Читать книгу Die Midgard-Saga - Jötunheim - Alexandra Bauer - Страница 12
3. Kapitel
ОглавлениеIm Dämmerlicht des anbrechenden Tages liefen Thea, Tom und Wal-Freya durch die Straßen, geradewegs auf den Park zu, in dem sich Thea und Wal-Freya das erste Mal begegnet waren. Der Katzenwagen der Walküre stand zwischen einer Ansammlung von hohen Kastanien. Schon von Weitem erkannte Thea Bygul und Trjegul, die beim Näherkommen der Walküre aufgeregt maunzten. Tom folgte Wal-Freya dicht auf dem Fuß, Thea allerdings verharrte für einen Moment. Neben den Katzen machte sie weitere Tiere aus. Sie lagen vor einem zweiten, roten, mit goldenen Knotenmustern verzierten Streitwagen und hoben aufmerksam die Köpfe. Es waren zwei Wölfe. Einer von ihnen besaß Fell schwarz wie die Nacht, nur um seine Nase reihten sich ein paar weiße Härchen. Hell und unheimlich stachen seine silbergrauen Augen hervor. Der andere, weiß wie Schnee und mit dunklen Augen und Nase, gab ein warnendes Knurren von sich. Neben den Tieren, an einem Baum gelehnt, stand eine behelmte Person. Links und rechts der Brillenmaske bändigten zwei braune Zöpfe das Haar, welches auf breite Schultern floss. Ein gestutzter Vollbart umrahmte Lippen und Kinnlinie. Die Pluderhose des Mannes war von den Knien ab bis zu den Stiefeln von einem groben Lederriemen zusammengerafft. Über einer dicken Tunika und unter einer kunstvollen Lederrüstung blitze ein Teil des kurzärmligen Kettenhemdes hervor. Vor dem Bauch baumelte ein Dolch, an der rechten Seite ein Schwert in einer verzierten Lederscheide. Die linke Hand des Mannes war von einem Lederhandschuh umschlossen und steckte in seinem Gürtel. Dort, wo die rechte Hand sein sollte, war nur ein Stumpf. Thea erkannte ihn wieder. Es war Tyr, Kriegsgott und Beschützer der Thing-Versammlung. Er löste sich aus seiner Position. Die blauen Augen hinter seinem Brillenhelm musterten Tom verdutzt.
„Juli hat sich sehr verändert“, kommentierte er trocken.
„Planänderung“, erwiderte Wal-Freya einsilbig. „Wir müssen nach Wallhall. Der Junge fährt mit!“
Sie sprang auf den Wagen und hob das Kinn auffordernd in Theas Richtung. Das warnende Knurren der Wölfe ließ Thea jedoch zögern.
„Psst! Das sind Freunde, Hugrakkir!“, erwiderte Tyr. Der schwarze Wolf schaute zurück, stand auf und wedelte verhalten mit dem Schwanz.
„Hallo Tyr“, grüßte Thea verzagt.
„Ich freue mich, Thea“, erwiderte der Kriegsgott. Seine Lippen umspielte ein Lächeln.
„Sind das deine Wölfe?“, fragte sie.
Tyr wog den Kopf. „Deine“, wiederholte er abwägend. „Sie sind ebenso wenig meine, wie ich der ihre bin. Wir sind Gefährten. Der schwarze ist Hugrakkir, der weiße Vinur.“
Thea erhob die Hand zu einem Gruß. „Hallo Hugrakkir und Vinur.“
Tyr lachte. Er trat vor die beiden Tiere und ging in die Knie. Als diese ihn mit Kopf und Pfote anstießen, wuschelte er ihnen das Fell.
„Wallhall? Wozu?“, fragte Tyr währenddessen und sah zu Wal-Freya, die die Zügel bereits in der Hand hatte.
„Tom glaubt, Fenrir sei nach Hause gelaufen …“
„Nach Wallhall?“ Tyr lachte. „Du bist von Sinnen, Wal-Freya!“
Die Walküre blickte finster. „Nicht nach Wallhall! Zu Angrboda, seiner Mutter. Wir müssen das mit Odin besprechen. Tom könnte recht haben.“
Tyr stand auf. „Und die Spur?“
„Vielleicht eine falsche Fährte!“, antwortete Tom.
Der Kriegsgott stieß einen abschätzenden Laut aus und betrachtete Tom mit einer Mischung aus Skepsis und Zustimmung.
„Zumindest würde es erklären, warum wir sie so plötzlich verloren haben“, erwiderte Wal-Freya und nahm die Zügel in die Hand.
Tyr seufzte tief. „Wer sollte dazu fähig sein?“ Kaum hatte er die Frage gestellt, weiteten sich seine Augen. „Nein! Unmöglich!“
Die Walküre winkte Thea ungeduldig heran. „Das Wort ,unmöglich‘ in den Mund zu nehmen und dabei gleichzeitig an Loki zu denken, ist ein Widerspruch, Tyr!“
Zögernd trat Thea an Wal-Freya heran, ohne dabei die beiden Wölfe aus den Augen zu lassen. Das Knurren der Tiere weckte Theas Argwohn. Aber sie schenkten ihr keine Beachtung mehr.
„Ich kann dieser Art zu reisen noch immer nichts abgewinnen“, verkündete sie, als sie auf dem Wagen hinter der Wanin stand.
„Es ist völlig ungefährlich“, versicherte Wal-Freya.
„Das wird an dem Gefühl trotzdem nichts ändern“, erwiderte Thea, umklammerte Wal-Freyas Taille und presste ihr Gesicht in deren Umhang.
„Ich fühle mich an Niflheim erinnert“, raunte die Walküre und tätschelte sanft Theas Hände.
Tom deutete staunend auf die Gespanne. „Wir fahren damit nach Asgard? Ich dachte, das liegt in den Wolken!“
„Du wirst dich noch wundern!“, prophezeite Thea. „Mach dich auf etwas gefasst! Es ist abartig!“
„Vielleicht lasse ich dich irgendwann einmal selbst fahren, dann wirst du sehen, dass gar nichts dabei ist“, versuchte Wal-Freya Thea aufzumuntern. Sie lachte und gab Bygul und Trjegul den Befehl, loszufahren.
Begleitet von einem Ruck sprangen die Katzen voran. Thea spürte das unangenehme Ziehen in ihrem Magen und packte Wal-Freya fester, worauf sich die Stimme der Walküre in ihrem Geist bemerkbar machte. „Vergiss bitte nicht, dass auch ich atme“, scherzte sie.
„Entschuldige!“, antwortete Thea und lockerte den Griff.
„Schau dich um, es ist nichts dabei“, forderte Wal-Freya sie auf.
„Ich hab das schon gesehen“, erwiderte Thea und kniff die Augen sogar noch fester zu. Alleine der Gedanke daran, die sich entfernende Erde zu beobachten, trieb ihr einen Schauer über den Rücken.
Wal-Freya lachte. „Du musst vergessen haben, wie schön es ist, die Welt von oben zu sehen. Los Bygul und Trjegul! Ihr wisst, dass Tyr schneller ist als wir!“
Thea hob ein Augenlid und öffnete rasch das zweite, als sie das Nordlicht vor dem schwindenden Nachthimmel entdeckte. Freude überkam sie. Es schien so lange her, dass sie die Winternächte mit diesem Anblick verbracht hatte. Nein! Es war lange her. Um genauer zu sein, viele Jahrhunderte. Wehmut überkam sie. Das Nordlicht mit all seinem Zauber und seiner Schönheit war stets ein Teil in ihrem Leben als Fengur gewesen. Das Zusammenspiel der grünen und roten Farben vor dem schwarzen Hintergrund zog sie in eine ferne Zeit, weckte Erinnerungen an längst vergangene Freunde und an eine Familie, die einst ihre eigene gewesen war. Was mochte aus ihnen geworden sein? Aus Geirunn, Fengurs Frau. Der Schmied hatte sie sein ganzes Leben lang vergöttert. Stolz war er auf seinen Sohn Hakon gewesen, der ihm später in der Schmiede half. Und da war noch Amma gewesen, seine kleine Tochter, die zu einer mutigen und tüchtigen Frau herangewachsen war. Enkel, die er liebte wie seine eigenen Kinder …
„Tu es nicht, Thea“, mahnte Wal-Freya und Thea, wie aus einem Traum von ihren Erinnerungen fortgezerrt, gab einen verblüfften Laut von sich.
„Ich spüre deine Traurigkeit! Sie ist alt. Sehr alt! Wir gaben dir die Erinnerungen an deine Leben zurück, damit du in den Kämpfen, die vor dir liegen, bestehen kannst, nicht, um dich mit Kummer zu strafen!“
Thea hob den Blick. Fengur kannte sich als Schmied in Waffentechnik aus. Bevor er seine Schwerter verkaufte, führte er sie erst selbst. Njal, der Mann, der sie in ihrem zweiten Leben war und den ihr die Nornen ebenfalls gezeigt hatten, war ein Kämpfer, der seinesgleichen suchte. Er hatte sein Können in vielen Schlachten bewiesen. Um ihr all diese Befähigungen in ihrem jetzigen Leben zu geben, war es unabdinglich gewesen, ihr die alten Erinnerungen zu zeigen, die ihr als Thea allenfalls in ihren Träumen gehören würden. Sie ermöglichten ihr, das Schwert zu führen, als hätte sie nie etwas anderes getan. Aber sie belasteten ihren Geist mit Sehnsucht und Traurigkeit, wenn sie an das, was sie verloren hatte, zurückdachte.
„Nur auf deine Fähigkeiten darfst du dich konzentrieren! Denke keinesfalls an die Menschen, die nicht mehr bei dir sind. Sie kehren nicht zurück! Du bist jetzt Thea, du hast eine neue Familie. Lass nicht zu, dass der Verlust der Vergangenheit dein Herz beschwert!“, mahnte Wal-Freya.
„Woher weißt du?“, fragte Thea verblüfft.
„Wir sind durch das Brisingamen miteinander verbunden“, erinnerte die Walküre. „Ich spüre deine Traurigkeit. Sie ist alt und schwer.“
Thea fuhr mit der Hand über das Amulett an ihrem Hals. Sie trug es nun viele Monate und bis vor ein paar Stunden hatte sie fast vergessen, wie mächtig es war. Das Amulett war ein Teil Brisingamens, einer Halskette, die einst Schwarzalben fertigten. Wal-Freya hatte die Kette stets vor neugierigen Blicken verborgen. Kein Mensch hatte das Brisingamen je erblickt, außer Thea. Nicht genug davon, hatte Wal-Freya ihr sogar ein Stück dieses magischen Gegenstands anvertraut. Brisingamen war ein Geflecht aus kleinen Amuletten, die mit verschiedenen Symbolen und Runen verziert waren. Theas Amulett zeigte drei Monde, die sich ineinander verflochten und die von einem Ring aus Knotenmustern umschlossen wurden.
„Geirunn … Wo ist sie?“, nahm Thea das Gespräch wieder auf.
„Nicht in Sessrumnir“, erwiderte Wal-Freya. „Sicher wirst du eines Tages die Antwort darauf finden. Aber nicht heute – und nicht morgen.“ Sie schnalzte mit der Zunge und rief den Katzen zu: „Schneller ihr zwei! Da kommen Hugrakkir und Vinur!“
Thea wandte den Blick zurück und erblickte die beiden Wölfe, hinter ihnen Tyr und Tom. Genauer gesagt erblickte sie nur einen der Wölfe. Hugrakkir bildete sich kaum vom dunklen Nachthimmel ab, nur sein Schatten, den er vor die Sterne und den Wagen malte, verriet, dass er da war. Wenige Augenblicke später raste Tyrs Wagen an Wal-Freya und Thea vorüber. Tom hob die Hand zum Gruß, umklammerte dann aber sofort wieder den Rahmen des Wagens und richtete den Blick nach vorn.
Wal-Freya folgte ihnen schweigend und Thea versuchte, ihre Gedanken in das Hier und Jetzt zu ordnen. Sie dachte an Juli, die sie bereits außerordentlich vermisste und sie dachte an ihre Mutter, die sicher krank war vor Sorge um sie. Sicher hatte ihr Wal-Freya keinen Gefallen damit getan, ihr zu verraten, wohin sie ihre Tochter mitnahm. Frau Helmken blieb diesmal nichts anderes übrig, als tatenlos um sie zu bangen. Keine Polizei, kein Aufgebot an Suchenden würde Thea zurückbringen können und diesmal wusste ihre Mutter das.
Irgendwann deutete Wal-Freya vor sich. „Schau, Thea! Asgard!“
Thea lehnte sich nach rechts und spähte an der Walküre vorbei. Weit und groß leuchtete das Plateau des Idafelds aus den Weiten des Himmels auf. Majestätisch bildete sich die Wurzel des Weltenbaums darauf ab, die sich weit über das Gras bis hin zum Brunnen der Nornen ausdehnte. Bifröst schwang sich bunt nach Midgard hinab und verlor sich zwischen einer Ansammlung von Wolken. Hinter all dem erhob sich die goldene Götterburg mit ihren Hallen, Türmen und Wegen. In einem Panorama, das einer Metropole glich, fügten sich die einzelnen Wohnorte zu einem einzigen Gebilde zusammen, in dem nur die reetgedeckten Dächer ein paar dunkle Tupfen malten. Auf der linken Seite der Götterburg erkannte Thea im Licht der aufgehenden Sonne Folkwang mit den Hallen Sessrumnirs. Wie auf Kommando erhoben sich von einer der Terrassen drei Pferde und mit wehenden Umhängen zogen die Reiter hinab in Richtung Midgard.
Wal-Freya lenkte den Wagen die Götterburg hinauf und flog über Gladsheim, Odins Wohnort, hinweg. Dahinter, auf der anderen Seite, verlor sich eine riesige Halle in einem Geflecht aus Ästen und Blättern. Anders als die reetgedeckten Säle war diese Halle von goldenen Schilden bedeckt, die unter dem Blätterdach hervorblitzten. Schlachtenlärm kroch von irgendwoher heran und wurde lauter, je näher Wal-Freya den Wagen in Richtung der goldenen Schilde lenkte. Aus einem Kamin in der Mitte des Hallendachs qualmte ein Feuer und trieb den Geruch von gesiedetem Fleisch heran. Schon tauchten Bygul und Trjegul zwischen den Ästen ab. Thea zog unwillkürlich den Kopf ein und kniff ein Auge zu. Doch die Äste mit den gefiederten Blättern strichen den Wagen so sanft, als würden sie ihn begrüßen wollen. Thea glaubte, eine Ziege in den Ästen springen zu sehen, dann war ihre ganze Aufmerksamkeit bereits auf das Geschehen unter ihr gerichtet. Auf einem weiten Feld fochten Krieger, teils zu zweit, teils in Gruppen, gegeneinander. Sie legten brüllend Kraft in ihre Hiebe, belachten jede zugefügte Wunde und ließen es trotzdem nicht am nötigen Ernst fehlen. Die Mehrzahl von ihnen waren Wikinger, deutlich zu erkennen an ihrer Gewandung und den Helmen. Unter sie mischten sich Soldaten verschiedener Epochen. Musketiere, Landsknechte und Gardisten. Alle kämpften jedoch mit Schwert, Speer, oder Axt. Von neuzeitlichen Waffen fehlte jede Spur. Einige Krieger hatten ihr Tun unterbrochen und sich um Tyrs Wagen versammelt. Kaum setzte Wal-Freyas Gefährt neben der Halle auf, scharten sich auch um sie etliche Schaulustige. Die linke Faust zum Gruß erhoben, huldigten sie die oberste der Walküren mit einem kehligen „Ho!“. Nachdem sich Thea vorgestellt hatte, wurde auch sie auf die gleiche Weise begrüßt. Beim Gebrüll der Männer zog sie unbeabsichtigt den Kopf ein und kniff leicht die Augen zu.
„Ich denke auch immer, dass sie in Walhall eine Spur rauer sind als in Sessrumnir. Das mag daran liegen, dass wir uns in Sessrumnir nicht jeden Tag zu Tode schlagen“, sprach Wal-Freya in ihren Geist.
„Auf jeden Fall sind sie lauter“, antwortete Thea gequält. Mit Staunen beobachtete sie Tom, der, kaum abgestiegen, bereits zwei Schwerter durch die Luft wirbelte und mit zustimmenden Lauten und Gesten Bewunderer fand. Im nächsten Augenblick schob sich ein breitschultriger Wikinger heran. Er sprach etwas zu Tom, nickte ihm zu und setzte seinen Helm auf. Tom hob die Arme und legte je ein Schwert auf seine Schulter. Schon hob der Wikinger seine Waffe und ließ sie auf Tom niederfahren. Dieser parierte den Schlag, lenkte die Klinge von sich weg und schwang das zweite Schwert in einer raschen Attacke in Richtung des Wikingerkopfes. Schnell reagierte der Nordmann, wehrte seinerseits den Schlag ab und führte ein paar Hiebe in Toms Richtung aus, die dieser zwar abwehren konnte, dabei aber zusehends in Bedrängnis geriet.
Wal-Freya seufzte hörbar und schüttelte den Kopf. Schnellen Schrittes näherte sie sich Tyrs Wagen und sah zu dem Kriegsgott hoch, der noch immer auf dem Fuhrwerk stand.
„Tyr?” Sie sprach seinen Namen lang und eindringlich, der offene Vorwurf schien ihn zu alarmieren.
„Sie wollten nur sehen, was der Neue kann“, verteidigte er sich.
Wal-Freya presste die Lippen zusammen. „Er wird noch genug Gelegenheit dazu finden, sein Können zu beweisen. Außerdem wird er nicht zum Abendessen von den Walküren wachgeküsst und wird nicht wieder aufstehen, wenn ihn jemand umbringt.“
„Du hast recht!“ Tyr nickte und rief Tom zu sich, ehe das Kräftemessen entschieden war.
Tom gab die Schwerter an einen Krieger zurück und kam näher. Erwartungsvoll sah er Tyr an. Der stieg nun endlich vom Wagen und begrüßte Tom mit einem leichten Schlag auf die Schulter.
„Gut gemacht, Junge!“, hob er fröhlich an.
Wal-Freya wedelte mit den Händen und scheuchte die umstehenden Krieger davon. „Geht euch wieder umbringen!“, forderte sie mit feinem Spott. „Vielleicht sind wir später noch da, dann könnt ihr mit Tom und Tyr trinken.“
Die Versammelten hoben grölend die Schwerter und mit neuer Begeisterung schlugen sie aufeinander ein. Wal-Freya lief auf das Gebäude zu und Tyr gesellte sich neben sie. Tom suchte Theas Nähe und knuffte sie übermütig auf den Arm.
„Das ist der Wahnsinn! Ich komme mir vor wie auf einem Mittelalterfest!“
Plötzlich fiel ein Kämpfender dicht neben ihnen von einem Schwertstreich getroffen vornüber und blieb leblos liegen. Tom verharrte fassungslos. Der Wikinger, der den tödlichen Schlag gesetzt hatte, riss die Arme hoch und johlte erfreut, da landete der Axthieb eines anderen in seiner Brust. Dem erstaunten Blick des Mannes auf die in ihm steckende Waffe folgte ein Lachen. Dann brach er zusammen.
„Unsere Mittelalterfeste sind aber nicht ganz so tödlich“, erwiderte Thea angewidert.
Tom stand eine leichte Blässe ins Gesicht. Den Blick fest auf die Szenerie gerichtet, war seine Stimme nur noch ein Flüstern: „Sie bringen sich … um!“
Thea klopfte ihrem Freund auf die Schulter. „Keine Sorge, sie sind längst tot! Heute Abend küssen die Walküren sie lebendig. Sie werden die ganze Nacht Met und Bier trinken, feiern und morgen schlagen sie sich von Neuem, bis nur noch einer übrig ist. Am nächsten Morgen beginnt das Spiel von vorn und so weiter und so weiter.“
„Tatsächlich?“
Thea schmunzelte leicht, wobei sie sich eingestehen musste, dass der Schauplatz auch ihr ein mulmiges Gefühl bereitete. Nur die Erinnerung an ihre alten Leben schwächte das grausige Bild der sich niederringenden Krieger. Als Njal hatte sie den Tod oft gesehen. Viele gute Männer, mit denen sie gekämpft hatte, wünschten sich damals nichts sehnlicher, als einen ruhmreichen Tod auf dem Schlachtfeld zu erleiden, damit sie von den Walküren nach Walhall getragen würden. Auch Krieger, die ihre Schwerter bei Fengur kauften, träumten von einem Leben in Walhall nach dem Schlachtentod. Für Tom, der noch nie zuvor in einem Gemetzel gekämpft hatte, musste es ein erschreckender Anblick sein.
„Das ist Walhall. Ich kann nicht ermessen, ob sich alle Krieger das Leben nach dem Tod so erträumt haben, aber die meisten meiner alten Weggefährten wünschten sich ein ganzes Leben lang nichts anderes, als einst hier zu sein.“
„Wie meinst du das?“, fragte Tom.
Es war Thea nicht mehr möglich zu antworten, denn Wal-Freya und Tyr blieben jäh stehen. Hoch und mächtig ragte ein zweiflügliges Tor vor ihnen auf. Jeder Flügel maß etwa 15 Meter in der Breite und war mindestens fünf Meter hoch. Ein riesiger, aus Holz geschnitzter Wolf, der über dem Tor angebracht war, streckte einen Lauf zu den Eintretenden aus. Darüber spannte ein Adler gleicher Machart seine Schwingen. Beide Tiere wirkten so lebensecht, dass es den Eindruck erweckte, sie seien durch einen Zauber in Holz verwandelt worden. Filigran setzte sich das Fell des Wolfes ab. Wäre ein Windhauch über den Platz geweht, Thea hätte schwören können, die Härchen könnten sich bewegen.
Durch einen Spalt zwischen den Flügeltüren drang das Flackern von Feuer. Wal-Freya wandte sich umständlich durch den Spalt und die anderen taten es ihr gleich. Im Inneren öffnete sich ihnen ein weiter Raum. Der Feuerschein rührte von einer gemauerten Stelle in der Mitte her. Flammen knisterten dort und warfen Licht und Schatten auf die Tische und Bänke, die überall verteilt im Raum standen. Tanzend funkelte sein Licht in den Brünnen, welche die Bänke bedeckten. An der Längsseite der Halle, gegenüber der Eingangspforte, erhob sich ein Podest, auf dem zwei Stühle standen. Beide waren mit dickem Fell bedeckt. Nur die Armlehnen, mit reichhaltigen Verzierungen versehen, lagen frei. Der Raum war menschenleer, aber nicht lange. Kaum hatten sie sich umgesehen, da trat eine Frau aus einer Nebentür. Über einem hellen Unterkleid floss ein dunkelblaues Trägerkleid, das von Schalenfibeln über ihren Brüsten gehalten wurde. Dazwischen verlief eine dreireihige Kette aus Silberperlen. Im Zentrum der untersten Reihe hing ein rotes Juwel, das von einer Drachenklaue gegriffen wurde. An einem Gürtel um ihre Hüften baumelte ein goldener Schlüsselbund. Ihr braunes Haar war im Nacken zu einem Zopf geflochten, der sich hinter dem linken Ohr um ihren Kopf legte und einen Rahmen um das ungebändigte, lange Haar auf der Stirn bildete. Unwillkürlich strich sie eine dieser Strähnen hinter das Ohr.
„Freya!“, erkannte sie. In einer Geste der Ablehnung verschränkte sie die Arme vor der Brust.
„Frigg“, grüßte Wal-Freya ebenfalls distanziert.
Verblüfft runzelte Thea die Stirn und wechselte den Blick zwischen den Frauen. Die Stimmung in der Halle war mit einem Mal von einer Spannung geladen, die Thea glauben ließ, die Luft knistern zu hören.
„Du solltest doch den Wolf suchen. Stattdessen bist du hier und du bringst Lebende mit nach Walhall!“
„Ach, die sind gar nicht tot?“, erwiderte Wal-Freya trocken.
Der eiserne Blick der Frau traf die Walküre, die eine wegwerfende Handbewegung machte. „Keine Sorge, wir werden sie nicht hier lassen.“
Frigg sah zu Thea und nickte leicht mit dem Kopf. „Verzeih! Das geht nicht gegen dich. Doch Walhall ist den Einherjern vorbehalten. Sei dennoch willkommen, und du ebenso.“ Sie sah zu Tom, der verschüchtert nickte.
„Wo ist Odin?“, fragte Wal-Freya.
Frigg zuckte leicht mit den Augenbrauen. „Er weilt bei Andhrimnir in der Küche. Odin war es, der am heutigen Tag Sährimnir erlegt hat. Ich denke, er begießt es mit einem Becher Met.“
Wal-Freya seufzte tief. „Danke.“ Mit dem Zeigefinger über ihre Schulter winkend befahl sie der Gruppe ihr zu folgen und lief voraus. Während sich einer nach dem anderen an Frigg vorbei schob, nickten sie ihr peinlich berührt zu, selbst Tyr. Durch den Durchgang gelangten sie in eine weitere Halle, die mit Ausnahme der beiden erhobenen Stühle ein Abbild der ersten war. Thea legte einen Schritt zu. Nachdem sie nah genug an der Walküre war, sprach sie sie leise an:
„Was ist das mit Frigg und dir?“
Unmerklich warf Wal-Freya einen Blick über die Schulter. „Das ist eine längere Geschichte“, erklärte sie in der Gedankensprache.
„Ich verstehe“, antwortete Thea.
Sie durchschritten auch diese Halle und gelangten abermals zu einem Abbild der vorherigen Halle. Zehn weitere Male wiederholte sich dieser Vorgang, dann endlich wandelte sich das Bild. Über der Feuerstelle dieser Halle hing ein riesiger Kessel. An diesem stand ein stämmiger Mann. Sein nackter Oberkörper war nur vom Latz der Schürze bedeckt, die über einer groben Hose hinter dem Rücken geschnürt war. Rotblondgekräuseltes Haar quoll unter den Schürzenträgern und dem Latz hervor und überwucherte sogar die dicken Oberarme. Die Haut unter diesen Haaren war hell, das Gesicht des Mannes allerdings war schwarz wie die Nacht. Er war kein gewöhnlicher Koch, denn mit seiner Größe konnte er problemlos über den Kesselrand schauen. Gleich neben dem Riesen stand Odin, der in Gegenwart des Hünen und des überdimensionalen Kochtopfs wie ein Gnom aussah. Dennoch strahlte er so viel Macht und Stärke aus, dass Thea sich scheu hinter
Wal-Freya versteckte. Ein Lächeln bildete sich in dem Bart des Asen, der ihnen zur Begrüßung das Trinkhorn entgegenstreckte und einen kräftigen Schluck daraus nahm.
„Hier seid ihr also“, begrüßte er die Gruppe. „Thea! Hüterin Kyndills. Ich hätte nicht gedacht, dich schon so bald wieder zu sehen. Sagt an! Warum kamt ihr nach Asgard?“
Im Gegensatz zu Frigg schien Odin nicht überrascht von ihrem Erscheinen und sogar überaus erheitert.
„Woher wusstest du …“, staunte Thea und winkte sogleich ab, denn die Antwort gaben ihr Hugin und Munin, die beiden Raben, die für Odin in die Welt hinaus flogen und ihm täglich Neuigkeiten ins Ohr flüsterten. Krächzend zankten sie sich um ein Stück Fleisch.
„Es ist doch genug da!“, brummte der Riese, griff mit der Hand in den Topf und warf ihnen ein zweites Stück zu.
Wal-Freya nahm ohne Umschweife an einem der Tische Platz. Odin gesellte sich zu ihr. Tyr lud Thea und Tom dazu und setzte sich als letztes.
Der Koch hob einen Holzlöffeln von der Größe eines kleinen Baumes und winkte. „Essen ist aber noch nicht fertig!“
„Wie schade, Andhrimnir“, erwiderte Tyr. „Dabei hätte ich gerade jetzt Appetit auf Eber.“
Andhrimnir lachte. „In ein paar Stunden ist es soweit!“
„So lange werden wir sicher nicht bleiben“, erwiderte Wal-Freya.
Odin setzte sich und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Hugin und Munin flatterten auf, setzten sich auf die Schultern des Asen und äugten achtsam in die Runde. „Herja! Bring Met! Wir haben Gäste!“
Er sagte es einfach so in den Raum, aber kaum hatte er seine Worte ausgesprochen, erschien eine Frau und brachte vier Trinkhörner. Tom stand der Mund offen. Gebannt folgte er der Walküre mit den Augen. Thea versuchte eine Ähnlichkeit zu den ihr bekannten Walküren zu finden, doch Herja war ihr noch nicht begegnet. Ihr langes, von mehreren Zöpfen gebändigtes Haar war lang und weiß wie Schnee. Grüne Augen leuchteten aus ihrem jungen Gesicht. Sie trug ungewöhnliche Kampfkleidung, die Thea daran zweifeln ließ, dass es ihre vollständige Rüstung war. Über einer engen ledernen Hose trug sie silberne, mit Knotenmustern verzierte Beinschienen – geschwungen wie die Flügel eines Drachen. Die spitzen Enden reichten ihr bis an die Oberschenkel. Ein breiter schwarzer Gürtel mit silbernen Ornamenten umschloss ihre Hüfte und diente als Halterung für ein Schwert. Hände und Arme der Walküre steckten in langen Lederhandschuhen, ebenfalls von silbernen Armschienen umschlossen. Der Brustharnisch bedeckte nur ihren Oberkörper, betonte aufreizend ihre Brüste und gab den Blick auf ihren nackten Bauch frei. An Drachenschuppen erinnernde Schulterplatten flossen lammellenartig ihren Oberarm herab. Thea schätze die Frau allenfalls auf fünfundzwanzig. Unwillkürlich rutschte sie ein Stück tiefer in ihren Stuhl. Herja brachte nur Getränke, dennoch strahlte die Walküre eine Stärke und Unbändigkeit aus, die Thea vor Ehrfurcht erstarren ließ. Wal-Freya musste es fühlen, denn ihr Blick traf den von Thea.
„Vor Herja brauchst du dich nicht zu verstecken. Nicht nach alldem, was du für die Asen getan hast.“ Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. Schon stand sie auf und erwiderte die Begrüßung der Walküre, die erst alle Trinkhörner abstellte, ehe sie Wal-Freya am Unterarm packte.
„Ich glaubte dich in Midgard!“, sagte Herja mit offenem Staunen. Sie nahm Thea in den Blick. „Ist das …?“
„Die Hüterin Kyndills“, sagte Wal-Freya bedeutungsvoll.
Herja rieb sich beide Hände an der Hose und streckte nun die Hand nach Thea aus. Diese erhob sich und erwiderte die Begrüßung. Herjas Griff war verblüffend fest. Trotz ihrer stolzen Erscheinung wirkte die Walküre mit ihrer schmalen Statur nicht besonders stark.
„Es ist mir eine Ehre, Thea“, sagte sie.
Die offene Bewunderung, mit der Herja ihr begegnete, verwirrte Thea. „Mir ebenfalls“, erwiderte sie scheu.
„Und das ist?“, fragte Herja und hob die Augenbrauen in Toms Richtung.
„Ein Freund Theas. Er wird uns begleiten“, erklärte Tyr.
„Tyr! Verzeih!“, erwiderte Herja. „Sei auch du willkommen. Du bist schon lange nicht mehr hier gewesen.“
Der Kriegsgott hob das Trinkhorn und nickte Herja zu. „Das stimmt. Zurzeit ist in Asgard einfach zu viel los.“ Er lachte und nahm einen Schluck.
„Sei auch du willkommen“, begrüßte sie nun auch Tom. Höflich nickte sie ihm zu.
Toms Augen klebten staunend an der Walküre. Er nickte nur langsam, gerade so, als sei ihm die Stimme verloren gegangen.
Wal-Freya beugte sich über den Tisch nah an Tom heran. „Glaub mir, sie ist nichts für dich! Du kannst den Mund jetzt wieder schließen!“
Ertappt riss Tom die Augen auf und legte unschuldig die Hand auf die Brust. Bevor er in der Lage war, etwas zu erwidern, stieß Tyr ihn leicht mit der Schulter an. „Das ist schon recht, Junge. Komm schon, Wal-Freya! Wir alle bewundern deine Walküren! Das wirst du dem Jungen doch nachsehen.“
„Ja! Walküren! Hübsch und stark!“, stimmte Andhrimnir, mit dem Kochlöffel vor seinem Gesicht fuchtelnd, zu.
Besänftigt hob Wal-Freya die Brauen. Mit einem Blick auf Herja lächelte sie schief und hob die Schultern. Die Walküre spiegelte die Geste, drehte sich auf dem Absatz und verließ die Halle.
„Also! Was führt euch nach Walhall?“, fragte Odin. „Warum habt ihr die Suche nach Fenrir abgebrochen?“
„Haben wir nicht“, antwortet Tyr.
In diesem Moment betrat Frigg die Halle. Wortlos stellte sie sich hinter Odin und legte ihre Hände auf seine Schultern, welche noch immer von Hugin und Munin besetzt waren. Höflich rückten die Raben ein Stück zur Seite, gaben ihren Platz jedoch nicht auf.
Wal-Freya erzählte von ihrer Begegnung mit Tom und von dessen Idee, dass Fenrir nach Hause gelaufen sein könnte. Ebenso wie zuvor Wal-Freya schloss Odin diese Möglichkeit sofort aus. Im gleichen Moment lenkte er jedoch ein.
„Angrboda?“, sagte er nur.
Die Gruppe nickte einvernehmlich.
„Aber Fenrirs Spur führt nach Midgard“, gab Odin zu bedenken.
„Vielleicht ein Trick, eine List desjenigen, der Fenrir geholfen hat zu fliehen“, brummte Tyr.
Odin lehnte sich zurück und ließ dabei die Handflächen langsam über den Tisch fahren. Leicht hielt er die Tischkante fest, während er sagte: „Loki …“
Thea fixierte das Auge des Allvaters. Für einen Moment war der feste Blick des Gottes von Schwermut überschattet. Dann runzelte er die Stirn und ballte die Fäuste. „Wie konnte er, nach alle dem, was wir für ihn getan haben?“
Zustimmend krächzten Hugin und Munin von seinen Schultern.
Einen kräftigen Schluck aus ihrem Horn nehmend erwiderte Wal-Freya: „Wichtig ist jetzt, dass wir Fenrir finden.“
Brummend sah Odin zu Wal-Freya. „Ich werde Herja nach Thor ausschicken. Ihr solltet nicht ohne ihn in den Eisenwald reisen.“
Wal-Freya hob die Hand. „Thor hat das Temperament eines Elefanten, wenn Riesen und Trolle in der Nähe sind. Wenn wir Fenrir finden wollen, sollten wir ihn nicht schon zwei Tagesreisen entfernt aufschrecken. Ich habe Tyr und Thea dabei. Und sicher wird sich der Junge auch beweisen.“
Tom schaute verhalten in die Runde.
Frigg löste sich. „Dazu sollten wir ihn aber erst einmal ausrüsten“, sagte sie und legte ihre Hand auffordernd auf Toms Schulter. Als dieser sich zu ihr umdrehte, bedeutete sie ihm, ihr zu folgen. Mit wehendem Saum eilte sie zurück durch die Tür, aus der sie zuvor getreten war.
„Du solltest sie nicht warten lassen“, warnte Wal-Freya. Odin und Tyr nickten zustimmend. Tom stand auf und sputete der Asin nach.
Bedeutungsvoll klopfte Andhrimnir seinen Kochlöffel über dem Topf aus. Als er alle Augen auf sich gerichtet sah, hob er entschuldigend die Hände.
Odin nahm einen Schluck aus seinem Trinkhorn und blickte nachdenklich von einem zum anderen: „Seid ihr sicher, dass ihr ohne Thor reisen wollt? Der Eisenwald ist kein Vergnügen. Allerlei Unholde bevölkern diesen Ort.“
Beipflichtendes Krächzen klang von seiner Schulter.
„Für den Fall, dass wir einer falschen Spur hinterherjagen, sollten wir Thor in Midgard weiter suchen lassen“, erwiderte Wal-Freya bestimmt.
„Aber Thor hat Gleipnir!“, erwiderte Odin. „Wie wollt ihr Fenrir binden? Nichts außer dieser Kette kann ihn halten.“
Tyr murmelte abwehrend. „Das stimmt! Daran haben wir nicht gedacht.“
„Können die Zwerge nicht ein neues Band herstellen?“, entgegnete Thea, überzeugt davon, dass Gleipnir nicht mehr intakt war.
„Wozu? Wir haben eine gute Fessel. Sie hat sich über Jahrhunderte bewährt“, erwiderte Wal-Freya. Zu Odin gewandt sagte sie: „Du musst Hugin und Munin über uns wachen lassen. Sobald wir Fenrirs Spur haben, schickst du sie mit dem Band.“
„Gleipnir wird Fenrir bestimmt nicht mehr halten können“, sagte Thea überzeugt.
„Die Zwerge haben mir versichert, dass Gleipnir völlig intakt ist. Fenrir ist befreit worden! Wir waren dumm genug, ihn nicht zu bewachen.“ Odin ballte die rechte Faust und umschloss sie mit der anderen Hand. „Nun ist es zu spät“, knurrte er. „Wenn sich herausstellt, dass Loki daran beteiligt war, dann werde ich ihn eigenhändig an seinen Felsen binden. Direkt neben Fenrir, mit den Gedärmen seiner ganzen Brut!“
Thea runzelte die Stirn. Für einen Augenblick war sie unsicher, ob Odin sich darüber im Klaren war, dass genau dieses vorherbestimmte Schicksal Loki dazu bewogen hatte, sich gegen die Asen zu stellen. Unerwartet flüsterte
Wal-Freyas Stimme in ihrem Geist:
„Was ist mit dir? Ich fühle Zorn!“
Thea fuhr erstaunt herum. „Ich bin nicht zornig“, erwiderte sie ehrlich.
Als könne sie durch ihre Augen direkt in ihre Seele schauen, rückte Wal-Freya an Theas Gesicht heran. „Jetzt fühle ich es nicht mehr“, entgegnete sie. Aber Thea merkte ihr an, dass sie Wal-Freyas Argwohn geweckt hatte.
Thea verschränkte die Arme vor der Brust. „Wisst ihr, wo wir Angrboda finden?“
Odin schüttelte den Kopf. „Wenn einer es weiß, dann Loki.“ Er fuhr mit seiner Hand über den Bart und spielte nachdenklich mit einem der Zöpfe am Kinn. „Nehmt Heimdall mit!“, sagte er schließlich.
„Heimdall?“, rief Wal-Freya erstaunt und auch Tyr atmete überrascht aus.
Noch immer drehte Odin den Bartzopf zwischen seinen Fingern. „Heimdall hört die Wolle auf einem Schaf wachsen. Seine Augen reichen weit und dringen sogar durch die Dunkelheit. Er wird euch eine große Hilfe sein.“
„Aber Bifröst! Du willst die Brücke doch nicht unbewacht lassen! Nicht jetzt!“, rief Wal-Freya.
„Ist es euch nicht schon genug, dass ich mich habe überreden lassen, hier in Walhall auszuharren? Ich sollte Fenrir selbst jagen gehen und mich nicht wie ein Feigling verstecken!“
„Darüber haben wir lange und ausführlich beraten und im Thing entschieden“, wehrte Wal-Freya ab. „Und auch Bifröst solltest du bewacht lassen!“
Tyr nickte. „Ich halte das ebenfalls für eine schlechte Idee“, stimmte er zu.
In einer hektischen Bewegung legte Thea die Hände auf den Tisch und stieß beinahe ihren Met um. „Genau! Gerade jetzt, wo Fenrir frei ist und Ragnarök jederzeit über uns hereinbrechen kann, darfst du Bifröst nicht unbewacht lassen!“
„Ein Wolf bewegt sich leichtfüßig, beinahe lautlos, zudem lauern im Eisenwald an jeder Ecke Gefahren. Ohne Heimdall wird es schwieriger werden“, erklärte Odin.
Wal-Freya hob ratlos die Hände. „Und was hilft das, wenn Bifröst unbewacht bleibt?“
Auch Andhrimnir kam nicht umhin von seinem Kessel aufzuschauen und heftig nickend zuzustimmen: „Bifröst unbewacht. Nicht gut! Nicht gut!“
„Nehmt ihn mit“, beharrte Odin, ohne auf den Koch zu achten. „Magni und Modi werden die Brücke bewachen.“ Er hob den Finger und streichelte leicht über Munins Brust. „Geh, mein Guter, hole Heimdall.“
Der Rabe nickte und krächzte bestätigend, dann spreizte er die Flügel und flog davon.
„Das ist das Dümmste, was du machen kannst, Odin.“ Erbost schlug Wal-Freya die Faust auf den Tisch. Thea schrak zusammen und auch Tyr zuckte kurz mit den Augenbrauen. Nur Odin blieb unbeeindruckt. Ein Lächeln umspielte seine Lippen. „Deine Sorge rührt mich, Wal-Freya. Aber mit Heimdall in eurer Gruppe habt ihr eine größere Chance, Fenrir zu finden. Je früher dieser Wolf wieder in seinen Ketten liegt, umso eher bin ich sicher. Bifröst wird solange ohne Heimdall auskommen müssen. Die Einherjer werden alles daran setzen, mich zu beschützen.“
„Ich bin damit nicht einverstanden“, erwiderte Wal-Freya verstimmt.
„Es ist entschieden!“, setzte Odin entgegen. „Und diesmal werde ich mich nicht vom Rat überstimmen lassen. Lasst uns nicht streiten. Reden wir, bis Heimdall hier ist.“
Wie auf Kommando trat Herja in die Halle. Mit einem Lächeln stellte sie einen Krug auf dem Tisch ab und verließ den Raum ebenso schweigend, wie sie ihn betreten hatte. Odin nahm den Krug und schenkte sich nach. Zufrieden nahm er einen Schluck aus seinem Horn.
„Sag mir, Hüterin Kyndills. Wie ist es dir ergangen?“
Thea sah Odin schief an. Der lachte, hob den linken Arm und streichelte Hugin leicht über den Kopf. „Meine Raben erzählen mir nicht alles“, entgegnete er. „Du hast Kyndill vollendet?“
Thea presste die Lippen zusammen. Sie hatte den Griff aus zwei Harthölzern geformt und um das Heft geleimt. Da Kyndill brannte, sobald sie das Schwert berührte, war sie dabei sehr vorsichtig vorgegangen. Es war gar nicht so leicht gewesen, denn Kyndill hatte mehr als einmal beinahe ihr Zimmer in Brand gesteckt. Lange, nachdem ihre Eltern schliefen, hatte sie die Zimmertüre verschlossen und das Schwert erst aus dem Köcher geholt, nachdem sie die Rollläden runter gelassen hatte. Bis zum heutigen Tag glaubte sie sich dabei unbeobachtet.
„Wie konnten sie das sehen?“, staunte Thea.
Odin lachte. „Gar nicht! Ich habe es bemerkt, als du in die Halle eingetreten bist.“
Thea führte die Hand zum Griff und lächelte erleichtert.
„Hugin und Munin achten die Privatsphäre“, nahm Odin ihr die Worte aus dem Mund. Alle lachten und Thea senkte beschämt den Blick.
„Zeig es mir“, forderte Odin Thea auf.
Gerne öffnete Thea den Schwertgurt und legte Kyndill mitsamt der Schwertscheide auf den Tisch. Odin lehnte sich vor und betrachtete das Heft mit einem zufriedenen Nicken. „Rück es ein wenig näher“, forderte er Thea auf.
Sie schob das Schwert vor. Seit sie in Niflheim mit Kyndill gekämpft hatte, war niemand außer ihr in der Lage es zu berühren. Odin schien es auch ein Jahr später nicht ausprobieren zu wollen.
„Eine schöne Arbeit“, lobte er und hob auffordernd das Kinn in Theas Richtung. Diese nahm das Schwert zurück und band es wieder um die Hüfte.
„Ich war schon damals ein Liebhaber deiner Arbeiten“, erklärte Odin offenherzig.
„Ach wirklich?“, staunte Thea.
Odin nickte. „Dein Meister tat gut daran, dich in die Lehre zu nehmen und dir später die Schmiede zu überlassen.“
Schritte wurden laut und alle Blicke richteten sich zur Tür. Mild lächelnd trat Frigg ein. Sie beschrieb mit ihren Händen einen Bogen. Der präsentierenden Geste folgte Tom. Eine helle Hose, bis zu den Knien von Wadenwickeln umschlossen, lugte unter einer langen, schwarzen Tunika hervor. Das hellblaue Ende einer Untertunika schaute darunter heraus, ebenso an den Ärmeln, die Tom zurückgeschlagen hatte. Ein einfaches, kurzärmliges Kettenhemd schützte seinen Oberkörper. Um dieses schloss sich ein Gürtel mit zwei Kurzschwertern an den Seiten. Ein schwarzer Umhang mit Fellbesatz an Schultern und Rücken wurde mit einer Fibel über seiner Brust geschlossen.
„Wie mittelalterlich“, kommentierte Wal-Freya sein Auftreten in Theas Gedanken. „Sie hätte ihm wenigstens ein paar Bein- und Armschienen zum Schutz überlassen können.“ Als eine Antwort Theas ausblieb, sah sich die Walküre nach ihr um. „Muss er erst in diesem Aufzug erscheinen, dass du ihn beachtest?“, fügte sie vorwurfsvoll hinzu.
„Was? Nein!“, erwiderte Thea empört. „Ich war nur im Gedanken!”
„Klar!“, erwiderte Wal-Freya trocken und laut an Frigg gewandt murrte sie: „Gab es keine bessere Rüstung für ihn, als ein Kettenhemd?“
„Er wollte nichts anderes. Er sagte, alles andere sei ihm zu schwer“, erwiderte Frigg offen.
Tyr brummte missbilligend und drehte sich zu Tom um. „Findest du das nicht überheblich?“
Tom schüttelte den Kopf. „Ich muss mich bewegen können. Mit dem ganzen Krams an mir fühlten sich meine Glieder an wie Blei!“
Tyr holte Luft, doch ehe er in der Lage war, etwas zu erwidern, wurde er von einem tiefen Lachen unterbrochen.
„Das ist ein wahrer Krieger!“, verkündete Odin stolz und hob sein Trinkhorn huldigend in die Luft.
„So ein Narr!“, zischte Wal-Freya mit zusammengepressten Zähnen. Fast glaubte Thea sich sicher, dass es die Walküre bereits reute, Tom mitgenommen zu haben.
Odin rückte den Stuhl neben sich heran. „Komm, Junge! Setz dich!“, forderte er Tom fröhlich auf, während er mit der Hand auf die Sitzfläche klopfte.
Zögernd sah Tom zu Frigg. Erst als diese ihm aufmunternd zunickte, folgte er Odins Einladung und nahm Platz. Nur einen Wimpernschlag später saß auch Frigg am Tisch. Lachend hieb Odin Tom auf die Schulter. „Ich muss mich bewegen können“, wiederholte er heiter. „Ich kann es kaum erwarten, dich kämpfen zu sehen!“
Thea wurde mit einem Mal flau im Magen. Odin hatte beteuert, dass ihm der Ruf des unersättlichen Kriegsgottes zu Unrecht anhaftete und doch tobten plötzlich alte Geschichten durch ihren Geist, die davon erzählten, wie besessen Odin davon war, Kämpfer und Helden gegeneinander in den Streit zu schicken, um sie nach ihrem Tod in seine Schar in Walhalla einzureihen. Ihr Magen krampfte sich mit jedem Schlag ihres Herzens, während sie Odin und Tom beobachtete. Offensichtlich für jeden im Raum, hatte Tom Odins Interesse geweckt. Jeder freundschaftliche Schubs, den er Tom gab, während er ihn in ein Gespräch verwickelte, jede Aufforderung zum Anstoßen, sein tiefer Blick, mit dem er Tom bedachte, wenn er einen Schluck aus dem Trinkhorn nahm, weckte Theas Argwohn. Vielleicht tat man Odin mit den alten Geschichten ebenso Unrecht wie Loki und Theas Sorge war unbegründet, oder vielleicht traf es auch genauso zu, wie die Asen Loki verurteilten. Wal-Freya schien Theas Unruhe zu spüren. Beruhigend legte sie eine Hand auf ihr Bein.
Im gleichen Augenblick flog Munin in die Halle. Krächzend senkte er sich auf Odins freie Schulter nieder und pickte ihn spielerisch an den Haaren. Kurz nach dem Raben betrat Heimdall die Halle. Ein langärmliges Kettenhemd blitze hier und da unter seiner Rüstung hervor. Diese schloss sich in Einzelteilen um den fülligen Leib. Der goldverzierte Brustpanzer war seiner Figur angepasst und beulte sich am Bauch aus. Unter dem zurückgeschlagenen Umhang zeigten sich golden abgesetzte Schulterplatten, die bis zu den Ellenbogen reichten. Dort begegneten sie einem Paar Armschienen. Eine rote Tunika, von einer bestickten Borte abgesetzt, reichte bis zu den Knien. Um die Beine schlackerte eine blaue Hose aus grobem Stoff, die sich an den Waden von einem Lederband umwickelt fand. Unter dem Bauchansatz schloss sich ein Schwertgürtel, ein zweiter Lederriemen lief quer über die Brust und hielt ein langes, geschwungenes Horn auf Heimdalls Rücken. Sein Haar war dunkel und wallte dicht und lang um seinen Kopf. Sein gestutzter Vollbart blieb, entgegen vieler Bärte in Asgard, ohne Verzierungen.
Heimdalls Gesicht erschien mit Sorgenfalten, welches sich sofort glättete und in ein Bild des Staunens wandelte, als er die Versammlung erblickte. Sein schneller Atem verriet, dass er gerannt war.
„Verflucht seist du, Odin!“, polterte er. „Ich kann kein Rabisch! Was schickst du Munin zu mir und versetzt mich in Panik? Ich dachte, dir sei etwas geschehen! Stattdessen sitzt du in lustiger Runde und lässt alte Zeiten aufleben!“
Er trat näher und begrüßte Thea mit einem Knuff. „Sei gegrüßt, Hüterin Kyndills.“
Thea antwortete mit einem zurückhaltenden Lächeln, während der Wächter Bifrösts die Hände in die Hüften stemmte und mit einem fordernden Blick auf eine Antwort von Odin wartete.
Odin lachte abwehrend. „Mir geht es gut, Heimdall! Setz dich und nimm einen Schluck Met!“
Mit einem widerstrebenden Brummen nahm Heimdall Platz. Wie auf Kommando erschien Herja mit einem Horn. Sie reichte es Heimdall mit freundlichem Gruß und schenkte allen Met nach. Sie tauschte die Krüge.
„Ich muss nach Midgard“, entschuldigte sie sich, wandte sich ab und verließ ohne weitere Erklärung die Halle.
„Was gibt es, Odin?“, verlangte Heimdall zu wissen, die Abschiedsworte der Walküre ignorierend. Thea allerdings fragte sich, was Herja gerade jetzt nach Midgard führte. Ein neuer Krieger für Walhall? Verständigte sie Thor?
„Ich möchte, dass du diese Gruppe hier in den Eisenwald begleitest“, antwortete Odin ohne Umschweife. „Sie vermuten Fenrir dort. Deine Augen und Ohren sollen ihnen helfen.“
Heimdall verschluckte sich an seinem Met. Hüstelnd legte er die Hand vor den Mund und wischte sich den Honigwein aus dem Bart. „Die Regenbogenbrücke unbewacht lassen? Ausgerechnet jetzt?“
„Thors Söhne werden deinen Platz einnehmen. Der Eisenwald ist voller Gefahren. Deine Augen und Ohren werden hier von größerem Nutzen sein.“
„Aha! Und warum nehmt ihr nicht einfach Thor mit? Was meine Augen und Ohren zu verhindern wissen, kann sein Hammer in wenigen Minuten aus dem Weg räumen“, wehrte er ab.
Wal-Freya schüttelte energisch den Kopf. „Wir hegen nur einen Verdacht, dass Fenrir in den Eisenwald gegangen sein könnte. Es ist sicher kein Fehler, wenn Thor ihn weiterhin in Midgard sucht und außerdem wirbeln wir nur halb so viel Staub im Eisenwald auf, wenn du uns folgst.“
Heimdall lachte amüsiert. „Das mag sein!“ Er ließ den Blick durch die Reihe der Anwesenden schweifen. „Und die Gruppe besteht aus wem?“
„Wal-Freya, Tyr, Thea und ihm hier.“ Zum wiederholten Male klopfte Odin Tom auf die Schulter. „Das ist Tom.“
Heimdall hob die Augenbrauen. „Tom“, wiederholte er ungläubig. Er drehte den Kopf zu Wal-Freya. „Willst du deshalb, dass ich dich begleite? Damit du nicht alleine unter einer Gruppe aus Tiwaz-Anhängern weilst?“ Er lachte amüsiert.
Erst jetzt fiel Thea auf, dass ihre Namen alle mit dem gleichen Buchstaben begannen.
Tyrs Blick veränderte sich. Beinahe schaute er vorwurfsvoll. „Das ist eine sehr bedeutungsvolle Rune. Viele heldenhafte Krieger versammelten sich unter Tiwaz.“
„Wahrhaftig!“ Odin lachte. „Ihr werdet eine großartige Gruppe sein!“
„Sei nicht traurig, Wal-Freya“, scherzte Heimdall. „Wir können uns Teimdall und Treya nennen!“ Er lachte über seinen eigenen Witz. Auch Tyr und Odin fielen mit ein. Nur Frigg und Wal-Freya teilten die Heiterkeit der Männer nicht. Wal-Freya verschränkte die Arme über der Brust, Frigg schüttelte nur leicht den Kopf. Das verhaltene Lachen von Tom erstarrte sofort, als er Theas angestrengtem Blick begegnete. Noch immer kämpfte sie gegen das düstere Gefühl in ihr an. Tom war ihnen aus freiwilligen Stücken gefolgt, doch sie war sich nun ganz sicher, dass sie es hätte verhindern müssen. In diesem Moment schwor sie sich, Tom während der gesamten Reise nicht aus den Augen zu lassen ...