Читать книгу Die Midgard-Saga - Jötunheim - Alexandra Bauer - Страница 10
2. Kapitel
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Alle Farben waren aus Frau Helmkens Gesicht gewichen. Der einzige Laut, der die Küche erfüllte, war das Rauschen von Kyndills Flammen. Gebannt verfolgte Tom das Geschehen. Ihm war nicht anzusehen, was er fühlte oder dachte. Ebenso wie ihre Mutter starrte er auf Thea und das lodernde Schwert in ihren Händen.
Einzig Wal-Freya wirkte zufrieden. Sie lehnte an der Wand, die Arme verschränkt, und blickte stolz in die Runde.
„Du hast es vollendet. Es hat einen Griff“, stellte sie fest.
Thea nickte.
Ein Lächeln umspielte die Lippen der Walküre, als sie ihren Blick von Kyndill löste und zu Tom und Frau Helmken sah. „Eine wunderschöne Waffe, nicht wahr? Geschmiedet an einem Wikingerfeuer vor über 1500 Jahren. Ebenso lange war es verloren, blieb seine Zauberkraft unentdeckt. Nur Thea vermag es zu führen und vermutlich Loki. Jeder andere würde sich bei diesem Versuch unweigerlich verbrennen.“
Noch immer waren Tom und Frau Helmken keiner Worte fähig. Seufzend steckte Thea das Schwert zurück in die Tasche, packte den Fotoapparat dazu und schloss sorgsam den Deckel, ehe sie diese wieder über die Schulter warf.
„Thea ist Hüterin des Schwerts. Sie allein ist dafür verantwortlich, dass es nicht in falsche Hände gerät.“
Endlich löste Tom die beklemmende Stimmung auf: „Wahnsinn! Warum hast du das nie erzählt?“
Während Thea die Augenbrauen hob und zu einer Antwort ansetzte, stand ihre Mutter auf.
„Weil ich es ihr verboten hätte!“, sagte sie zornig.
„Das ist nichts, das du hättest entscheiden können“, erwiderte Wal-Freya, ehe Thea sich zu erklären vermochte.
„Warum ausgerechnet sie? Sie ist noch ein Kind!“, rief Frau Helmken.
„Sie ist eine junge Frau“, widersprach Wal-Freya ruhig. „Außerdem hatten weder sie noch wir eine Wahl. Thea war es, die das Schwert einst schmiedete und mithilfe Lokis in eine magische Waffe verwandelte.“
Frau Helmken schnappte nach Luft. „Was? Wann?“
„In einem anderen Leben, vor sehr langer Zeit. Thea mag eine junge Frau sein, aber ihre Seele hat viel erfahren. Zwei ihrer vergangenen Leben haben wir Thea gezeigt. Aber es sind nicht ihre einzigen.“
„Das ist doch absurd! Völlig unmöglich!“
„So unmöglich, wie ein Feuerschwert zu besitzen?“
Wal-Freya trat auf Thea zu und legte den Arm um sie. „Sie hat in unserem letzten Abenteuer bewiesen, dass sie eine großartige Kämpferin ist, des Schwerts und ihrer Aufgabe würdig.“
„Das hört jetzt auf!“, entschied Frau Helmken.
Ein Lächeln huschte über Wal-Freyas Lippen. „Ich verstehe deine Besorgnis, Mirjana. Aber es wird nicht aufhören, so sehr du auch darauf pochst. Thea hat einen göttlichen Auftrag erhalten und sie hat ihn angenommen. Darüber hast du nicht zu entscheiden.“
„Bist du deshalb hier? Um mir das zu sagen? Glaubst du, mir wird es besser gehen, wenn ich es weiß? Ihr bringt meine ganze Familie in Gefahr! Ich werde mein Leben lang kein Auge mehr zutun.“
„Sie hat recht! Was bezweckst du damit?“, rief Thea sie in der Gedankensprache an.
Wal-Freya hob die Hand in Theas Richtung. Dabei ließ sie Frau Helmken nicht aus den Augen. „Ich erzähle dir das, damit du weißt, wo Thea ist. Als wir dich das letzte Mal im Unwissen gelassen haben, hat deine Sorge Dinge entfesselt, die ich diesmal von Thea fernhalten will. Ich möchte nicht, dass Thea wieder in Schwierigkeiten gerät, wenn sie zurückkommt. Damals musste unser Vorhaben unentdeckt von Loki bleiben. Nur darum nahmen wir sie mit, ohne jemanden zu informieren. Verschwiegenheit ist jetzt nicht mehr nötig.“
Frau Helmkens Augen waren mit jedem Wort, das
Wal-Freya sprach, größer geworden. „Was soll das heißen, wenn sie wieder zurückkommt?“, fragte sie atemlos.
„Fenrir ist frei. Wir wissen noch nicht, was das zu bedeuten hat. Aber wir sind sehr beunruhigt. Ganz Asgard ist auf der Suche nach ihm. Thea hat sich schon einmal als wertvolle Hilfe erwiesen. Darum möchten Tyr und ich, dass sie uns begleitet.“
„Das verbiete ich!“, rief Frau Helmken. „Thea, du gehst sofort in dein Zimmer und Sie …“, ihr Finger richtete sich auf Wal-Freya, „verlassen augenblicklich mein Haus.“
„Mirjana, ich verstehe deine Sorge …“, lenkte Wal-Freya ein, doch Frau Helmken hatte sie schon unterbrochen.
„Ich sagte raus!“, rief Frau Helmken. Nun war ihr Finger auf die Tür gerichtet.
Mit einem Mal war sie da, die Kriegerin und unnahbare Anführerin der Walküren. Mit verhärtetem Blick und einem Ton, der an der Endgültigkeit ihres Entschlusses nicht zweifeln ließ, verschränkte sie die Arme. „Du sprichst mit einer Göttin, Mirjana. Ich nehme Thea mit! Das werden wir nicht diskutieren!“
Rote Flecken bildeten sich auf Frau Helmkens Hals. „Ich rufe jetzt deinen Vater an!“, brauste sie auf, stürzte in den Flur und kam mit dem Telefon in der Hand zurück. Schon tippte sie die Nummer.
„Ich hätte dir gleich sagen können, dass das schief geht“, sagte Thea. Beunruhigt sah sie zu Wal-Freya.
„Ihr Glaube ist jetzt sehr groß. Ich könnte einen Zauber wirken“, schlug Wal-Freya etwas ratlos vor.
„Nein!“, rief Thea unwillkürlich.
„Oh doch, Liebes!“, erwiderte Frau Helmken, da sie glaubte, Thea habe mit ihr gesprochen.
„Mama bitte! Was soll das bringen? Willst du Papa erzählen, die nordische Liebesgöttin würde an deinem Frühstückstisch sitzen und möchte deine Tochter mit nach Asgard nehmen?“
„Gerade steht sie“, kommentierte Tom trocken. Als er sich unversehens von drei Augenpaaren gefesselt sah, hob er entschuldigend die Hände.
Frau Helmken donnerte das Telefon auf den Tisch. „Was soll ich stattdessen tun? Dich mit ihr gehen lassen? Allein der Gedanke daran dreht mir den Magen um.“
„Warum holen sich Götter überhaupt Hilfe von einem Menschen? Ich meine, ihr seid Götter! Was kann ein Mensch, was ihr nicht könnt?“, fragte Tom.
Seufzend presste Wal-Freya die Lippen zusammen. „Machst du mir noch einen Kaffee?“, bat sie Thea und nahm kurzerhand wieder am Tisch Platz. Frau Helmken folgte ihrem Beispiel. Während Thea sich an der Kaffeemaschine zu schaffen machte, ließ Frau Helmken die Walküre nicht aus den Augen. Erst als Thea die Tasse vor Wal-Freya abstellte und sie ihrer Mutter ebenfalls ein Getränk anbot, hob sie den Blick und schüttelte mit dem Kopf.
„Ich würde einen Kaffee nehmen“, meinte Tom.
Ein weiterer Kaffee lief durch die Maschine und Thea stellte die Tasse vor Tom ab.
Wal-Freya beobachtete geduldig, wie Thea das Wasser der Maschine auffüllte und sich nun selbst einen Macchiato bereitete.
„Ich hoffe, du weißt, dass ich diese Scharade nur dir zuliebe spiele. Ein kleiner Zauber und wir könnten sofort los!“, hörte Thea die Walküre in ihrem Geist.
„Ja, ich weiß. Ich danke dir.“
„Nun … Tom“, holte Wal-Freya das Gespräch zurück. „Es ist nichts Ungewöhnliches daran, dass sich Götter Hilfe von Menschen holen. Ich bin nicht nur Freya, die Liebesgöttin. Ich bin die Oberste der Walküren und als jene als Wal-Freya bekannt. Seit Jahrhunderten führen wir die tapfersten Krieger nach Walhall oder Sessrumnir. Die Menschen werden es sein, die uns in der letzten Schlacht beistehen. Wir nennen sie Einherjer. Ihr Menschen seid viele und für den Schutz, den wir euch gewähren, kann man hin und wieder auch eine Gegenleistung verlangen.“
„Schutz?“
„Vor den Riesen. Siehst du welche hier in Midgard?“
Tom lachte, worauf Wal-Freya die Tasse auf den Tisch stellte und ihn finster ansah. „Da gibt es nichts zu lachen! Die Asen haben die Riesen zum Schutz der Menschen in die äußersten Winkel der Welt verbannt. Vor allem Thor hält sie von Midgard fern.“
Toms Miene erhellte sich. „Der mit dem Hammer?“
Seufzend rollte Wal-Freya die Augen. „Ja! Der mit dem Hammer!“
Thea spürte, dass Wal-Freya allmählich die Geduld verlor. „Das kann er alles nicht wissen“, setzte sich Thea für ihn ein.
„Ich weiß“, erwiderte Wal-Freya abermals seufzend. Sie nippte an ihrem Kaffee. „Thea ist Hüterin Kyndills, einer sehr mächtigen, magischen Waffe. Auch deshalb ist es nicht ungewöhnlich, ihre Hilfe in Anspruch zu nehmen. Um Fenrir zu fangen, werden wir alle Kräfte bündeln müssen. Er ist sehr gefährlich und stark.“
„Noch mehr Gründe, die dagegen sprechen, Thea auf diese Reise zu lassen“, meldete sich Frau Helmken wieder zu Wort.
„Wer ist dieser Fenrir überhaupt?“, lenkte Tom wiederholt ein.
Wal-Freya richtete ihren Blick in eine Ecke des Raumes, so als könne Fenrir jeden Moment aus dem Winkel springen. Den Blick wieder auf Tom gerichtet, antwortete sie geduldig: „Er ist ein Balg Lokis, eine Bestie in Gestalt eines Wolfes, groß und unsagbar gefährlich. Die Völva sagte voraus, dass es Fenrir sein wird, der Odin einst töten wird. Deshalb banden wir ihn mit einem magischen Faden auf der Insel Lyngwe fest. Er hätte sich niemals befreien dürfen, aber er hat es geschafft.“
Tom rümpfte die Nase und wühlte dabei in seinen Haaren. „Ihr verurteilt ein Wesen aufgrund einer Prophezeiung und bevor es überhaupt eine Straftat begangen hat? Ich dachte immer, Götter seien so gerecht. Was ist das hier? Minority Report?“
„Es steht dir nicht zu, unsere Taten zu verurteilen. Wenn wir Ragnarök nicht verhindern, werden nicht nur die Asen sterben, ganz Midgard wird vernichtet!“
„Das ist doch keine Aufgabe für ein Mädchen!“, beharrte Frau Helmken.
„Und wo wollt ihr ihn finden?“, fragte Tom, Frau Helmkens Einwand ignorierend.
„Seine Spur führte direkt nach Midgard.“
„Nach Midgard?“, schnappte Thea.
Wal-Freya antwortete mit einem Nicken. „Thor, Freyr, Magni und Modi suchen ihn bereits seit Tagen. Bisher ohne Erfolg.“
„Wo?“
„Im äußersten Zipfel des Landes, das ihr Norwegen nennt. Hier gibt es genug Wildnis für ihn, um sich zu verstecken.“
„Das wäre ja nicht so weit weg“, brummte Thea in die Richtung ihrer Mutter.
Tom hob die Hand. „Moment, das verstehe ich nicht. Habt ihr nicht erzählt, dass der Wolf in Asgard ausgerissen wäre?“
„Er ist über Bifröst, die Regenbogenbrücke zwischen unserer und eurer Welt, gereist. Heimdall und Thor hatten seine Spur bereits aufgenommen, ihn aber dann in den Fjorden verloren.“
„Und was will er ausgerechnet in Midgard? Hier ist doch nichts!“
Wal-Freya blickte verblüfft. „Wie meinst du das?“
„Tom hat recht. Wenn mich jemand über Jahrhunderte gefangen gehalten hätte, würde ich nicht nach sonst wo fliehen, ich würde versuchen nach Hause zu kommen“, stimmte Thea zu.
„Sein Vater ist Loki und der hat kein Zuhause, er ist selbst auf der Flucht. Und Fenrir wohnte vor seiner Gefangenschaft in Asgard. Er hat also kein Zuhause, zu dem er fliehen kann. Wir haben ihn schon als Kind nach Asgard …“ Wal-Freya stockte. Ihre Augen bewegten sich unter finster zusammengezogenen Brauen von einem zum anderen. „Angrboda“, raunte sie.
„Angrboda? Was ist das?“, fragte Tom.
„Wer!“, verbesserte Thea. „Sie ist Fenrirs Mutter.“
„Aber seine Spur verlor sich doch hier“, murmelte
Wal-Freya. Jeder am Tisch konnte sehen, dass ihre Gedanken gerade Achterbahn fuhren.
„Vielleicht ist es eine falsch gelegte Spur“, setzte Tom nach.
„Wir werden das mit Odin besprechen!“, beschloss
Wal-Freya.
Thea nickte bestätigend. Schon meldete sich Frau Helmken zu Wort. Thea hatte völlig vergessen, dass sie noch keine Zustimmung gegeben hatte.
„Ohne Thea! Wenn ihr etwas zustößt!“, rief sie.
Thea holte augenblicklich Luft, nicht um zu widersprechen, sondern um Wal-Freya an einer Antwort zu hindern, die einen Blick aufgesetzt hatte, der nichts Gutes verhieß. Die Walküre verlor die Geduld, das konnte Thea deutlich erkennen. Wal-Freya war schneller und entgegnete ungerührt: „Ich bin sicher, dass meine Walküren sie im Falle ihres Todes gerne nach Sessrumnir bringen.“
Frau Helmken wurde kreidebleich. Schon sprang sie vom Stuhl, packte Theas Handgelenk und versuchte, ihre Tochter mit sich zu ziehen. Im gleichen Moment, da Thea sich gegen ihre Mutter stemmte, stand auch Wal-Freya auf. Schon hatte die Göttin ihre Handfläche gegen Frau Helmkens Stirn gepresst. Diese fiel zurück auf den Stuhl und sackte bewusstlos in sich zusammen. Thea riss die Augen auf. Starr beobachtete sie, wie sich die Walküre zurück in ihren Stuhl setzte und nach der Kaffeetasse griff, während ihre Mutter in ihrer unglücklichen Position verharrte.
„Jetzt können wir uns in Ruhe unterhalten“, verkündete Wal-Freya ungerührt.
„Was … was hast du mit ihr angestellt?“, stotterte Thea.
„Schlafzauber, würde ich sagen“, vermutete Tom.
„Ganz richtig. Thurisaz setzt einen Elefanten außer Gefecht. Thea, so funktioniert es nicht! Deine Mutter wird dich niemals gehen lassen. Da helfen auch keine gut gemeinten Erklärungen.“
„Ich fasse nicht, was du getan hast!“, ächzte Thea.
„Bist du eine Zauberin?“, fragte Tom interessiert.
Wal-Freya nickte nur. „Wenn ich meinen Kaffee ausgetrunken habe, können wir los, Thea. Zieh dich um!“
„Was? Und meine Mutter?“
„Sie wird nicht versuchen, dich aufzuhalten“, erwiderte Wal-Freya und machte eine selbstgefällige Geste in Frau Helmkens Richtung.
„Aber …“ Sie sah zu ihrer regungslosen Mutter. „Das können wir doch nicht machen!“
„Sie weiß alles, was sie wissen muss. Nach Asgard wird sie die Polizei nicht schicken. Wenn du wieder zurück bist, kann sie dich nicht verantwortlich machen.“
„Und wann wacht sie wieder auf?“
Wal-Freya zuckte mit den Achseln. „Keine Ahnung. Diesen Zauber habe ich bisher immer nur bei Riesen eingesetzt – und randalierenden Kriegern in Sessrumnir. Die schlafen meistens zwei Tage. Aber das kann auch vom Met kommen.“
Thea hatte das Gefühl, der Boden würde sich vor ihr auftun. „Du machst Witze!“, rief sie. Aber als sie in die Augen der Walküre blickte, wusste sie, dass sie ganz und gar nicht scherzte.
„Ich komme mit!“, mischte sich Tom ein. „Ich kann helfen!“
„Wenn wir dich mitnehmen, bist du der nächste, wegen dem die Polizei gerufen wird“, wehrte Wal-Freya ab.
„Den Ärger riskiere ich gerne“, erwiderte Tom.
Die Walküre schüttelte den Kopf. „Wir haben keine Zeit, dich mit Erfahrungen aus vergangenen Leben zu füttern. Außerdem weiß ich weder, wie alt deine Seele ist, noch ob diese irgendwelche Kampferfahrungen hat. Was, wenn du eine Balletttänzerin warst?“
Tom öffnete empört den Mund, während Thea amüsiert kicherte.
„Ich wette, ich habe dich in weniger als fünf Handgriffen geschlagen!“, versetzte Tom. Herausfordernd stand er auf und fixierte Wal-Freya mit seinem Blick.
„Ich hab dich gern, Tom. Aber mach dich nicht lächerlich. Hast du vergessen, mit wem du am Tisch sitzt?“
Tom biss sich auf die Lippe. „Weniger als fünf Handgriffe!“, wiederholte er.
„Das könnte gelingen“, stimmte Thea zu. „Wenn du nicht zauberst! Das wäre unfair!“
Wal-Freya hob die Augenbrauen. „Du bist nicht bei Sinnen, Thea!“
„Angst?“, fragte Tom herausfordernd.
„Nun wirst du frech“, erwiderte Wal-Freya warnend, aber mit einem leichten Anflug von Erheiterung.
„Bitte Wal-Freya! Gib ihm eine Chance! Nicht mit dem Schwert, einfach nur mit ein paar Stöcken!“
„Wenn er dir so sehr am Herzen liegt, solltest du dafür sorgen, dass er sich diese Idee aus dem Kopf schlägt. Ich könnte dir nie wieder unter die Augen treten, wenn ihm etwas zustößt!“
„Ich will zeigen, was ich kann!“, beharrte Tom.
Mit einem Seitenblick auf ihre Mutter stand Thea auf. Im Schirmständer fanden sich immer allerlei Stöcke, die Mats auf seinen Sparziergängen mitnahm. Sie suchte zwei halbwegs passende Stäbe heraus, ging zurück in die Küche und übergab einen an Tom. Als sie den anderen Wal-Freya reichen wollte, schüttelte sie den Kopf. „Es wird niemals fair, Thea, und das weißt du.“ Sie nahm den Stock, erhob sich gelangweilt und nahm Aufstellung.
Sie wog den Stock in den Händen. „So kann ich dir wenigstens nicht wehtun.“
„Wollt ihr nicht irgendwo hin, wo mehr Platz ist?“, frage Thea.
„Für fünf Handgriffe? Wohl kaum“, erwiderte Wal-Freya und hob den Stock in Toms Richtung. „Bereit?“, fragte sie.
Tom nickte und kaum dass er sein Einverständnis gegeben hatte, holte Wal-Freya aus und führte einen Schlag in Richtung Toms Kopf. Dieser blockte Wal-Freyas Stock mit dem eigenen ab. Zeitgleich führte er die linke Hand auf ihre Schwerthand, lenkte ihren Arm nach unten, führte mit der Bewegung seine Waffe über die von Wal-Freya und klemmte ihren Stock dabei zwischen seinen Schwertarm und seinen Körper. Noch ehe die Walküre sich versah, hatte Tom die freie Hand an ihrem Ellenbogen, drehte sich mit der Bewegung hinter sie und drückte sie zu Boden. Sofort ließ er wieder von ihr ab und trat zwei Schritte zurück.
Wal-Freya richtete sich verblüfft auf, vergaß aber nicht, Thea einen vernichtenden Blick zuzuwerfen, als diese Beifall klatschte.
„Ich habe dich unterschätzt“, sagte die Walküre hoch aufgerichtet.
„Er macht Escrima“, erklärte Thea.
„Was auch immer“, brummelte Wal-Freya. „Mach mir noch einen Kaffee, Thea, und dann zieh deine Sachen an! Wir müssen los!“
„Aber …!“
„Los!“
„Glaubst du, es wird schon wieder kalt?“, widersetzte Thea sich.
„Ausziehen geht immer! Los jetzt!“
Gehorsam nahm Thea die Tasse vom Tisch, stellte sie unter den Auslauf und wartete, bis das Gefäß gefüllt war. Wal-Freya zog sich den Stuhl heran, nahm Platz und musterte Tom, der abwartend stehen geblieben war.
„Setz dich“, lud ihn Wal-Freya ein.
Tom nahm Platz. Die Spannung in der Küche war kaum noch zu ertragen. Thea knetete unwillkürlich die Finger.
„Du sollst dich umziehen gehen!“, erinnerte die Walküre.
„Werden wir ihn mitnehmen?“
Wal-Freya hob das Kinn. „Es waren sechs Handgriffe, die er benötigt hat“, wehrte sie ab.
Tom richtete sich empört in seinem Stuhl auf. Schon hob Wal-Freya die Hand. „Aber wir nehmen ihn trotzdem mit. Er gefällt mir. Ich will sehen, was er noch so drauf hat.“ Sie warf Thea einen vielsagenden Blick zu. „Außerdem spüre ich doch, wie sehr er dir am Herzen liegt.“
„Hör auf! Das ist peinlich! Zwischen uns ist nichts. Er ist ein guter Freund!“, rief Thea. Ihrer Bitte schickte sie einen energischen Blick nach.
Wal-Freya lachte. „Ach ja? Und warum ist er dir so wichtig? Du denkst nicht eine Sekunde lang an Juli!“
Verblüfft vergaß Thea, in der Gedankensprache zu bleiben. „Was? Ich denke Juli kommt so oder so mit!“, rief sie.
„Ich hätte sie mitgenommen, doch sie ist nicht hier“, widersprach Wal-Freya.
„Was?“
„Geh! Sonst bleibt Tom der einzige, den ich mit mir nehme!“
Thea stampfte mit den Füßen. „Das ist nicht fair!“
Wal-Freya kniff ein Auge zu. Schnaubend wandte sich Thea um. Ihre Tritte hallten laut durch den Flur, als sie in ihr Zimmer stapfte. Unter dem Bett zog sie eine Kiste heraus. Darin lagen sorgsam zusammengelegt unter einem Bündel Kleider versteckt Brünne, Kettenhemd, Arm- und Beinschienen und das Schwert, das sie damals von Sigrún bekommen hatte. Sie entschied sich gegen die langen Unterhosen und zog nur die Fellhose an. Allein mit diesem Kleidungsstück begann sie schon, zu schwitzen. Sie legte die Wollhose zur Seite und stieg in die Stiefel. Auch die Felljacke packte sie erst einmal zur Seite, zog stattdessen ein Longsleeve an und schlüpfte dann in das Kettenhemd. Mit jedem Kleidungsstück, das sie anlegte, begann sie sich besser zu fühlen. Sie verspürte Aufregung, Angst, aber auch unsagbare Freude. Seit sie aus Asgard zurückgekehrt war, verging kein Tag, an dem sie nicht an Wal-Freya, Thor und das hinter ihnen liegende Abenteuer gedacht hatte. Lange glaubte sie, sie würde die Asen nie wieder sehen. Mit den Erinnerungen ihrer beiden Leben bestückt und dem Wissen um die Götter fühlte sie sich in ihrem gewöhnlichen Leben oft einsam und deplatziert. Nun war Wal-Freya wieder Teil dieses Lebens und sie war unendlich dankbar dafür.
„Wie lange brauchst du noch? Dein Tom fragt mir Löcher in den Bauch. Er ist schlimmer als Juli“, hörte Thea Wal-Freya in ihrem Geist.
„Er ist nicht mein Tom!“, beharrte Thea. „Es dauert nicht mehr lange!“ Umständlich schloss sie den Brustpanzer und legte sich schließlich die Beinschienen an. Erst dann folgten Armschienen, Brünne und zu guter Letzt der Umhang. Auch die Tunika legte sie erst einmal zu den Sachen, die sie mitnehmen würde. Lange betrachtete sie den Köcher. Schließlich öffnete sie ihn, holte Kyndill heraus, steckte das lodernde Zauberschwert statt der alten Waffe in die Scheide und band es sich um die Hüften. Auf diese Weise würde sie es schneller zur Hand haben. Eine Weile überlegte sie, ob sie die alte Waffe ebenfalls mitnehmen sollte, entschied sich aber dagegen. Stattdessen steckte sie das Schwert in den Köcher und schob es zusammen mit der Kiste wieder unters Bett. Kaum auf dem Weg nach unten, blieb sie noch einmal stehen, nahm das Handy in die Hand, tippte eine Nachricht an Juli und legte es zurück auf den Schreibtisch. Mit einem Bündel unter dem Arm und dem Brillenhelm in der Hand kam sie zurück in die Küche.
Tom wandte sich halbherzig nach ihr um und hatte den Blick schon wieder halb auf Wal-Freya gerichtet, da sprang er von seinem Stuhl und drehte sich in der Bewegung. „Wooow“, stieß er aus. „Du siehst … wahnsinnig gut aus!“
„Danke.“ Thea lächelte stolz.
„Ist das echt?“ Er trat auf sie zu und betastete den Saum des Kettenhemds.
„Klar ist es echt.“ Thea lachte.
„Es ist von den Walküren. Was glaubst du, was es ist?“, erwiderte Wal-Freya. Sie stand auf und schob die Tasse zur Tischmitte. „Warte nur, bis wir in Wallhall sind. Da werden wir dich auch zu einem richtigen Krieger kleiden.“
Thea runzelte die Stirn. „Wallhall?“
„Odin hat sich in Wallhall in Sicherheit gebracht. Wir haben alle darauf bestanden.“
„Wallhall“, wiederholte Tom fasziniert.
Wal-Freya lief voran. Auf halben Weg zum Ausgang rief Thea sie zurück.
„Was ist mit Mutter? Wir können sie doch nicht so sitzen lassen!“
Wal-Freya blieb stehen und wandte sich überrascht um. „Das ist schon in Ordnung.“
„Aber … Was wenn sie umkippt? Ich möchte nicht, dass sie sich verletzt.“
„Wir können sie doch auf die Couch legen“, schlug Tom vor.
Wal-Freya zuckte mit den Schultern. „Wenn’s sein muss. Aber ich denke nicht, dass sie fällt.“
Während die Walküre im Flur wartete, lief Tom zurück. Thea stand bereits hinter ihrer Mutter und fasste sie unter den Armen. Rasch kam Tom heran und griff sie seinerseits an den Knien. Gemeinsam rückten sie den Stuhl herum und auf drei hoben sie Frau Helmken an. Verdutzt hielten sie inne. Frau Helmken war steif wie ein Stock. Sie war gerade so erstarrt, wie sie gesessen hatte.
„Wal-Freya?“, rief Thea ängstlich.
Die Walküre erschien im Türrahmen.
„Schau nur!“, forderte sie Thea auf.
„Das kommt schon mal vor“, sagte Wal-Freya abwehrend. „Legt sie auf die Couch. Wenn sie aufwacht, wird sie wieder ganz normal sein.“
Begleitet von einem tonnenschweren Gewissen trug Thea ihre Mutter ins Wohnzimmer.
„Musste das denn wirklich sein, dass du sie wieder verzauberst?“, fragte Thea.
„Sie hätte dich nicht gehen lassen“, erwiderte Wal-Freya ohne eine Spur von Reue.
Sie hoben die Mutter aufs Sofa und lehnten sie mit den angewinkelten Beinen gegen die Rückenlehne. So wollte Thea verhindern, dass sie möglicherweise doch fallen könnte. Ihre Mutter in dieser Lage zu sehen, bereitete Thea Magenschmerzen. Morgen würde sie arbeiten müssen. Wer würde sie entschuldigen? Was, wenn ihre Starre doch länger dauerte als angenommen? Ihr Vater war weit weg. Bald würde er sich Sorgen machen.
„Ich spüre deine Gefühle“, sprach Wal-Freya sie in der Gedankensprache an.
„Sie ist so ein wundervoller Mensch, die beste Mutter, die man sich wünschen kann und die ich jemals hatte. Ich fühle mich nicht gut dabei, sie so zu hintergehen“, erwiderte Thea.
Wal-Freya seufzte tief. Sie kniete neben der Couch nieder, malte eine Rune auf Frau Helmkens Stirn und hob dann die Hand darüber. Während sie Worte in einer fremden Sprache murmelte, bildete sich rosa Nebel unter ihren Fingern, der sich schließlich senkte, um Frau Helmkens Augen und Nase waberte und mit ihrem nächsten Atemzug verschwand. Langsam streckten sich ihre Beine, ihr Brustkorb hob und senkte sich unter tiefen Atemzügen.
Wal-Freya stand auf. „Jetzt schnell. Es wird nicht lange brauchen, bis sie erwacht.“
Thea küsste ihre Mutter sanft auf die Stirn, verabschiedete sich und eilte Wal-Freya und Tom nach. Mit einem letzten Blick zurück zog sie die Haustür zu.