Читать книгу Das Haus am Atlantik - Alexandra de Wall - Страница 3
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Die einsetzende Dunkelheit löste Panik bei ihr aus. Der Mond zog sich zurück und verschwand allmählich hinter den dichten Wolken. Es wurde eine stockfinstere Nacht. Wie sollte man jemanden in dieser Nacht finden? Diese undurchdringliche Dunkelheit. Und Lukas war immer noch nicht zu Hause.
„Lukas!“. „Luuukas!“
Er war ein so zuverlässiger Junge. Aber warum gerade heute Abend nicht? Eine tiefe Verzweiflung kam über Sylvia. Sie lief durch den Park. Jeden Strauch empfand sie als Bedrohung, als heimliches Versteck, das ihren Lukas festhielt. Die Bäume, die im Sommer grün die Wege säumten, stellten sich ihr jetzt als dunkle Kraken mit kräftigen ausgestreckten Armen in den Weg und verbündeten sich gegen sie. Sie hatten sich Lukas genommen, das Liebste, was sie hatte, und verdarben ihr zudem diesen Abend, auf den sie sich seit Tagen gefreut hatte. Sylvia dachte an ihre Verabredung. Gerade an diesem Abend hatte sie nach sehr langer Zeit einmal wieder eine Verabredung. Sie traute sich, und ein Mann traute sich auch. Es war für sie eine seltene Gelegenheit geworden, mit einem Mann essen zu gehen. Die Männer zögerten, sie einzuladen, und Sylvia ahnte den Grund: Sie hatten Angst vor einer festen Bindung. Nicht im allgemeinen, doch in ihrem Fall. Wer wollte schon eine Frau mit Kind? Die meisten wollten gar kein Kind. Immer weniger konnten sich Männer ein Leben mit Kindern vorstellen. Und wenn, dann wollten sie eigene Kinder haben. Oder hatten eigene Kinder aus früheren Beziehungen. Doch sie liebte Lukas mehr als irgendeinen Mann von irgendwo. Er war ihr Kind. Und nun war es weg.
Während sie lief und verzweifelt nach Lukas Ausschau hielt, kam ihr jener eitle Kerl in den Sinn, der ein Kind von ihr wollte, ein eigenes Kind. Es reize ihn, ein menschliches Wesen selber zu schaffen, hatte er ihr immer wieder ins Ohr geraunt. Das sei ihm so viel wert, dass er dafür sogar die schönsten Jahre seines Lebens opfern würde. Sylvia schauderte, als sie an diesen Mann dachte. Sie hatte ihm den Laufpass gegeben und sich seither von Männern ferngehalten. Solche Väter kamen für Lukas nicht in Frage.
Früher, als sie noch jünger und ohne Kind war, hatte sie sich nicht so wählerisch gezeigt. Lukas war der schöne Beweis. Doch jetzt in ihrem Alter war sie es. Und die etwa gleichaltrigen Männer waren es auch. Wie sollte daraus jemals ein Paar werden? Ein Geräusch, ein Knacken der Äste riss sie aus ihren Gedanken. Lukas? Sylvia rief wieder und wieder seinen Namen. Doch er rührte sich nicht, blieb in der Dunkelheit gefangen.
Sollte sie zur Polizei gehen? Nein, lieber noch einmal bei ihren Eltern anrufen. Vielleicht hatte er sich mittlerweile bei ihnen gemeldet. Oder bei ihrer Freundin? Vielleicht war er auch schon zu Hause. Sie lief mit weit ausholenden schnellen Schritten zurück, als könnte sie das Wiedersehen mit ihrem Sohn verpassen. Ihre Wohnung war nicht weit. Sie lag am Park, der Lukas zum Spielplatz wurde. Er kannte sich darum aus. Es war unmöglich, dass er sich verlaufen hatte. Doch nicht mehr mit fünf! Mit drei Jahren hatte er den Park schon gekannt wie seine Westentasche. Dummes Bild, ging es ihr durch den Kopf. Er hatte gar keine Weste, also auch keine Westentasche. Aber eine Uhr hatte er. Darum war er auch immer so pünktlich. Es war seine Art, ihr zu zeigen, dass er schon groß genug war, die Uhr lesen zu können. Stolz bewies er es durch seine Pünktlichkeit.
Sie schloss die Wohnungstür auf und rief: „Lukas!“ Doch er antwortete nicht. Sie rannte in sein Zimmer. Aber es war leer.
„Mutti, ich bin es noch mal. Hat er sich bei euch gemeldet?“
„Nein, Sylvia, mein Kind. Ruf die Polizei. Hat doch keinen Sinn, die ganze Nacht alleine zu suchen. Oder sollen wir die Polizei anrufen? Schließlich kam er von uns und ist bei dir nicht angekommen.“
„Nein, ich mach das schon“, sagte sie erschöpft und legte den Hörer auf.
„Christine, ist er bei dir? Hat er sich bei dir gemeldet?“
„Nein. Tut mir so Leid. Geh zur Polizei. Die haben mit solchen Fällen doch Erfahrung.“
Sylvia war erschöpft. Ihr graute es vor den vorwurfsvollen Blicken eines Polizeibeamten. Alleinerziehende Mutter? Ach so. Sie hatten wohl keine Zeit, auf ihr Kind aufzupassen? Alles Familienväter mit Ehefrauen und Kindern zu Hause! Sie würden bei ihr an der Stelle bohren, an der sie am verwundbarsten war - an ihrem ständigen schlechten Gewissen, nicht genug Zeit für das Kind zu haben.
Eine Polizeidienststelle war gleich um die Ecke. Sie sollte hingehen. Im Park hatte sie gefroren. Die Nächte waren kalt. Ob Lukas auch fror? Bei diesem Gedanken lief ihr ein Kälteschauer über den Rücken, und sie zitterte. Schnell zog sie ihren Mantel an, riss die Wohnungstür auf und lief eiligen Schrittes hinaus. Mit der Eile wollte sie ihre Entschlossenheit bekräftigen und kein weiteres Zögern zulassen. Sie ging zur Polizei. Die Kälte hatte ihre Angst vor den kritischen Blicken der uniformierten Beamten in einen regungslosen Eisblock verwandelt.
„Das kommt in den besten Familien vor. Machen Sie sich keine Sorgen. Vielleicht ist er nur ausgerissen.“
Der Mann war ein netter Polizeibeamter. Das beruhigte sie. Aber er nahm es zu leicht. Das sorgte sie.
„Er ist doch erst fünf! Da reißt man noch nicht aus. Das machen Vierzehnjährige. Verstehen Sie? Fünfjährige können sich verlaufen. Fünfjährige vergessen beim Spielen die Zeit. Meiner allerdings nicht. Fünfjährige werden.....“
Ihr stockte der Atem. Sie konnte es nicht aussprechen, was ihr in den Sinn kam.
„Wo ist denn der Vater?“, fragte der Polizist.
„Nicht da. Er hat sich nie um das Kind gekümmert. Gezahlt hat er auch nur sporadisch und immer spärlich.“
„Hatte der Vater keine Besuchszeiten?“
„Er wohnt nicht in Deutschland. Regelmäßige Besuchszeiten wären zu kompliziert für ihn. Manchmal haben seine Eltern, also die Großeltern väterlicherseits, ihn für eine Woche abgeholt. Dann hat er ihn manchmal auch gesehen. Manchmal. Ihm liegt nicht viel an dem Kind. Aber was soll das mit dem Vater? Mein Kind ist weg“, regte sie sich auf.
Dieser nette Beamte war wie alle anderen, dachte sie enttäuscht. Er redete über den fehlenden Vater, anstatt nach ihrem Sohn zu suchen.
„Manchmal, liebe Frau, entführen auch die Väter ihre Kinder. Hat es alles schon gegeben. Aber ich will Ihnen keine Angst machen“, sagte der uniformierte Mann in aller Ruhe.
„Er nicht. Er konnte das Kind immer sehen. Aber er hatte kein Interesse. Was wollen Sie jetzt unternehmen?“
„Dann nehme ich erst einmal Ihre Personalien auf. Sie gehen dann nach Hause. Haben Sie übrigens ein Bild von dem Kind dabei? Das könnten wir den Nachtstreifen schon mal geben. Ansonsten muss der Diensthabende morgen früh entscheiden, ob wir eine Großfahndung einleiten.“
„Warum erst morgen früh?“
„Meine Dame, liebe Frau, Sie glauben gar nicht, wie viele solcher Fälle sich in der Nacht erledigen, weil der Entlaufende plötzlich irgendwo aufgetaucht ist. Bei Freunden übernachtet usw. Sie wissen schon.“
„Aber doch nicht mit fünf. Da würden die Eltern des Freundes doch Bescheid geben“, empörte sie sich.
Sie suchte in ihrer Handtasche nach dem Bild, das sie extra für die Polizei eingesteckt hatte. Sie hatte dieses Bild ausgewählt, weil Lukas darauf so natürlich lachte. Hoffentlich konnte er im Moment noch lachen. Ihr wurde übel.
„Haben Sie bitte ein Glas Wasser?“, fragte sie hilfesuchend.
Der Polizeibeamte ging zum Kühlschrank und brachte ihr Mineralwasser.
„Hoffentlich können Sie aus der Flasche trinken. Unsere paar Gläser sind nämlich alle schmutzig. Sie können sich gar nicht vorstellen, welcher Trubel manchmal nachts auf so einer Polizeidienststelle herrscht. Und wir sind chronisch unterbesetzt.“
Sie hinterließ ihre Personalien und wurde mit dem Hinweis, sich sofort zu melden, falls das Kind wieder auftauche, nach Hause geschickt.
Als sie ihre Wohnung aufschloss, hoffte sie, dass der Beamte recht hatte, und Lukas war wieder zu Hause. Sie rief nach seinem Namen. Aber es antwortete niemand.
Sie nahm das Telefon und führte ein Gespräch nach dem anderen. Jeder auch noch so kleinen Möglichkeit, wo er sich aufhalten könnte, ging sie nach. Alle bedauerten und ließen sie in ihrer Sorge allein.
Ihr Vater empörte sich über das Verhalten der Polizei und drohte, die nächsthöhere Dienststelle einzuschalten, wenn die nicht sofort die Suche nach seinem Enkel aufnähmen. Der Mutter gelang es, ihn zu beruhigen.
Ihre Freundin bot sich an, die Nacht mit ihr zu verbringen, damit sie nicht so allein sei. Aber sie lehnte ab.
Sie saß auf dem Sofa, wartete und wartete. Das Telefon fest im Blick. In ihrer Fantasie liefen die schlimmsten Szenen ab. Sie sah seine Leiche. Die Gerichtsmedizin fand heraus, dass er schwer sexuell missbraucht worden war. Sie erhielt einen Anruf. Horrende Lösegeldforderungen kamen auf sie zu. Sie hatte das Geld nicht, und die Polizei sollte nicht informiert werden. Schließlich schlief sie ein.
Am nächsten Tag wurde die Großfahndung eingeleitet.