdet währenddessen den versteckten Zugang aufsuchen und die Unterwelt nach Balder auskundschaften! Hel wird vielleicht einen Angriff von uns fürchten, sie wird aber nie damit rechnen, dass wir uns durch die Hintertür schleichen.“
„Wir allein?“ Juli sprang auf.
„Sie könnten hier warten, bis ihr zurückkommt“, schlug Ingvar eilig vor.
Wal-Freya schüttelte den Kopf. „Wenn wir Hel ablenken, können sie ungestört nach Balder suchen. Hel wird uns Balder niemals überlassen. Wenn sie uns überhaupt noch Einlass gewährt, um mit ihr zu sprechen. Dafür wird Lokis falsche Zunge gesorgt haben.“
„Ja und dann? Was, wenn sie euch fortjagt?“, schnappte Juli.
„Dann verlassen wir Niflheim zum Schein, schlagen einen Haken und stoßen später zu euch. Vielleicht habt ihr bis dahin schon herausgefunden, wo Balder sich aufhält. Wenn ihr Balder gefunden habt, nehmt ihr den gleichen Weg zurück, den ihr gekommen seid. Wir kommen euch dann auf diesem Pfad entgegen, denn die beiden anderen sind bewacht.“
Juli verschränkte murrend die Arme. „Was ist das schon wieder für ein unsinniger Plan? Wenn ihr sowieso runter kommt, dann können wir das doch gleich zusammen tun. Wir warten hier und ihr holt uns ab, sobald ihr euer Ablenkungsmanöver beendet habt.“
Auch Ingvar rutschte unruhig auf seinem Stuhl. „Das halte ich auch für besser. Drei Lebende werden in Hel doch sofort auffallen. Keiner von ihnen sieht besonders tot aus.“
„Und das soll auch so bleiben!“, schnappte Juli.
„Juli, wenn ihr hier auf uns wartet, verlieren wir Zeit. Wenn unser Ablenkungsmanöver misslingt, seid ihr unsere einzige Chance, Balder zu befreien.“
„Sie werden den Eingang niemals alleine finden, Freya“, gab Hermodr zu bedenken.
„Sie nicht, aber Kvikur wird es. Du wechselst dein Pferd mit dem von Juli oder Tom.“
„Wohl eher das von Tom“, brummte Hermodr. „Es hat schon einen Mann getragen und wird eher zu überreden sein.“ Während er abwechselnd Juli, Tom und Thea ansah, erwiderte er: „Ich gebe zu, mir ist auch nicht wohl dabei, euch alleine loszuschicken, aber Wal-Freya hat Recht. Wenn sich bereits die Schwarzalben erzählen, dass hier etwas im Gange ist, weiß Hel, dass wir kommen. Wir müssen sie aufsuchen, um sie in Sicherheit zu wiegen. Sollte sie von Loki gewarnt worden sein, wird sie Verrat fürchten und niemand von uns wird sich unbehelligt in der Unterwelt bewegen können. Wartet nicht auf uns. Wir werden versuchen, sie so lange wie möglich zu beschäftigen. Wenn sie glaubt, dass wir nichts gegen sie unternehmen, könnt ihr in aller Ruhe nach Balder suchen.“
„Unter einem Heer von Toten?“, schnappte Juli.
Wal-Freya zog eine Grimasse. „Bevor wir nach Niflheim aufgebrochen sind, hast du einen ganzen Abend lang mit Toten gefeiert. Du warst gar nicht von ihren Tafeln wegzubringen!“
Erneut wollte Juli protestieren, doch die Worte blieben ihr im Halse stecken. Mit offenem Mund drehte sie sich zu Thea um und stieß sie empört an. „Sag doch auch mal was!“
Thea zog überrascht die Augenbrauen hoch. „Ich? Wieso ich?“
„Weil das ganze hier dein Schlamassel ist? Hast du das schon vergessen?“
„Ich glaube nicht, dass wir da irgendetwas zu entscheiden haben“, gestand Thea verlegen.
Wal-Freya seufzte. „Ich wüsste nicht, warum wir das noch einmal erörtern sollten. Ragnarök zu verhindern liegt in unser aller Interesse, Juli.“
„Da stimme ich dir in jedem Fall zu. Aber das heißt doch nicht, dass man sich blindlings in jede Gefahr stürzt.“
Wal-Freya faltete die Hände auf dem Tisch. „Das Schlimmste für euch wird es sein, den Gjöll zu überwinden. Er trennt die Totenwelt von der Außenwelt. Ihr werdet das hier brauchen.“ Sie griff unter ihren Panzer, zog ein Stück Pergament hervor und schob es zu Thea über den Tisch. Thea erkannte es wieder. Es war Skidbladnir.“
„Und ihr?“, fragte Tom, der das zusammengefaltete Schiff ebenfalls erkannte.
„Wir reisen über die Gjallarbrú. Wir brauchen Skidbladnir nicht“, antwortete Hermodr.
„Was ist die Gjallarbrú?“, flüsterte Tom zu Juli.
„Eine goldene Brücke. Sie verbindet die Unterwelt und die Außenwelt, ähnlich wie Bifröst Midgard und Asgard verbindet“, antwortete Juli. Dann wurde sie lauter und richtete ihre Stimme an Wal-Freya und Hermodr: „Aber ebenso wie Bifröst von Heimdall bewacht wird, wird Gjallarbrú von Modgudr bewacht.“
„Sie ist kein Problem“, erwiderte Hermodr. „Sie wird uns passieren lassen.“
„Wenn euch Hel einlässt“, versetzte Juli.
„Richtig. Sollten wir später den geheimen Pfad nehmen, haben wir schon Mittel und Wege, über den Gjöll zu kommen“, lächelte Wal-Freya.
Juli seufzte tief. „Gibt es denn gar keine Möglichkeit, euch umzustimmen?“ Die Mienen ihrer Gegenüber spiegelten eisiges Schweigen wider. Peinlich berührt versuchte Ingvar weder dem Blick seiner Götter, noch dem von Thea, Juli oder Tom zu begegnen. Irgendwann brach ein Seufzen durch die Stille, ausgestoßen von Juli, die mit hochgezogenen Schultern zu Thea sprach: „Nun denn, mögen die Spiele beginnen!“
Ingvar hob den Kopf. „Aber nicht sofort! Ihr bleibt doch noch eine Nacht?“
Ehe ein anderer antwortete, streckte sich Hermodr mit einem Brummen. „Es spricht nichts dagegen. Außerdem werden meine Knochen ein weiches Bett begrüßen. Auf den Planken eines Schiffes schläft es sich nicht bequem.“
Ein Lächeln fuhr Wal-Freya über die Lippen, während sie sich erhob. „Das wird uns allen gut tun. Außerdem gibt es uns noch etwas Zeit.“ Ihre Augen ruhten auf Thea, die ihren Gedanken nachhängend, erst reagierte, als Juli sie anstieß.
„Sie meint dich!“
Thea schreckte auf. „Entschuldigung! Natürlich“, erwiderte sie. Als sie aufstand, streifte ihr Blick das Pergament, das noch immer auf dem Tisch lag. Thea nahm es auf und streckte es Juli entgegen. „Nimm du es! Du hast schon einmal darauf aufgepasst. Ich denke, dass es bei dir in guten Händen ist.“
Unendlich stolz grinste Juli Thea an. Sorgsam verstaute sie Skidbladnir unter dem Kettenhemd und schloss zu Tom auf, der gerade mit Ingvar und Hermodr durch die Tür schlüpfte. Als Thea folgen wollte, hielt Wal-Freya sie zurück: „Du nicht!“
„Was? Aber …“
Mit einem tiefen Seufzen schob Wal-Freya den Stuhl an den Tisch. „Du kannst später noch mit ihnen feiern. Schließ die Tür, wir müssen reden.“
„Kriegst du die denn wieder auf?“, fragte Thea mehr, weil es sie zu ihren Freunden zog, als dass sie befürchtete, Wal-Freyas Zauber könnte versagen.
„Was glaubst du wohl? Los!“
Nun war es Thea, die seufzte. Sie schloss die Tür und setzte sich zurück an den Tisch. Wal-Freya blieb stehen, während sie ihren Blick an Thea vorbei auf die Wand gerichtet hielt. Anscheinend suchte sie nach Worten - etwas, das nicht oft vorkam.
Endlich holte Wal-Freya Luft. „Euch drei alleine nach Hel zu schicken bereitet mir Unbehagen. Der Gjöll ist ein reißendes Gewässer. Wo immer euch dieser geheime Pfad hinführt, früher oder später müsst ihr den Fluss überqueren.“
„Im Beinahe-Ertrinken habe ich schon ein paar Erfahrungen gesammelt“, scherzte Thea.
Ein Schmunzeln huschte über Wal-Freyas Lippen. „Deshalb mache ich mir ja Sorgen! Ich denke nicht, dass Skidbladnir kentern wird, aber bei euch weiß man nie, was ihr als Nächstes anstellt. Wenn ihr in den Gjöll fallt, seid ihr verloren.“
Thea zog eine Augenbraue hoch. „In Midgard würden sie dir nie die Leitung über ein Motivations-Seminar überlassen.“
Wal-Freyas Blick bohrte sich tief in Theas Augen. „Mir ist es wichtig, dass du dir deiner Verantwortung bewusst bist. Du wirst nicht nur auf dich, sondern auch auf deine Freunde aufpassen müssen. Für Juli sind die meisten Dinge einfach. Im Gegensatz zu dir kam sie mit einem offenen Herzen nach Asgard. Es gibt nicht viele Dinge, die Juli Angst machen. Ich für meinen Teil bin mir noch nicht sicher, ob das eine Gabe oder ein Fluch ist. Ich würde mir wünschen, dass sie viel öfter nachdenkt, bevor sie handelt. Das wirst du aber kaum erleben. Du musst das für Juli tun.“
Thea lächelte in Gedanken an ihre Freundin. „Sie war schon früher so. In ihrem alten Leben als Trym, meine ich.“
Wal-Freya nickte langsam. „Das wird ein Grund dafür sein, warum sie sich so gut mit Thor versteht. Eine treuere Freundin als Juli wirst du nie finden. Sie würde für dich durchs Feuer gehen. Ich weiß zu wenig von Tom, leider hatte er in Jötunheim kaum Gelegenheiten, sich zu beweisen. Aber er hat das Herz eines Bären, wenn es darum geht, dich zu beschützen.“ Sie machte eine Pause und sah Thea lange an. Für einen Moment glaubte Thea, dass der Walküre etwas auf der Zunge lag, doch was immer es auch war, sie sprach es nicht aus. „Du bist die Anführerin dieser kleinen Gruppe. Du bist diejenige, die das Seidr beherrscht, du trägst das Flammenschwert. Dir obliegt die Verantwortung für deine Freunde. Umso wichtiger ist es, dass du jetzt ganz genau zuhörst. Es ist zu früh für dich, trotzdem möchte ich, dass du lernst, die Runen zu binden, mit denen du zauberst.“
Thea schnaufte. „Du willst, dass ich die Magie der Binderunen erlerne? Jetzt?“
Ein gequälter Gesichtsausdruck begleitete die nächsten Worte der Walküre. „Ich wollte dir das alles während unseres Weges lehren. Dieser trennt sich jetzt.“ Sie lächelte. „Hab keine Furcht. Magie ist immer anders. Oft geht es einfach nur darum, zu improvisieren. Mit der Zeit fühlst du die Runen, du überlegst nicht, du bedienst dich ihrer einfach. Aber so weit bist du noch nicht, dir fehlt die Übung. Für deine Reise will ich dir zwei starke Zauber mitgeben. Du kennst die Bedeutung der Runen, durch ihre Bindung erweiterst du nur deine Möglichkeiten und verstärkst jeden Wunsch um ein vielfaches.“
Thea seufzte. „Wir haben Energiebeherrschung lange mit Kyndill probiert. Ich glaube nicht, dass ich schon so weit bin.“
Wal-Freya lief um den Tisch auf Thea zu. Aufmunternd zwinkerte sie ihr zu. „Wahrscheinlich brauchst du nur ein bisschen Druck. So. Nun pass auf. Als Erstes zeige ich dir, wie man Menschen vor dem Ertrinken bewahrt.“