Читать книгу Die Midgard-Saga - Jötunheim - Alexandra Bauer - Страница 14

4. Kapitel

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Als sich der Metkrug geleert fand und sich die Tische der Nebensäle bereits mit fröhlich lärmenden Einherjern füllten, drängte Wal-Freya zum Aufbruch. Offensichtlich hatte sie genug von dem kleinen Gelage und wollte es nicht durch eine lange Nacht an Walhalls Tafeln ausdehnen. Frigg ließ die Gruppe erst ziehen, nachdem sie eigenhändig dafür gesorgt hatte, dass jeder von ihnen einen prall gefüllten Quersack mit Proviant besaß. Mit einem zusätzlichen Trinkschlauch am Gürtel trat die Gruppe die Reise an.

Abermals versammelten sich die Krieger Walhalls zahlreich um Wal-Freyas und Tyrs Wagen. Fragen wurden laut, als Heimdall auf sein Pferd Gulltopp stieg und er es neben Tyrs Gespann führte. Doch diese blieben unbeantwortet. Tyr hob die Hand zum Gruß und schon stoben Hugrakkir und Vinur durch die sich teilende Menge. Rasch zogen sie den Wagen durch das Blätterdach in den Himmel. Von Segensrufen begleitet folgten Heimdall und Wal-Freya. Thea warf einen Blick zurück und winkte zum Abschied. Aber nur wenige Einherjer erwiderten den Gruß. Odin und Frigg hatten sich bereits abgewandt und liefen zurück in die Halle. Ihnen folgte eine unüberschaubare Zahl von Kriegern.

Als Asgard zu einem kleinen goldenen Punkt in ihrem Rücken zusammenschrumpfte, drehte sich Thea um und schickte ihren Blick auf die sich nähernde Landschaft. Offensichtlich führte sie ihr Weg erneut nach Midgard.

Irgendwann endete der Sinkflug und sie folgten ihrem Weg in einer gleich bleibenden, aber für Thea unbestimmten Höhe. Hell und grün breitete sich die Landschaft unter ihnen aus. Zwischen bewaldeten, dunklen Flecken hoben und senkten sich zu Quadraten geordnete Felder, in welche sich Straßen und Flüsse gruben. Einmal fiel Thea die Landebahn eines Flughafens ins Auge. Mit einem Schmunzeln stellte sie sich das Staunen der Fluglotsen vor, wenn die Gruppe dort zur Landung ansetzen würde. Lange Zeit später überflogen sie ein Meer, ehe sich abermals das wechselnde Grün von Wald, Feld und Wiesen unter ihnen ausbreitete. Stunden waren vergangen, als Tyr seinen Wagen näher zur Erde lenkte und die Gruppe im Dämmerlicht der Nacht in ein dichtes Waldgebiet führte. Es war totenstill. Nur ein Bach sprudelte fröhlich in seinem Bett und füllte die Luft mit einem Gluckern. Tyr wartete, bis Tom vom Wagen abgestiegen war, ehe er selbst absprang. Nachdem er sich nach allen Seiten umgesehen hatte, suchte er Heimdalls Blick.

„Ein sicherer Platz“, antwortete dieser, ohne eine Frage gestellt bekommen zu haben und saß ab.

Wal-Freya spannte die Katzen aus. Auch Tyr entließ seine Wölfe aus dem Gespann.

„Pause?“, fragte Tom. Es war eher eine Feststellung.

„Ich kann nicht mehr stehen“, erwiderte Tyr.

Während Bygul und Trjegul maunzend um ihre Beine schlichen, kramte Wal-Freya zwei Schälchen und einen Trinkschlauch aus einer Tasche im Wageninneren. Sie stellte die Näpfe neben sich ab und füllte sie mit Milch. Gierig fielen die Katzen über das Getränk her. Hugrakkir und Vinur wateten durch den Bach und leckten dabei gleich neben Gulltopp Wasser.

„Wir brauchen alle ein wenig Rast“, erklärte Wal-Freya. Sie schlug ihren Umhang zurück, setzte sich an den Wagen und lehnte sich gegen das Rad.

„Es wurde auch sehr schnell dunkel“, erwiderte Tom.

„Das liegt sicher daran, dass wir dem Sonnenwagen entgegengefahren sind“, antwortete Thea. Sie kniete neben Bygul und Trjegul und streichelte sie sanft, während die Katzen gierig die Näpfe leerten.

„Dem Sonnenwagen?“ Tom runzelte die Stirn und schlagartig war Thea klar, dass er keine Ahnung hatte, wovon sie gerade sprach. Er schien aber nicht näher darüber nachzudenken, denn er schob bereits die nächste Frage nach: „Wohin fliegen wir eigentlich? Das hier ist doch die Erde, oder nicht?“

Heimdall klaubte ein paar Stöcke vom Boden auf und warf sie zu einem Haufen in der Mitte des Platzes zusammen. „Der Eisenwald grenzt an das östliche Ende Midgards.“

Tom reckte das Kinn. „Ich verstehe. Und wo genau ist das?“

Unter dem Arm bereits eine weitere Ladung Holz, schaute Heimdall verständnislos von seiner Arbeit auf. „Am östlichen Ende Midgards“, wiederholte er jedes Wort betonend.

Hilfesuchend sah Tom zu Thea, die sich ebenso wie Heimdall nicht ganz sicher war, worauf Tom genau hinaus wollte.

Dieser erklärte sich: „Im Osten liegt Russland oder China. Wenn wir deren Ende erreicht haben, dann folgt die USA, und wenn wir weiter östlich reisen, sind wir wieder zu Hause.“

„Der Eisenwald liegt am Ende der Himmelswölbung. Er trennt Midgard von Jötunheim“, kam Tyr zur Hilfe. Auch er klaubte Holz zusammen und stapelte es auf den Platz. „Wärst du so lieb, Wal-Freya?“

Die Walküre nickte, stand auf und kniete neben dem Holzstapel nieder. Dort malte sie mit dem linken Finger ein Zeichen in die rechte Handinnenfläche, streckte diese über die Holzansammlung und murmelte ein paar Worte. Im Innern des Stapels breitete sich ein rotes Glühen aus. Kaum zog Wal-Freya ihre Hand wieder fort, züngelte ein knackendes Feuer auf dem Platz.

Mit offenem Respekt hatte Tom das Schauspiel beobachtet. Dann holte er seine Frage zurück: „Das Ende der Himmelswölbung kann man doch niemals erreichen.“

Heimdall lachte. „Wenn das so wäre, Junge, würden wir uns wohl kaum auf den Weg dorthin machen.“

Hugrakkir und Vinur sprangen aus dem Bach, liefen auf Tyr zu und stießen den Asen spielerisch mit der Schnauze an. „Geht und fangt euch einen Hasen! Wir werden ein wenig verweilen“, sprach er zu den Tieren und als hätten sie ihn genau verstanden, neckten sie sich gegenseitig und verschwanden zwischen den Bäumen.

Um das Feuer versammelt bedienten sie sich aus ihren Quersäcken. Tom war verzückt von den vielen verschiedenen Speisen und den für ihn neuen Gewürzkombinationen. Als Tom seine Frage nach dem Himmelsgewölbe wieder aufgriff, nutzte Thea die Zeit und erzählte ihm die Geschichte von der Entstehung Midgards. Vom Urschlund Ginnungagap, von der Urkuh Audhumbla und dem Urriesen Ymir, von dem alle Riesen der Welt abstammten. Sie führte genau aus, wie Odin, Vili und Ve den Urriesen erschlugen und sie aus ihm die Welt formten, die Erde, das Meer, die Berge – und wie sie schließlich seinen Schädel auf die Welt setzten und aus ihm den Himmel machten, gestützt von den Zwergen Nordri, Sudri, Austri und Westri. An dieser Stelle unterbrach sie sich im Gedanken an den verzweifelten Zwerg, den sie auf ihrer letzten Reise kennengelernt und dem sie ein Versprechen gegeben hatte.

„Stützt Nordri überhaupt noch das nördliche Himmelsgewölbe?“, fragte sie die Walküre.

„Ich denke schon“, antwortete Wal-Freya ausweichend.

„Odin wollte sich doch darum kümmern, dass …“

Tom unterbrach sie: „Du glaubst das tatsächlich!“, stieß er aus.

„Ich verstehe es auch nicht, aber ich habe alles mit eigenen Augen gesehen!“, beteuerte Thea. „Ich war am nördlichen Ende des Himmelsgewölbes, ich habe es sogar für einen kurzen Augenblick selbst gestützt. Ich war bei Frau Holle und habe auf Midgard hinab gesehen, auf die Erde, ausgebreitet wie eine Landkarte …“

„Aber die Erde ist rund!“, erinnerte Tom.

Heimdall setzte sich auf, trat seine Schuhe von den Füßen und streckte die Zehen ans Feuer. „Nach deinem Glauben vielleicht“, erwiderte er ohne Wertung.

Auch Tyr stützte sich auf den Ellenbogen und sah Tom herausfordern an.

Mit einem Blick, der nicht verbarg, dass er an jedem anwesenden Verstand zweifelte, hob Tom die Hände. „Ihr glaubt das alle!“

Tyr sah amüsiert zu Thea, Wal-Freya und Heimdall und dann zu Tom. „Du sitzt mit Odin in Walhall, du fährst auf einem Wagen, gezogen von Wölfen über den Himmel hinweg und wagst, daran zu zweifeln?“, erwiderte er.

Den Mund weit geöffnet, gaffte Tom von einem zum anderen. „Aber das ist nicht möglich!“, erwiderte er. Doch seine Stimme war nicht mehr so fest wie zu Beginn des Gesprächs.

Wal-Freya zog ihren Quersack zu, streckte nun auch die Beine aus und begrüßte Bygul, der sofort auf ihre Oberschenkel sprang und sich schnurrend in ihren Schoß bettete. „Ich fühle mich sehr an ein Mädchen erinnert“, sagte sie mit gedämpfter Stimme und zwinkerte Thea zu.

Schmunzelnd hob Thea die Schultern. „Ich habe keine Ahnung, von wem du sprichst.“

„Zerbrich dir nicht weiter den Kopf darüber, Junge“, brummte Heimdall.

Sie ruhten sich aus, bis Hugrakkir und Vinur von der Jagd zurückkamen. Im Sternenlicht flogen sie weiter. Wieder reisten sie mehrere Stunden, ehe Tyr seinen Wagen erneut zur Landung brachte. Wal-Freya duldete die Pausen ohne Widerspruch. Als Tyr jedoch kaum eine Stunde nach ihrem Weiterflug erneut zur Erde steuerte, erhob sie Einspruch.

„Ich will Tom rasch etwas zeigen“, erklärte er, während Hugrakkir und Vinur den Wagen sanft auf einer Steppe absetzten. Ein goldener Streifen am Horizont kündete den neuen Tag an und färbte den feinerdigen Boden in ein sanftes Orange. Gespannt beobachtete Thea, wie Tom vom Wagen stieg und Tyr mit einem gläsernen Gegenstand vor seinen Augen spielte.

„Was tut er?“, fragte Thea.

„Ich denke, er will ihm den Sonnenwagen zeigen“, mutmaßte Wal-Freya.

„Den Sonnenwagen?“ Fasziniert stieg nun auch Thea aus und gesellte sich zu Tom und Tyr.

Tyr platzierte das Glas vor Toms rechtem Auge. „Das ist Skyrleiki, ein magisches Auge. Es zeigt dir Dinge, die schwer zu erkennen sind oder im Verborgenen liegen. Schau zum Horizont! Genau jetzt!“

Von einem goldenen Kranz umgeben schob sich die Sonne vor den Horizont. Thea kniff die Augen zusammen und versuchte vergeblich, etwas zu erkennen. Tom hingegen runzelte die Stirn und nahm Tyr den Stein aus der Hand. Immer wieder nahm er das Glas von seinem Auge fort und verglich die Sicht ohne den magischen Gegenstand.

„Das ist wirklich echt?“, fragte er und in einer hilflosen Geste überreichter er Skyrleiki an Thea. Diese folgte Toms Beispiel und hielt das Glas vor ihr Auge. Als blicke sie durch ein Teleskop vergrößerte sich ihre Sicht. Ein Lächeln umspielte ihre Lippen, als sie die Silhouette zweier Pferde erkannte, die vor der aufgehenden Sonnenscheibe galoppierten. Geführt wurde der Wagen von einer Person, die vor einem riesigen Schild hockte.

„Sól!“, stieß Thea fasziniert aus.

Tom hob die Hände. „Aber die Erde dreht sich doch um die Sonne!“

Tyr lächelte. „Sol führt den Sonnenwagen. Arvakr und Alsvidr ziehen ihn, stets verfolgt von Skalli, dem Wolf. Doch die Pferde sind schnell. Skalli gelingt es nicht, die Sonne zu fangen.“

„Verrückt“, kommentierte Tom. „Wie ist das nur möglich?“

Tyr gab ihm einen Knuff. „Einfach so, weil es das ist. Komm! Wir müssen weiter.“

Abermals erhoben sie sich in die Lüfte. Schweigend folgten sie der aufgehenden Sonne, die sich schon bald hoch über das westliche Firmament erhob. Thea suchte hier und da den Blickkontakt zu Tom, doch dieser war so in seinen Gedanken versunken, dass er es nicht einmal bemerkte. Thea ertappte ihn das ein und andere Mal dabei, zur Sonne zu blinzeln. Ob er nach Sól und ihrem Wagen suchte oder die Uhrzeit schätzte, blieb sein Geheimnis.

Irgendwann veränderte sich die Landschaft. Große weite Seen klafften in der Erde auf wie in einem Käse und bald durchschnitten langadrige Flüsse das Land. Als sich diese hinter ihnen verloren und sich eine weite Ebene vor ihnen erstreckte, war es Wal-Freya, die hinab deutete und ihren Wagen zuerst zur Landung brachte.

„Was ist?“, fragte Tyr, als er seinen Wagen neben dem von Wal-Freya zum Halten brachte.

„Wir sollten die Tiere nach Hause schicken. Ich fürchte um ihre Sicherheit“, erklärte Wal-Freya.

Brummend blickte Tyr voraus. Weit am Horizont erstreckte sich ein Waldgebiet. In der Abenddämmerung war es kaum zu erkennen, aber Thea vermutete, dass sie den Eisenwald erreicht hatten.

„Ich hab keinen Zwerg gesehen“, flüsterte Tom Thea zu.

„Aus der Luft war er sicher nicht zu erkennen“, wisperte diese zurück, als sie verstand, dass er Austri, den östlichen Himmelszwerg meinte.

Tyr sah zu Heimdall, der noch immer auf Gulltopp saß. „Glaubst du, du findest Angrboda aus der Luft?“

Heimdall schüttelte den Kopf. „Das Blattwerk dieser Bäume ist dicht und durch Eisen kann selbst ich nicht sehen.“

Tyr seufzte. Er sprang von seinem Wagen, stellte sich neben Vinur und streichelte sie sanft am Kopf, während er den Blick in der Ferne gefangen hielt. „Dann ist das Reisen in der Luft ohnehin nutzlos. Ich fürchte, du hast recht, Wal-Freya. Wenn sie in die Finger von Trollen geraten, würden sie sicher an einem Spieß über einem Feuer enden …“

„Aber könnten nicht gerade Wölfe dabei helfen einen Wolf zu finden?“, wandte Tom ein.

„Sie würden versuchen, Fenrir zu bekämpfen, und der würde sie mit einem Biss in Stücke reißen.“

„Wir rasten hier für die Nacht und brechen im Morgengrauen zu Fuß auf“, beschloss Wal-Freya. „Heimdall, auch du solltest heute schlafen. Wenn wir zu Fuß reisen, werden wir deine wachen Augen brauchen.“

Heimdall nickte einverstanden. „Gulltopp, Vinur und Hugrakkir können Wache halten. Wenn wir morgen aufbrechen, schicken wir sie zurück nach Asgard.“

Thea warf Tom einen verunsicherten Blick zu. Götter, die sich Sorgen um ihr Leib und Wohl machten, trugen nicht zu ihrer Beruhigung bei.

Abermals schien Wal-Freya ihre Gedanken zu lesen. „Keine Sorge. Bygul und Trjegul haben nicht den Verstand, sich gegen Trolle zu wehren, und Hugrakkir und Vinur wären wiederum zu mutig, um sich von ihnen fernzuhalten.“

Wie abgesprochen warteten sie die Nacht ab, ehe sie im Morgengrauen die Quersäcke über ihre Rücken warfen und die Tiere samt der Wagen zurück nach Asgard schickten. Auch Heimdall gab seinem Pferd einen Klaps. Lange sahen sie den Tieren nach, bis diese sich irgendwann am Firmament verloren. Dann liefen sie voran.

Als hätte ein schwerer Sturm in seinem Gehölz gewütet, zeichnete sich bald der Eisenwald vor ihnen ab. Viele der Bäume waren bis zu ihrer Mitte gespalten, manche Stämme komplett durchgebrochen. Dahinter ragten hohe und mächtige Baumkronen auf. Das Licht des anbrechenden Tages spiegelte sich silbern in ihren dunklen Blättern wider und ließ den Wald funkeln, als wäre er mit Glitter bestreut. Im Innern des Waldes jedoch blieb es dunkel.

„Da hat aber jemand gewütet“, kommentierte Wal-Freya.

„Vielleicht ein Riese, der nach Midgard drängte“, brummte Heimdall.

„Und von Thor zurückgeworfen wurde“, scherzte Tyr.

Tom stand der Mund offen. „So groß sind die, dass sie diese Bäume knicken können?“

„Sind doch nur ganz kleine Bäume“, meinte Heimdall.

„Allenfalls zehn Meter“, bestätigte Tyr.

Wal-Freya runzelte die Stirn. „Vielleicht auch zwölf“, schätzte sie.

„Und das bedeutet?“, fragte Tom.

„Dass das, was auch immer sich da den Weg gebahnt hat, maximal acht Meter groß war, würde ich sagen“, erwiderte Wal-Freya.

„Acht?“, ächzte Tom.

„Die wirklich großen Brocken leben tief in Jötunheim, nicht im Eisenwald“, erklärte Tyr. „In einem Wald haben sie keinen Platz.“ Er deutete auf die Verwüstungen. „Und ich bin mir ziemlich sicher, dass es die Bewohner nicht gerne sehen, wenn ihr Wald zertrampelt wird. Der hier war sicher eine Ausnahme.“

„Ziemlich sicher? Es ist wirklich faszinierend, wie wenig ihr euch in eurer eigenen Welt auskennt“, erwiderte Thea mit leichtem Vorwurf.

„Thor würde es wissen, er reist oft nach Jötunheim“, erwiderte Tyr achselzuckend.

„Und Odin“, pflichtete Heimdall offenherzig bei. „Er hat viel Wissen angehäuft.“

„Und warum ihr nicht? Woher kommt das Desinteresse?“

„Was will ich in einem Land voll mit Riesen?“, erwiderte Wal-Freya. „Mein Hauptaugenmerk liegt auf den Menschen.“

„Meines auch“, antwortete Tyr.

Heimdall hob entschuldigend die Augenbrauen.

„Sag nichts“, schmunzelte Thea. „Deins auch?“

„Ja. Und bei Bifröst.“ Er nickte Heimdall zu und lachte.

„Ist doch auch völlig übertrieben, wenn man sich um alles kümmern müsste“, stimmte Wal-Freya zu und gab Thea einen Knuff. „Du wohnst in Midgard, oder nicht? Kennst du alle Tiere, die in Afrika oder Südamerika leben?“

„Nein“, antwortete Thea geschlagen. „Aber ich bin ja auch kein Gott!“

„Wann kam eigentlich dieser Glaube auf, dass Götter immer alles können?“, fragte Heimdall in die Runde, aber er schien keine Antwort zu erwarten, denn schon fügte er an: „Los jetzt! Mein Bifröst wartet auf mich.“ Und schon stiefelte er los.

Sie liefen bis zu den Wurzeln der abgeknickten Bäume. Dort formierten sie sich. Heimdall führte die Gruppe an. Gleich hinter Tom stellte sich Thea auf, die fest entschlossen war, ihr Vorhaben in die Tat umzusetzen und ihren Freund nicht aus den Augen zu lassen. Neben Thea stellte sich Wal-Freya. Sie erwiderte Theas Lächeln, die dankbar zu ihr aufblickte. Als sie das erste Mal auf die Walküre getroffen war, glaubte sich Thea verflucht. Nun fühlte sie sich gesegnet und war dankbar, dass die Wanin sie an ihrem Abenteuer teilhaben ließ. Wer in Midgard konnte von sich schon behaupten, Götter zum Freund zu haben?

Freu dich nicht zu sehr, Thea. Unser Sparziergang wird enden, wenn wir auf Fenrir treffen“, hörte sie Wal-Freya in ihrem Geist.

Ertappt drehte Thea den Kopf.

Wal-Freya lächelte. „Es tut mir leid! Ich habe nicht in deinen Gedanken gewühlt. Du hast mich geradezu angerufen. Selbst wenn ich gewollt hätte, hätte ich nicht weghören können. Denke einfach nicht so laut!“

Thea zog eine unglückliche Grimasse. „Das war keine Absicht!“

Wal-Freya schmunzelte. „Ich weiß.“ Sie machte eine Pause. „Und ich fühle mich ebenfalls gesegnet von deiner Begleitung.“

Thea lächelte stolz. In diesem Moment lenkte ein Krächzen ihre Aufmerksamkeit um. Hugin und Munin überflogen die Gruppe, ließen sich auf einem Ast nieder und beobachteten sie.

„Jetzt kann wirklich nichts mehr schief gehen“, kommentierte Tyr.

Sie bahnten sich den Weg durch ein Gestrüpp abgebrochener Äste. Wenige Schritte später reckten sich die Bäume mächtig und dunkel zum Himmel auf. Durch das dichte Blätterdach strömte Sonnenlicht in einem weitgefächerten Vorhang aus einzelnen Lichtstrahlen und malte hier und da helle Punkte auf den Boden, die Farn- und Moosgewächse beleuchteten. Fasziniert berührte Thea einen Baumstamm.

Zwischen den Rindenleisten zeichneten sich silbern schimmernde Adern ab, die das Holz in langen Furchen durchzogen. Die Blätter erinnerten an die einer Erle, jedoch waren sie größer und dunkelgrün – beinahe schwarz. Auch sie wurden von feinen, silbrigen Adern durchzogen. Thea begann zu verstehen, weshalb dieser Wald Eisenwald genannt wurde. Gefesselt von seiner magischen Aura und zugleich abgeschreckt von seiner Fremdartigkeit folgte sie der Gruppe, verlor ihren Blick jedoch irgendwo im blaugrünen Zwielicht.

Plötzlich löste sich ein Tier aus dem Unterholz. Ein Hase mit dem Schwanz und den Flügeln eines Auerhahns querte mit langen Sprüngen ihren Weg und flüchtete in einen Bau unter einer hohen Wurzel. Thea blickte staunend zu

Wal-Freya. Diese hob die Augenbrauen und zuckte schmunzelnd mit der Schulter.

„War das ein Skvader?“, fragte Tyr.

„Sieht ganz danach aus“, brummte Heimdall.

„Dieser Wald ist erfüllt von Magie“, wisperte Wal-Freya.

Thea runzelte die Stirn. Wal-Freya hatte ihre Worte leise gewählt, aber ihr war die Last nicht entgangen, die dabei auf jedem Wort lag. „Und das heißt?“ Thea sah sich verunsichert um.

„Dass das, was immer hier bekämpft werden muss, selbst Magie anwenden kann.“

Thea richtete ihren Blick in die Baumkronen. Sie waren schon so weit gelaufen, dass man die Ebene vor dem Wald nicht mehr erkennen konnte. Nur die Lichtfäden, die aus dem Blätterdach fielen, spendeten ein wenig Licht. Dort, wo es die Umgebung berührte, wurde es funkelnd zurückgeworfen. Das Eisen schien in jeder Pflanze zu stecken. Trotz der dunklen Umgebung wirkte der Wald nicht bedrohlich auf Thea, im Gegenteil. Er schien geradewegs dem Wunderland entsprungen.

„Wie finden wir nun diese Angrboda?“, fragte Tom in die Stille.

„Fragen. Einfach fragen“, brummte Heimdall.

Tom staunte. „Wen denn?“

„Still!“ Wie auf Kommando hob Heimdall die Hand und blieb stehen. Er drehte sich um, legte den Zeigefinger auf den Mund und deutete vor sich. Thea kniff die Augen zusammen und versuchte, etwas zu erblicken.

„Ich sehe nichts“, brummte Tyr.

„Keiner von uns“, merkte Wal-Freya an.

Augenblicke später schlurfte ein nacktes, pummeliges Wesen heran. Fledermausartige Ohren, von schwabbelnden Hautlappen überwuchert, hingen an seinem Kopf. Dazwischen lagen, über einer breiten Nase, kleine Augen. Seine Arme waren dünn und knöchern, ganz im Gegensatz zum Rest seines Körpers mit den kurzen Beinen. Ein kugeliger Bauch bildete seine Körpermitte. Es tapste heran, ohne auf die Gruppe zu achten. Ihm flatterte etwas hinterher, das wie eine Elfe aussah. Ebenso wie ihr Begleiter war sie nackt und von einer leuchtend blauen Hautfarbe. Nur ihre roten Haare, die im Wind ihrer schwarzen Flügel wehten, bildeten einen Kontrast zu ihrer übrigen Erscheinung. Acht Arme tanzten an ihrem Oberkörper und jagten Thea einen Schauer über den Rücken.

„Was ist das?“, ächzte Tom und wich leicht zurück.

„Ein Troll“, erwiderte Tyr.

„Und das dahinter?“, fragte Thea angewidert.

Ahnungslos hob Tyr die Schulter. „Irgendeine Elfenmutation, denke ich.“

„Sieht wirklich gruselig aus“, kommentierte Wal-Freya.

Das Wesen trappelte auf sie zu und verharrte auf halben Weg, als es die Gruppe erblickte.

„Wir wollen dir nichts tun“, rief ihm Heimdall zu.

Der Troll sah zu seiner Begleitung auf, die alle acht Arme gleichzeitig hob. Während die beiden miteinander sprachen, führte Heimdall die Gruppe rasch zu ihm heran. Der Troll sah sie groß an. Staunend schlug er die Augenlider auf.

Heimdall kniete zu ihm nieder. „Hallo.“

Der Troll öffnete die Lippen zu einem umständlichen Lächeln. „Hola!“

Tyr brummte widerstrebend. „Ich halte es für keine gute Idee, derart offen nach der Person zu fragen, die wir suchen.“

„Ich stimme zu“, erwiderte Wal-Freya.

Heimdall wandte sich um und betrachtete das Grüppchen, das hinter ihm Aufstellung genommen hatte. „Wie sollen wir sie finden, wenn wir nicht nach ihr fragen?“

„Vielleicht fragst du nicht direkt“, meinte Tom.

„Wie kann ich verdeckt nach jemandem fragen?“ Heimdall klang vorwurfsvoll.

Thea, der es nicht gelang, die Elfe aus den Augen zu lassen, bemerkte, dass der Troll nonverbal mit dieser kommunizierte. Die Elfe nickte. Auf einmal flog sie hinter Heimdall, packte seinen Umhang und warf ihn dem Asen über den Kopf, sodass er mit dem Troll zusammen unter dem Stoff steckte. Heimdall fluchte und befreite sich sofort, worauf die Elfe misstönende Laute von sich gab. Indessen sah der Troll enttäuscht aus.

„Aber Heimdall!“, sagte Wal-Freya gedehnt. Sie griff einen Zipfel des Umhangs und wiederholte den Vorgang. „Du wolltest doch verdeckt mit dem Troll sprechen.“

„Hola!“, tönte es unter dem Umhang.

Heimdall lupfte den Stoff und warf Wal-Freya einen missfälligen Blick zu. Diese schmunzelte und bedeutete Heimdall mit einer winkenden Handbewegung, sein Gespräch fortzuführen.

Schnaubend steckte Heimdall den Kopf zurück.

„Ähm. Hola“, hörte Thea Heimdall sagen. „Kannst du uns helfen? Wir suchen nach jemandem.“

„Du kein Troll!“

Heimdall brummte. „Nein! Ich bin kein Troll!“

Thea kicherte und sah zu Tom, der sie amüsiert angrinste. Auch Tyr legte die Faust vor den Mund und unterdrückte ein Lachen.

„Du hast schöne Nase!“ Die Begeisterung des Trolls war nicht zu überhören.

„Du hast auch eine schöne Nase“, erwiderte Heimdall. Seiner Stimme war anzuhören, dass er sich zusammenriss, nicht zu platzen.

Nun kullerten sogar Wal-Freya ein paar Tränen aus den Augen, die ebenso wie Tyr ein Lachen unterdrückte.

Unter dem Umhang waren kleine Hüpfer auszumachen. „Oh nein. Kirix hat nur schöne Ohren!“

„Das stimmt! Aber du hast nicht auf meine Frage geantwortet. Magst du uns helfen?“

„Kirix gern helfen“, tönte die Stimme des Trolls.

„Aber du darfst es niemanden weitersagen. Das Geheimnis muss unter diesem Umhang bleiben.“

„Dieser Umhang!“, bestätigte der Troll.

Die Elfe hatte alle vier Armpaare verschränkt und behielt den Schlupfwinkel fest im Blick.

„Wir suchen eine Mutter … Eine Mutter von etwas Mächtigem …“ Heimdalls Stimme war zu entnehmen, dass er noch immer nach der richtigen Frage suchte. „Wir suchen die Mutter von Hel. Kennst du Hel?“

„Hel?“ Unter dem Umhang machte sich eine Bewegung bemerkbar. „Hel?“

„Ja! Hel!“

„Hel?“ Der Troll legte Bedeutung in den Namen, in dem er ihn endlos in die Länge zog. „Hel? Nein!“ Nun schien er enttäuscht.

Wal-Freya wischte die Tränen und damit ihr Lachen fort. „Frag ihn direkt, Heimdall!“

„Denkst du wirklich?“

„Frau hat uns gehört! Sie kann Geheimnis hören!“, tönte es erschrocken.

„Nein, keine Sorge. Das Geheimnis bleibt unter diesem Umhang. Hel kennst du also nicht, aber vielleicht kennst du Angrboda?“

„Angr…?“

Der Troll wurde von einem Aufschrei der Elfe unterbrochen. Sie legte lange, spitze Zähne blank, schwirrte zeternd vor den Gesichtern der Anwesenden umher und schwang alle acht Fäuste. Der Troll schlüpfte unter dem Umhang hervor. Mit weiten Augen setzte er zwei Schritte zurück und stolperte über eine Wurzel.

„Sie sagt, gefährlich, was ihr sucht!“, rief der Troll.

Die Elfe führte noch immer Drohgebärden aus. Heimdall stand auf und richtete seinen Umhang. Stirnrunzelnd betrachtete er das fliegende Geschöpf, das nun die Arme zu den Seiten ausstreckte und einen durchdringenden Schrei ausstieß. Thea neigte sich zurück, als es vor ihrem Gesicht flog. Tyr nahm den Helm vom Kopf und schwang ihn in einem Bogen. Ein metallisches Geräusch erfüllte die Luft. Vom Helm getroffen schleuderte die Elfe durch die Luft und landete mit einem überraschten Schrei in einer Ansammlung von Farnen. Der Troll riss den Mund auf, stolperte in die Richtung, in der die Elfe gelandet war, und pflückte sie vom Boden auf. Ohne sich noch einmal umzudrehen, verschwand er zwischen den Bäumen. Thea sah ihn in einiger Entfernung durch das Zwielicht huschen.

„Nervtötendes Biest!“, brummte Tyr.

„Das war ja ein voller Erfolg!“, knurrte Heimdall.

Tyr zuckte mit den Schultern. „In einem Wald voller Trolle und Riesen werden wir schon jemanden finden, der Angrboda kennt und uns zu ihr führt.“

Wal-Freya seufzte. „Nur werden die auch nicht mehr Verstand besitzen als diese beiden.“

„Wenn wir nicht vorher von Elfen zerfleischt werden“, erwiderte Tom.

„Und nun?“, fragte Tyr.

„Wollen wir hoffen, dass sie nicht den ganzen Wald in Aufruhr versetzen“, brummte Wal-Freya.

Tyr setzte den Helm wieder auf „Das würde auf jeden Fall spannend werden.“

Sie liefen bis zum frühen Abend, ohne einen Hinweis auf den Aufenthaltsort von Angrboda zu finden. Erst dann machten sie Rast, da Hunger und Müdigkeit sie zum Ausruhen zwangen. Wie schon während ihrer letzten Pause klaubte Heimdall einige Hölzer zusammen, die Wal-Freya sodann entzündete. Im wärmenden Schein des Feuers ließen sie sich nieder, aßen, tranken und reflektierten die Ereignisse des Tages. In der Erinnerung an den kleinen Troll mussten sie noch einmal beherzt lachen. Nur die Horrorelfe, so betonte Tom, trübte die lustige Erinnerung. Irgendwann legten sie sich nieder und während Heimdall versicherte, über die Gruppe zu wachen, schliefen sie nach und nach ein.

Die Midgard-Saga - Jötunheim

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