Читать книгу Das Haus am Atlantik - Alexandra de Wall - Страница 4
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Gegen Abend ging Vera an die felsige Steilküste, wie sie es gestern getan hatte und vorgestern, fast jeden Tag, seit sie in Portugal war. Sie ließ ihren Blick in die Ferne schweifen auf das offene Meer. Zu gerne würde sie ihre Vergangenheit in dieses Meer werfen. Die riesigen Wellen des Atlantiks würden sie mitnehmen bis hinter den Horizont. Sie wollte vergessen - für immer. Doch dieser Gedanke machte ihr auch Angst, Angst vor der Zukunft. Was für ein Mensch würde man sein, wenn man alles Alte vergessen hätte, Neues aber noch nicht da wäre? Dann hätte man keine Vergangenheit mehr, aber auch noch keine Zukunft. Dieser Zustand wäre das totale Nichts. Unsinn, Vera, berichtigte sie ihre Gedanken, das wäre nicht das Nichts; das wäre schlicht die Gegenwart. Eben, stöhnte sie, aber was sollte aus dieser, ihrer Gegenwart werden. Um dieses zu erfahren, brauchte man einen Blick in die Zukunft.
Es quälte sie, nicht zu wissen, was werden sollte. Voller Sehnsucht schaute sie aufs Meer, ohne überhaupt zu ahnen, was sie ersehnte. Wie oft hatte sie mit ihrem Blick die kleinen Segelboote fixiert und deren Besatzungen angefleht, sie mitzunehmen. Doch die spielten mit dem Wind und nahmen keine Notiz von ihr. Sie blieb allein auf dem Felsen. Die Segler sprachen nicht mit ihr, wie auch er nicht mit ihr gesprochen hatte. Zum wievielten Mal in ihrer Ehe war es schon so gewesen. Und immer endete sein Dauerschweigen mit ihrer demütigen Entschuldigung, sie habe den Streit nicht gewollt. Sie entschuldigte sich, auch wenn sie sich keiner Schuld bewusst war. Er hatte sich nie entschuldigt.
„Bom dia“. Der große Mann mit seinen drei Hunden kam vorbei. Er grüßte sie immer so freundlich, wenn sie sich auf dem Felsen trafen. Von allen war er ihr am vertrautesten, obwohl sie außer einem Gruß bisher kein Wort gewechselt hatten. Gleiche Gewohnheiten verbänden, dachte sie, als sie den tollenden Hunden nachschaute. Er kam wie sie regelmäßig an die Steilküste. Sie schienen die gleichen Gewohnheiten zu haben, und schon war er ihr vertraut. Vielleicht hatte es daran gefehlt, an den gleichen Gewohnheiten in ihrer über dreißigjährigen Ehe. Er liebte seine Arbeit, und sie hatte ihre drei Kinder groß gezogen. Nur die Kinder waren ihre gleiche Gewohnheit gewesen. Er hatte sich um sie gesorgt wie sie, nur auf seine Weise. Erwachsene Kinder brauchten die tägliche Sorge nicht mehr. Mit ihnen war auch die gleiche Gewohnheit aus dem Haus gegangen. Und dann war sie gegangen.
Wieder spürte Vera diese entsetzliche Leere, beugte sich vor und sah die hohe Felswand hinunter auf das rauschende Wasser. Wie viele Meter mochten es sein? Zwanzig? Vierzig? In jedem Fall hoch genug, um sich hier das Leben nehmen zu können. Sie wäre nicht die erste, der diese Gedanken kamen. So mancher aus den nordeuropäischen Ländern hatte diese Felsenküste der Algarve für seinen Selbstmord genutzt. Sie schien zu einem Sprung in die Tiefe zu reizen. Nein, darum war sie nicht hierher gekommen. Sie wollte ihr Leben nicht beenden, sondern ein neues beginnen.
„Jetzt reicht`s!“ Das waren seine letzten Worte zu ihr gewesen. Seit Tagen hatte er nichts mehr zu ihr gesagt. Gerade war er wieder hereingekommen und gleich in sein Arbeitszimmer gegangen. Sie hatte im Wohnzimmer gesessen und keine Aktentasche gehört, die er üblicherweise laut in den Flur schmiss, auch kein nettes oder auch weniger nettes „Guten Abend“, schon gar nicht ein „Wie war der Tag, mein Schatz?“ Seitdem die Kinder aus dem Haus waren und ihr Einsatz als Kinderfrau nicht mehr gebraucht wurde, schien sie für ihn nur noch eine außergewöhnliche Belastung zu sein, die zudem noch Sonderausgaben machte. Wahrscheinlich hatte er auch schon geplant, sie als solche beim Finanzamt abzusetzen. Die schmutzigen Socken, die ständig im Wohnzimmer herumlagen, und die ungebügelten Hemden hätte sie der Steuererklärung dann hinzugefügt. Ihre Ehe war eine reine Gewinn- und Verlustrechnung geworden. Saubere Socken gegen die außergewöhnlichen Belastungen.
Dabei hatte alles anders angefangen. Sie hatte ihr Studium an der Fachhochschule gerade abgeschlossen, als ihr Sohn geboren wurde. Sie war 24 Jahre alt. Eigentlich noch zu jung, um ein Leben als Mutter zu beginnen und, wie es schien, auch zu beenden. Wie hatte er gebettelt, dass sie sich seinem Kind widmen solle, weil er es so ungern in fremde Hände geben wolle. Kindererziehung sei schließlich die wichtigste Tätigkeit auf der Welt. Ewig wollte er ihr dafür dankbar sein. Von einem glücklichen Familienleben bis ans Lebensende hatte er geredet. Ehrlicherweise musste sie zugeben, dass ihr das alles damals auch gefallen hatte. Und es hatte ihr auch zwanzig Jahre gut gefallen - bis auf seine immer wiederkehrenden schweigsamen Stunden, wenn es Streit gegeben hatte. Aus den Stunden waren dann Tage geworden, auch Wochen. Jetzt hatte sie dafür gesorgt, dass es schweigsame Jahre, vielleicht Jahrzehnte werden würden.
„Sie sind ja noch immer da. Haben Sie heute ein bisschen mehr Zeit mitgebracht?“
Es war der große Mann mit seinen drei Hunden, der von seiner Tour zurückkam. Durch seine Ansprache fühlten sich die drei Hunde animiert, auf sie zuzuspringen. Sie hatte Probleme, sich der beginnenden Liebkosungen zu erwehren.
„Dorint, Pestana, Vila Vita, aus!“ Energisch pfiff er seine Hunde zurück und lachte.
„Übrigens, ich bin Robert“.
Er streckte ihr seine Hand entgegen.
„Ich heiße Vera“, sagte sie und erwiderte seinen festen Händedruck. „Ungewöhnliche Namen haben Ihre Hunde.“
„Es sind alles Findelkinder. Irgendwelche portugiesischen Mischlinge, die kein Zuhause mehr hatten. Ich habe ihnen eine neue Herberge gegeben. Was liegt da näher, als ihnen Hotelnamen zu geben.“
„Auch eine Idee“, meinte Vera und merkte, dass sie nach langer Zeit einmal wieder lächelte.
„Machen Sie Urlaub in der Algarve?“, fragte er.
Jetzt beginnt er mit dem krampfhaften small-talk, dachte Vera. Wenn sie jetzt seine Frage bejahte, würde er als nächstes wissen wollen, ob es ihr gefalle oder ob sie das erste Mal in Portugal sei.
„Ich weiß nicht, ob man das, was ich zur Zeit mache oder auch nicht mache, Urlaub nennen kann“, meinte Vera.
„Sie sind das erste Mal in Portugal?“, fragte Robert.
Mein Gott, dachte sie, eigentlich fand sie ihn ganz nett, aber der Mann bestand nur aus Standards. Diese Frage passte doch gar nicht zu dem, was sie gesagt hatte.
„Wieso wollen Sie das wissen?“, erwiderte Vera fragend und ein wenig genervt.
Robert schaute sie an. Man sah ihm an, dass Vera ihn verunsicherte.
„Entschuldigen Sie. Ich wollte nicht aufdringlich sein. Ich wollte schon gar nicht lästig sein. Wenn es beliebt, dann mache ich mich jetzt von dannen.“
Das war nun wieder sympathisch, dachte Vera. Er hatte begriffen, dass er ihr nicht so dumm kommen konnte. Wenn sie nur wüsste, was sie wollte. Sollte er bleiben oder nicht?
„Ich wollte nicht unfreundlich sein“, sagte sie. „Um ehrlich zu sein. Eigentlich weiß ich nicht, was ich will. Mit Ihnen hat es nichts zu tun.“
Vera sah ihn fragend an. Ihre Blicke trafen sich, verunsicherte und verunsichernde Blicke.
„Ich glaube, wir haben ein Stück gemeinsamen Weges. Lassen Sie uns doch einfach weitergehen und ein bisschen reden“, schlug Robert vor.
Vera nickte, und sie setzten sich in Bewegung. Dorint, Pestana und Vila Vita schien das recht zu sein. Sie sprangen auf und rannten schon einmal voraus. Robert und Vera schwiegen. Er wollte doch reden, aber schon wieder war da einer, der schwieg, dachte Vera.
„Müssen Männer denn immer schweigen, wenn es kritisch wird?“, fragte sie.
„Versteh Sie nicht. Was meinen Sie damit? Wenn es kritisch wird? Was ist denn im Moment kritisch?“, antwortete Robert erstaunt.
Vera spürte, dass ihr die Röte ins Gesicht stieg. Sie fühlte sich unwohl und sah unauffällig zu Robert hinüber. Der schaute gerade aus und schien ihre plötzliche Unsicherheit nicht zu bemerken. Es war eben lange her, dass sie als Single, eben nicht als Frau eines anderen, einem Mann begegnete.
„Gehören Sie auch zu den Männern, die meinen, Frauen könnten auch das Normalste auf der Welt zum Problem machen und zerquatschen?“, fragte Vera keck.
Robert lachte und unterbrach seinen ansonsten strammen Gang. Vera schaute ihn an. Sein lachendes Gesicht. Die braune Gesichtsfarbe. Eigentlich ein schöner Mann, dachte Vera und fing auch an zu lachen.
„Sie haben recht. Im Grunde ist nichts kritisch. Ist sogar sehr nett hier oben auf dem Felsen. Der Wind ist frisch. Die Sonne noch warm. Frühling in der Algarve ist doch sehr angenehm“, sagte Vera.
„So gefallen Sie mir schon besser“, antwortete Robert. „Vergessen Sie den Alltag und lassen Sie die wunderschöne Natur, das Blaue des Meeres und sein Rauschen, die Sonne, die gelben Blumen, die derb-grünen Sträucher einfach auf sich wirken. Würde man all das malen, es wäre sicher ein Bild voller Kitsch. Nur ein wahrer Künstler könnte diese von allem ausgehende Stimmung naturnah einfangen, ohne farbliche Übertreibung. Aber wer ist schon ein wahrer Künstler?“
„Es gefällt mir, was Sie da sagen. Und es scheint Wirkung zu haben, wenn Sie das wollten. Ich fange an, diese wunderbare Umgebung zu genießen“, sagte Vera lachend.
Robert pfiff nach seinen drei Hunden, die sich zu weit entfernt hatten. Das Herumstehen und Reden der beiden schien sie zu langweilen. Dorint, Pestana und Vila Vita gehorchten und kamen freudig zu ihrem Herrchen zurück.
„Die gehorchen aber gut“, bemerkte Vera anerkennend.
„Ich kann nur jedem raten, sich streunende Hunde zuzulegen und ihnen ein schönes Zuhause zu geben. Wer ein unglückliches Leben kennt, ist schon für ein Quäntchen Glück dankbar und wird alles dran setzen, es zu erhalten. Hunde wie diese drei sind dankbar, dass sie ihrem miesen Leben entkommen sind. Und weil ich der Wohltäter war, lieben sie mich und wollen mich nicht verärgern. Also gehorchen sie lieber“, erläuterte Robert das Verhalten seiner drei Begleiter.
Bei dieser Charakterisierung der drei Hunde ging Vera ein Stich durchs Herz. Irgendwie fühlte sie sich ertappt. War sie nicht auch wie die streunenden Hunde mit einem miesen Leben auf der Suche nach einem Quäntchen Glück? Schnell verdrängte sie diesen Gedanken und versuchte, Fassung zu bewahren.
„Ach, so ist das: eine scheinbar gute Tat, aber eigentlich reiner Egoismus. Mit Fürsorge gekaufte Anhänglichkeit. Haben Sie auch ansonsten ein Helfersyndrom?“, fragte Vera kess.
„Helfersyndrom? Überhaupt nicht. In meinem Leben habe ich mich wohl eher von meinem Egoismus leiten lassen. Da haben Sie leider einen wunden Punkt von mir angesprochen. Das gestehe ich gerne ein. Doch hier in der Algarve sehe ich vieles anders. Es lebt sich einfach leichter.“
Der gemeinsame Spaziergang war bald beendet. Sie steuerten auf einen kleinen roten Kastenwagen zu. Ideal für Hunde, dachte Vera. Das würde sicherlich sein Auto sein.
„Soll ich Sie irgendwohin mitnehmen?“, fragte Robert, während seine Hunde hinten in den Kasten des Autos sprangen.
„Nein, danke. Ich laufe den Rest des Weges gerne noch.“
„Wie Sie wollen. Haben Sie Lust, heute Abend mit mir zu essen?“
„Ich denke, wir sehen uns morgen beim Spaziergang wieder. Heute Abend habe ich leider schon etwas vor“, antwortete Vera.
„Schade. Nun, dann bis morgen“, sagte Robert und gab ihr zum Abschied seine Hand.
„Bis morgen“, erwiderte Vera mit einem festen Händedruck.
Robert stieg in sein Auto und fuhr den holprigen Sandweg entlang zur Straße. Vera schaute ihm nach und fragte sich, warum sie seine Einladung zum Essen nicht angenommen hatte. Was sollte sie schon vorhaben? Sie kannte niemanden und hätte sich gerne noch länger mit ihm unterhalten. Jetzt war sie schon über fünfzig und spielte immer noch das gleiche Spiel wie mit sechzehn. Ein wenig zieren, ihn ein wenig zappeln lassen. Die Oberhand behalten. Ihrer Tochter wäre so ein Verhalten nie eingefallen. Sie hätte kurz überlegt, ob sie mit ihm essen wolle oder nicht, und sich dementsprechend entschieden. Mit ihrer schnörkellosen Art hätte sie sich einfach so verhalten, wie sie wollte. Mutters Verklemmtheit wäre ihr fremd gewesen.
Vera schüttelte den Kopf. Nein, dachte sie, die drei Hunde waren es, die sie zögern ließen. Vera wollte nicht wie sie nach dem ersten besten Strohhalm greifen und sich an ihm in ein neues Leben ziehen. Wieder schüttelte Vera den Kopf. Sie stand sich sogar im Weg, wenn sie noch nicht einmal wusste, wohin ihr Weg sie führte. Aber ihre Tochter hatte auch keine dreißig Jahre Ehe hinter sich. Sie war noch selbständig. Und sie würde auch selbständig bleiben. Da war sich Vera sicher und überlegte, was aus ihrer Art zu leben wohl werden würde. Ihr Frauenleben würde irgendwann auch einen Platz in den Geschichtsbüchern finden. Über die Frauen im Mittelalter wusste man schließlich auch einiges. Nur dass die Geschichte der Neuzeit nicht nur von Männern, sondern in Zukunft auch von Frauen geschrieben werden würde. Ob sie in der Geschichtsschreibung durch Frauen besser wegkäme, fragte sich Vera. Eigentlich zweifelte Vera nicht daran, dass ihre Rolle als Mutter zeitlos mit rührenden Worten dargestellt werden würde. Schließlich hatte man sie nicht gewaltsam ans Haus gefesselt, sondern sie hatte sich freiwillig und gern in den Dienst der Familie gestellt. Die Rolle der treusorgenden Mutter würde auch in Zukunft geschätzt werden, auch von der Wissenschaft. Die Rolle ja, aber würde man auch die Frau schätzen, die die Rolle übernommen hatte? Vera kamen Zweifel. Wahrscheinlich genügte die Rolle, die die Mütter gespielt hatten. Ob es sich um Gertrud, Susanne oder auch Vera handelte, war im geschichtlichen Rückblick wohl weniger wichtig, auch wenn sie noch so gute Erziehungsarbeit geleistet hatten und ihre Kinder ihren Weg erfolgreich gingen. Namentlich würden nur jene in den Büchern festgehalten werden, die in ihrem außerhäuslichen Beruf Hervorragendes geleistet hatten. Also die Väter. Bei diesem Gedanken packte Vera die Wut. Im Grunde hatte sie nur das Frauenleben des Mittelalters in die Neuzeit fortgeschrieben, dachte sie. Aber war das Frauenleben im Mittelalter überhaupt so gewesen, wie man es lesen konnte?
Während sie sich dem Dorf näherte, in dem sie sich ein kleines Apartment gemietet hatte, fielen ihr die Hexen ein. Sie war erst vierundfünfzig. Warum nicht noch umsteigen in eine andere Rolle? Es musste doch nicht immer die unschuldige Maria sein. Die Eva mit ihrem Auszug aus dem Paradies hatte auch ihren Reiz. Der Gedanke amüsierte sie. Vielleicht schaffte sie es noch in die Schlagzeilen der Boulevardzeitungen: „Vera, die Hexe, wurde nach einer langen Hexenjagd auf dem Scheiterhaufen verbrannt“.
In der Rua Barranco betrat sie einen Zeitschriftenladen. An den Tageszeitungen vorbei ging sie zu der Wand, an der die Zeitschriften lagen. Ihr war nach BRIGITTE, BUNTE oder Ähnlichem. Die vielen Presseprodukte erschlugen sie, als sie sah, wie viele Blätter gekauft werden wollten. Wie sollte man sich da entscheiden? Hier gab es nicht nur deutsche, sondern auch portugiesische, englische, holländische, spanische und französische Zeitschriften. Die Algarve war eben ein Touristengebiet mit Leserinnen aus allen Teilen Europas. Auch russisch hörte man auf den Straßen. Zunehmend, wie Algarvekenner Vera erzählt hatten. Gerade in den letzten Jahren hatte es einen starken Zustrom gegeben. Sie kamen aus der Ukraine, legal, auch illegal, waren eben keine Touristen, sondern Arbeiter auf dem Bau, Putzfrauen, Kellnerinnen. Hier war es richtig multikulturell. Ganz anders als in ihrer Kleinstadt, in der sie so viele Jahre gelebt hatte. Dort sprach man deutsch. Auch die wenigen türkischen Familien hatten sich eingelebt. Ihre Kinder waren schon eher Deutsche als Türken.
Vera suchte deutsche Zeitschriften. Auch deren Auswahl war groß. Ihr Blick fiel auf eine Zeitschrift, von der sie noch nie gehört hatte. „Entdecken Sie Algarve. Das deutschsprachige Magazin“ hieß sie. Vera nahm ein Exemplar und blätterte ein wenig. Sie entschied sich, diese Zeitschrift mitzunehmen und auf die BRIGITTE zu verzichten. An der zentralen Kasse sprach man sie auf englisch an. Gott sei Dank verstand sie englisch. Die schienen zu meinen, alle Nordeuropäer könnten englisch sprechen.
Sollte sie schon in ihre nahegelegene Wohnung gehen oder sich auf eine Bank an dem kleinen Dorfstrand setzen? Vera zögerte. Immer diese Unschlüssigkeit. Sie hasste sich mittlerweile selbst. Sie fühlte sich gar nicht mehr erwachsen, sondern immer hilflos auf der Suche nach irgendetwas. Konnte eine lange, sehr lange Ehe jemanden so un-selbständig machen? War die Ehe ein Korsett, das festen Halt gab oder nur zuschnürte? Niemand würde ein festes Korsett wirklich vermissen. Schließlich behinderte es das freie Durchatmen. Nein, sie vermisste nicht das Korsett, sondern alles und alle. Ihre Freundin Monika zum Beispiel, aber auch ihre kleine Stadt, die vertrauten Wege, das Grüßen auf der Straße. Hier grüßte sie niemanden. Wen denn auch?
Vera setzte sich auf die runde Bank mit dem Blick zum Meer. Ein deutschsprachiges Magazin mit einem farbenfrohen Titelbild. Einer alten Gewohnheit folgend, blätterte sie die Seiten auf, die Kleinanzeigen versprachen. Kleinanzeigen zeigten das wahre Leben. Wer suchte was, wer bot was, und wer wollte was. Kleinanzeigen boten einen Schnelldurchlauf durchs tägliche Leben. In Deutschland zumindest. Vera war neugierig, wie sie sich in der Algarve darstellten. Die Rubriken waren ihr geläufig: Immobilienangebote, Mietgesuche, Vermietungen, Stellengesuche, Stellenangebote. Aber dann gab es auch eine Rubrik Ferien/Flüge oder Gesundheit/Wellness. An solche Kleinanzeigen in der Heimatzeitung ihrer Stadt konnte sie sich nicht erinnern. Vera nahm sich als erstes die Stellenangebote vor. Vielleicht fände sich dort auch etwas für sie, dachte sie. Hexen würden sicherlich nicht gesucht, aber vielleicht Ähnliches.
HAUSMEISTERPAAR GESUCHT. WOHNWAGEN ZUR UNTERKUNFT VORHANDEN.
Den Wohnwagen würde sie gegebenenfalls nehmen, aber in Ermangelung eines Mannes könnte sie sich nicht als Hausmeisterpaar verdingen, dachte Vera. Gott sei Dank, fügte sie im Stillen hinzu.
SEKRETÄRIN FÜR BÜRO GESUCHT: DEUTSCHE; ENGLISCHE; POR-TUGIESISCHE SPRACHKENNTNISSE VORAUSSETZUNG.
Mit zwei Sprachen konnte sie dienen, aber beim Portugiesischen war bei ihr nichts zu holen.
WIR VERWALTEN UND VERMIETEN LUXUSVILLEN. FÜR DAS SOM-MERGESCHÄFT SUCHEN WIR APARTE, FREUNDLICHE DAME ZUR GÄSTEBETREUUNG. DEUTSCHE UND ENGLISCHE SPRACHKENNTNISSE NOTWENDIG.
Das gefiel Vera. Ein wenig mit den Gästen zu plaudern, ihnen hier und da zur Hand zu gehen. Das würde sie über den Sommer durchaus machen. Dann könnte sie weitersehen.
Vera überlegte, ob sie sich bewerben sollte. Was hatte sie für diese Tätigkeit vorzuweisen. Sie war eine gelernte Sozialpädagogin ohne Berufserfahrung. Dafür hatte sie drei Jahrzehnte Familienarbeit auf dem Buckel. War sie wenigstens apart, wie in der Anzeige gefordert? Wer hatte die Stellenanzeige aufgegeben? Es war nur eine Chiffre ausgewiesen, Nummer 0700.
Vera blätterte in dem Magazin, um sich die weiteren Artikel anzusehen, konnte sich aber nicht mehr konzentrieren. Immer wieder kam ihr die Anzeige in den Sinn. Sie stand auf und ging an das Wasser. Es gab schon einige Mutige, die in die Fluten gingen. Wie kalt mochte das Wasser im April sein? 15 Grad, 16 Grad? Der Atlantik konnte sich noch nicht sehr aufgeheizt haben. Er war schließlich nicht das kleine Mittelmeer. Und auch das war um diese Zeit noch nicht warm. Die mutigen Leute im Wasser sprachen englisch. Sie unterhielten sich so laut über ihr Wasservergnügen, dass man sie schnell identifizieren konnte. In der kurzen Zeit, in der sie nun im Süden Portugals war, hatte Vera die englischen Touristen schon mehrmals bewundert. Sie neigten dazu, auch bei schlechtem Wetter in Shorts und T-Shirt herumzulaufen wie in einem heißen Sommer. Ihre grüne Insel schien sie abzuhärten. Oder sie wähnten sich im Süden, wo es schließlich immer warm sein sollte. Allen Wetterkapriolen zum Trotz zogen sie sich darum sommerlich an.
Das wären zum Beispiel die Gäste, die von der aparten Dame betreut werden sollten, dachte Vera. Eigentlich sehnte sie sich danach, sich wieder um jemanden kümmern zu können. Ihr Haus in Deutschland war immer äußerst sauber gewesen und der Garten sehr gepflegt. Es hatte ihr Spaß gemacht, alles in Stand zu halten. Ihr kleines portugiesisches Apartment hingegen vernachlässigte sie. Viel zu selten konnte sie sich motivieren, zu wischen oder zumindest die alten Zeitungen zu entsorgen. Es fehlte ihr die Lust. Sie hatte sich schon sehr verändert, diagnostizierte Vera ihren Zustand und widersprach ihren Gedanken sofort. Im Grunde hatte sie sich gar nicht verändert. Es fehlten nur die Menschen, die sie umsorgen konnte. Wenn sie mit anderen zusammenleben würde, wäre sie wieder die Alte. Dann lohnte es sich, sauber zu machen, damit die anderen sich in dem schönen Ambiente wohl fühlen konnten. Das wäre ihr Motivation genug. Doch das alles nur für sich alleine zu machen, reichte ihr nicht. So viel war sie sich nicht wert.
Bei diesem Gedanken erschrak Vera. War sie sich wirklich nicht so viel wert? Sie schüttelte heftig den Kopf und ärgerte sich über ihre Frage. Natürlich war sie sich viel wert. Sie hielt sich sogar für eine stolze Frau. Dennoch wurde es ihr immer klarer, dass sie andere brauchte, um sich wertschätzen zu können, um stolz auf sich zu sein. Ja, um sich selber auch wohl zu fühlen. Wenn andere neidisch, eifersüchtig waren, wusste sie, dass sie etwas hatte, was andere begehrten. Das hatte ihr immer gefallen. Wenn andere sich bei ihr wohl fühlten, wusste sie, dass sie es verstand, ein gutes Ambiente, eben ein Wohlfühlklima zu zaubern. Diese gefühlten Bestätigungen fehlten ihr, hatten zuletzt eben auch in ihrer Ehe gefehlt. Plötzlich war es Vera sonnenklar, was sie wollte, was sie brauchte, wie sie ihr Leben gestalten wollte. Ihr Entschluss, sich um die Gästebetreuung zu bewerben, stand fest. Sie brauchte Menschen, um sich wohl zu fühlen.
„Do you enjoy your holidays? Or are you missing anything?”, rief sie der englischen Gruppe euphorisch zu. Vera war aufgesprungen und winkte den Engländern heftig zu. Einige von ihnen sahen sie erstaunt an, andere lachten.
„We are fine, thank you! Do you have any problems?”, antworteten einige junge Männer und lachten.
Vera erschrak. Der Teufel musste sie geritten haben, diese Fremden so anzusprechen. Sie stand auf und verließ den kleinen Dorfstrand, ohne sich noch einmal umzusehen. Das Gelächter der Engländer begleitete sie.
Sie ging zu dem Zeitschriftenladen zurück, um Briefpapier und Briefumschläge zu kaufen. Sie war entschlossen, noch heute Abend ihre Bewerbung zu schreiben. Sie wollte diesen Job jetzt unbedingt, auch wenn sie nicht wusste, was sie wirklich erwartete. An der Kasse fragte sie nach Briefmarken. Wieder wurde sie in englischer Sprache bedient. Die Frau hinter dem Ladentisch wollte von ihr wissen, ob sie etwas innerhalb Portugals, nach Spanien oder in andere europäischen Länder verschicken wolle. Obwohl Vera die Fragen der Frau ein wenig indiskret fand, gab sie Antwort. Da sie einen Brief innerhalb Portugals versenden wollte, war das Briefporto billiger. Im Nachhinein fand Vera die Frage der Frau sehr fürsorglich und bedankte sich.
Sie suchte einen Tisch im nahe gelegenen Café und bestellte sich einen Milchkaffee, einen café com leite, wie er auf portugiesisch hieß. Die Abendsonne hatte noch viel Kraft, und Vera genoss die Wärme. Sie nahm sich die Anzeige noch einmal vor und überlegte, wie sie sich bewerben solle. Wie konnte sie deutlich machen, dass sie apart und freundlich war? Jetzt hätte sie Monika brauchen können. Sie wüsste sicherlich, wie Vera sich erfolgreich anbieten könnte. Monika war ihre beste Freundin. Sie hatte ihr geraten, einfach wegzugehen und etwas Neues anzufangen.
Kennen gelernt hatten sie sich in der Stadtbücherei. Ein schwedischer Kriminalschriftsteller hatte sie zusammengeführt. Håkan Nesser. Vera wollte ihn unbedingt lesen und hatte einige Bücher von ihm vorbestellt. Und Monika hatte sie ausgeliehen und vergessen, sie zurückzugeben. Sie war eine säumige Büchereikundin. Eines Tages hatte Vera die Nase voll, länger auf die Bücher zu warten. Frau Schmidt, die Stadtangestellte der Bücherei, hatte noch einmal versucht, sie zu vertrösten. Vera war explodiert und hatte gedroht, die Bücher selbst zu kaufen und der Stadt in Rechnung zu stellen. Ihr Redeschwall allerdings war damals abrupt von einer Frauenstimme unterbrochen worden:
„Das müssen Sie doch gar nicht! Hier sind die Bücher!“
„Ach, was Sie nicht sagen. Sie sind das also, die Håkan Nesser allein und, noch dazu, viel zu lange für sich beansprucht hat!“
„Na, und? Bin ledig. Welchen Mann ich wie lange für mich beanspruche, ist alleine meine Sache?“
„Im Bett vielleicht, Gnädigste. Aber nicht hier in der Stadtbücherei!“, hatte Vera noch geantwortet, bevor beide herzlich und laut loslachten.
Ihre Freundschaft war besiegelt gewesen. Sie mochten sich und waren doch so verschieden. Monika, die stets hervorhob, dass sie ledig und frei sei. Und Vera, langjährige Ehefrau und Mutter. Monika hatte ihr mehr gegeben, als diese ahnte. Einen Raum, in dem sie ein anderes Leben führen konnte, in dem sie Vera war und nicht die Mutter von, schon gar nicht die Ehefrau von. Denn er war nie dabei gewesen, wenn sie sich trafen. Es hatte ihn auch nicht interessiert, was die beiden Freundinnen machten. Anfangs hatte sie noch versucht, ihm von ihren gemeinsamen Erlebnissen zu berichten. Wenn er dabei Zeitung gelesen hatte, behauptete er, er könne auch beim Lesen zuhören. Das sei beruflich antrainiert. Als er allerdings einmal während ihrer Erzählungen den Fernseher anstellte, hatte sie sich laut beklagt und den Fernseher ausgestellt. Die Übertragung eines Fußballspiels stand auf dem Programm.
„Mann, das sind Profis. Verstehst du? Die verdienen viel Geld damit, weil sie etwas können! Verdient deine Monika auch so viel Geld?“, hatte er sie angebrüllt.
Vera hatte den Kopf geschüttelt.
„Dann wunderst du dich, dass ich lieber Fußball schaue?“
Wütend hatte er den Fernseher wieder angestellt.
Das war ungefähr das letzte Mal gewesen, dass sie ihm etwas von Monika erzählt hatte.
Was würde Monika ihr raten? Sie war so weit weg, und Vera konnte sich ihre Worte nicht vorstellen. Um sie herum saßen Touristen, die keine Notiz von ihr nahmen. Früher hätten sich zumindest die Männer nach ihr umgedreht, dachte Vera. Vielleicht war sie nicht mehr apart. Sie beschloss, ihre Attraktivität zu testen.
An einem der Tische saß ein einzelner Mann, der die Süddeutsche Zeitung las. Also kein Engländer, stellte Vera erleichtert fest und dachte an ihr Erlebnis am Dorfstrand. Sie wollte es mit den Engländern schließlich nicht übertreiben und ihre Versuche zwischen den Nationen verteilen. Außer ihrem Mann, der hier keine Rolle spielte, hatte sie lange keinen deutschen Mann mehr auf die Probe gestellt. Von Robert einmal abgesehen. Aber der kümmerte sich um seine streunenden Hunde, die sein Herz nicht nur auf Grund ihrer Attraktivität erobert haben konnten. Vera stand auf und ging zu dem Mann mit der Süddeutschen Zeitung.
„Entschuldigung. Haben Sie einen Stift für mich. Ich muss mich nämlich beschreiben. Finden Sie mich übrigens apart?“
Der Mann legte seine Zeitung zur Seite und schaute sie musternd von oben bis unten an. Vera versuchte, seinem Blick standzuhalten.
„Drehen Sie sich doch bitte einmal um“, sagte der Mann mit einem breiten norddeutschen Akzent.
„Was soll ich?“, fragte Vera.
„Sie sollen sich einmal umdrehen“, wiederholte er trocken.
„Wie komme ich denn dazu!“, empörte sich Vera. „Wir sind doch nicht bei einer Tierauktion, wo man die Tiere von oben bis unten mustert, bevor man sie kauft!“
Der Mann holte einen Stift aus seiner Hemdentasche und reichte ihn Vera.
„Bitte. Da ist ein Stift. Viel Spaß. Es wäre schön, wenn Sie ihn mir nach getaner Arbeit zurückgeben könnten. Im Urlaub fehlt mir der Schreibtisch, der für Nachschub sorgen könnte.“
Vera nahm den Stift, und er widmete sich wieder seiner Zeitung. So ein unverschämter Kerl! Vera hätte ihn vor Wut anschreien können. Aber sie blieb ruhig und ging an ihren Tisch zurück. Na, das war vielleicht ein unhöflicher Typ! Vera hatte immer noch Mühe, ihre Wut zu zähmen, und setzte sich auf ihren Stuhl. Um sich abzulenken, bestellte sie sich noch einen Milchkaffee. Dann packte sie das Briefpapier aus und fing an, ein Blatt zu beschreiben. Nach dieser kühlen Begegnung fehlte ihr jede Fantasie, sich als aparte Frau zu bewerben. Also schrieb sie immer das Gleiche: „Der unhöfliche Mann liest die Süddeutsche. Der unhöfliche Mann liest die Süddeutsche.“ Nachdem sie den Satz zehnmal geschrieben hatte, kam sie sich lächerlich vor und schrieb: „Was kann die arme Süddeutsche dafür, dass so einer sie liest. Aber als Frau wird sie sich gegen ihn nicht wehren.“
Vera stand auf und ging zu dem Norddeutschen.
„Vielen Dank. Ich brauche den Stift nicht mehr. Können Sie die Süd-deutsche überhaupt verstehen?“
Er sah sie erstaunt an.
„Ich meine nur, weil sie doch einen ganz anderen Dialekt sprechen. So breit, wie Sie sprechen, können die Journalisten der Süddeutschen gar nicht schreiben. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Abend.“
Vera drehte sich um, empfand eine ungeheure Genugtuung und ging wieder zurück zu dem Zeitschriftenladen. Sie brauchte einen Stift.
Wohin sollte sie anschließend gehen, um an ihrer Bewerbung zu arbeiten? Die meisten Plätze waren verbraucht. Der Dorfstrand war sicherlich immer noch voller Engländer, und in dem Café saß der Norddeutsche mit der Süddeutschen. Vera hatte sich wieder einmal selbst verbarrikadiert. Den Mut, diesen allen heute noch einmal zu begegnen, hatte sie nicht.
Die Sonne ging in einem leuchtenden Rot unter, und bald würde es Nacht. Gerne wäre sie noch einmal an die Steilküste gegangen. Das Rauschen des Meeres hätte ihre Fantasie vielleicht beflügelt und das Aparte in ihr entpuppt. Wenn es schon keinen Prinzen gab, der sie küsste, dann könnte aus ihr als kriechender behaarter Raupe mit Glück vielleicht dennoch ein wunderschöner Schmetterling werden. Doch in der Dämmerung und der nahenden Dunkelheit traute sie sich nicht, an die Steilküste zu gehen. Die Einsamkeit, die sie sonst so liebte, flößte ihr nun Furcht ein. Es war lange her, dass sie alleine in der Dunkelheit spazieren gegangen war. Wohl über dreißig Jahre. Seit der Hochzeit hatte sie in der Dunkelheit immer einen Begleiter gehabt, ihren Ehemann, oder sie war zu Hause geblieben. Oder Monika war bei ihr gewesen. Vera entschloss sich, in ihr Apartment zu gehen. Bei einer Flasche Rotwein würde ihr sicherlich etwas einfallen. Ihr Apartment war in der Rua Barranco.
Nachdem sie ihren Stift bezahlt hatte, verließ sie den Zeitschriftenladen, der nicht weit von ihrem Apartment entfernt war. Sie war gerade ein paar Schritte gegangen, als sie hinter sich eine männliche Stimme hörte.
„He, Sie! Sie haben Ihre Zeitschrift im Laden vergessen!“
Vera fiel auf, dass sie die „Entdecken Sie Algarve“ nicht mehr in der Hand hatte. Da waren nur noch Briefpapier, Briefumschläge und Stift. Sie drehte sich um und sah einen kleinen schwarzhaarigen und braun gebrannten Mann. Er war ein Portugiese, vermutete sie. Er strahlte, als er merkte, dass sie anhielt, und streckte ihr die Zeitschrift entgegen.
„Die Frau im Laden sagte, dass die Zeitschrift Ihnen gehört“, sagte er.
„Ja, danke. Nett von Ihnen, mir die Zeitschrift zu bringen.“
Vera setzte ihr freundlichstes Lächeln auf.
„War mir ein Vergnügen, sehr verehrte Dame.“
Vera nahm die Zeitschrift und lächelte noch einmal. Dann drehte sie sich um und ging. Der freundliche Portugiese folgte ihr.
„Kann ich Ihnen noch irgendwie behilflich sein?“, fragte er.
„Nein, danke. Es war nett von Ihnen. Doch jetzt habe ich keine Zeit mehr“, antwortete Vera. „Woher können Sie so gutes Deutsch?“
„Ich habe ein paar Jahre in Deutschland gearbeitet. In Köln.“
„Schön. Es war nett, Sie kennen gelernt zu haben. Auf Wiedersehen“, sagte Vera und beschleunigte ihren Schritt. Doch der Portugiese schien sich nicht entfernen zu wollen und hielt im Schritt mit.
„Ich heiße Antonio.“
„Ich nicht“, antwortete Vera kurz und ließ ihn endgültig stehen.
Sie war vor dem schmalem Haus in einer langen zweistöckigen Häuserzeile, in dem sie ein Apartment gemietet hatte, angekommen und verschwand schnell im Flur. Sie lief die Treppe hinauf, bis sie im zweiten Stock ihr Apartment erreicht hatte, ging hinein und schloss die Tür hinter sich zu. Jetzt fühlte sie sich sicher. Ihr Apartment hatte für portugiesische Verhältnisse eine gute Ausstattung. Es hatte eine kleine Elektroheizung aus Keramik und Schamott, die ihr an den Abenden eine wohlige Wärme spendete. Bei der Suche nach einer kleinen Wohnung hatte Vera besonders darauf geachtet, dass die Zimmer heizbar waren. Aus vielen Aufenthalten im Süden Europas während des Winters oder im Frühling hatte sie gelernt, dass man in diesen sonnigen Gegenden abends in den Häusern durchaus frieren konnte. Es fehlten die Heizungen, und die Häuser waren schlecht isoliert. Aus den wohl temperierten Wohnungen Deutschlands kommend, hatte sie so manches Mal feststellen können, dass man nirgendwo im Winter so gut frieren konnte wie im Süden, obwohl der Frost fehlte.
Auch jetzt stellte Vera die Heizung an. Denn die Nächte im April konnten an der portugiesischen Atlantikküste noch sehr kühl sein. Sie ging an ihre Küchenzeile, um sich einen schwarzen Tee aufzubrühen. Dann bereitete sie sich einen kleinen Salat aus Tomaten, Zwiebeln, Essig und Öl zu und würzte ihn abschließend mit Salz und Pfeffer. Leider hatte sie noch keinen Basilikum in den Gemüseläden gefunden. Aber die Tomaten und Zwiebeln waren so schmackhaft, dass ihr der Salat auch ohne die Kräuter schmeckte.
Während sie aß, kam ihr wieder die Stellenanzeige in den Sinn. Gesucht wurde eine aparte, freundliche Dame zur Gästebetreuung. Sie dachte an die Engländer, den Norddeutschen und den Portugiesen. Anstatt ihre Bewerbung zu schreiben, hatte sie in kurzer Zeit genügend Zeugen produziert, die sich schwer tun würden, ihr Freundlichkeit zu bescheinigen. Vera zweifelte, ob sie für die Gästebetreuung geeignet war. Es war nicht das erste Mal, dass sie mit ihrer aufdringlichen und auch frechen Art bei anderen aneckte. Letztendlich war auch das endgültige Zerwürfnis mit ihrem Mann auf ähnliche Vorkommnisse zurückzuführen. Auch wenn seine Unnachgiebigkeit alles verschlimmert hatte, wie Vera meinte. Sie erinnerte sich noch gut an jeden einzelnen ihrer ängstlichen Atemzüge, als eines späten Morgens die Polizei vor ihrer Tür gestanden hatte. Ihr hatte jeder Mut gefehlt, die Tür zu öffnen. Als ihre stets hilfsbereite Nachbarin dann noch gemeint hatte, der Polizei helfen zu müssen, nahm das Unglück seinen Lauf.
„Häufig geht sie morgens Einkäufe machen, holt dann ihren Mann von der Firma ab, und beide gehen irgendwo zusammen essen“ hatte die Liebe geflissentlich gesagt.
Vera war damals sofort klar gewesen, dass die Polizei bei ihrem Mann nachfragen würde. Vollkommen richtig beschrieb ihre Nachbarin dann die Firma ihres Mannes und den Weg dorthin. Durch die tatkräftige Mithilfe ihrer Nachbarin war ihre Haustür nun frei geworden, von der Hausbesetzung der Uniformierten befreit. Doch jetzt gingen sie zu ihrem Mann in die Firma. Vera hatte damals sofort geahnt, was das bedeutete. Zu Hause würde Schlechtwetter aufziehen. Gewitter, Donnerschlag und Blitz. Der Blitz schlug auch ein. Doch dass er das Haus abbrennen würde, hatte sie nicht geahnt. Jetzt war sie allein in Portugal.
Damals hätte sie am liebsten die Tür verschlossen, als er abends nach Hause kam. Doch leider hatte sie vor Jahrzehnten die Entscheidung getroffen, mit ihm Tisch und Bett zu teilen. Zwangsläufig hatte er damit auch einen eigenen Haustürschlüssel. Sie hörte, wie er seine Aktentasche in den Flur schmiss, und ahnte, was kommen würde.
Also hatte sie sich in die Zeitung vertieft, als er die Wohnzimmertür öffnete.
„Benimm dich nicht wie unsere Kinder, als sie noch klein waren. Auch wenn du die Hände vor die Augen hältst, kann ich dich trotzdem sehen. Was meinst du, welchen Besuch ich heute in der Firma hatte?“
Sie hatte beharrlich geschwiegen.
„Die Polizei war bei mir. Doch eigentlich wollten sie gar nicht zu mir. Sie wollten zu dir!“
„Zu mir, warum denn?“
„Ich glaube, das weißt du genau. Schließlich haben sie dir schon geschrieben, dass du einmal vorbeikommen solltest. Stimmt das?“
Er hatte einen beißenden Ton angeschlagen, so dass Vera meinte, antworten zu müssen.
„Ach so. Das meinst du“, hatte sie desinteressiert erwidert.
„Das meine ich. Gegen dich liegt eine Anzeige wegen Belästigung vor. Stimmt`s?“
„Das ist übertrieben“, hatte sie ihm kurz geantwortet.
„Übertrieben? Die haben mir erzählt, dass der Wunderknabe im Fernsehen, der Schwarm aller Frauen, der, der die Show am Samstagabend moderiert, dich wegen Belästigung anzeigen will. Er hat die Polizei gebeten, mit dir zu reden. Falls du geständig und - ich betone – reuig sein solltest, will er von einer Anzeige absehen. Darum wollte die Polizei mit dir reden. Was sagst du dazu?“
Er hatte sie so herausfordernd angesehen, dass sie keine Chance mehr gesehen hatte, sich unwissend zu stellen.
„Na ja. Der Kerl übertreibt. Zugegeben. Ich fand ihn einfach hinreißend. Da habe ich ihm ein paar Mal geschrieben, habe die Hotels herausgefunden, in denen er jeweils abstieg, ihn hin und wieder angerufen und so. Er soll sich nicht so aufregen, sondern sich freuen, dass er den Frauen gefällt.“
„Und so, ist gut. Du weißt wohl gar nicht, wie aufdringlich du sein kannst. Hast ihn nicht nur angerufen, sondern ihm auch in den Hotels aufgelauert, ihn regelrecht, ja, ich benutze das Wort, ihn regelrecht belästigt. Stalking nennt man das!“, hatte ihr Mann, außer sich vor Wut, gebrüllt.
„Ich wollte ihn sprechen. Das stimmt. Aber das ist doch kein Verbrechen, wenn eine Frau einen Mann in der Hotellobby anspricht“, hatte sie sich verteidigt.
„Ansprechen nennst du das? Die Polizei sagte, du seiest ihm um den Hals gefallen. Als er sich wehrte, hättest du laut geschrieen.“
„Er wurde grob. Das muss ich mir doch nicht gefallen lassen.“
„Er wurde grob? Wenn jemand grob war, dann doch wohl du! Ihm gegenüber, aber auch mir gegenüber. Was fällt dir ein, solche Szenen in Hotellobbys aufzuführen? Was sollen die Menschen denn von dir denken, von unserer Ehe und damit auch von mir?“
Ihr Mann hatte sich so erregt, wie lange nicht mehr.
„Die Menschen sollen denken, was wahr ist. Dass du keine Zeit für mich hast, dass du mit deiner Firma verheiratet bist, dass du vielleicht sogar ein Verhältnis mit deiner Sekretärin hast. Was sollen sie sonst denken?“
„Jetzt reicht`s“.
Das waren seine letzten Worte gewesen.
Jetzt saß Vera allein in einem Apartment in der Algarve und suchte nach Arbeit. Sie brachte ihr Geschirr in die Küchenzeile und stapelte es zu den anderen schmutzigen Tassen und Tellern. Wenn sie eine Geschirrspülmaschine hätte wie in Deutschland, dann wäre dieser kleine Berg an schmutzigem Geschirr in der Maschine verstaut und unsichtbar. So allerdings blieb ihr der Anblick nicht erspart. Sie überlegte kurz, alles abzuspülen, entschied sich dann aber, nur ein Weinglas zu säubern. Vera öffnete eine Rotweinflasche, nahm sich die „Entdecken Sie Algarve“ und las die übrigen Artikel. Die Kleinanzeigen mied sie an diesem Abend. Als sie die Flasche geleert hatte, ging sie ins Bett.
Wie immer wurde sie am nächsten Morgen von der Sonne geweckt, die bis zur Mittagszeit durch die Fenster schien. Gegen Nachmittag lag ihr Apartment im Schatten, wodurch es abends in dem Raum sehr kühl wurde. Unter der Dusche überlegte sie, wie sie den Tag verbringen sollte. Ihr fiel die Stellenanzeige ein und nahm sich vor, heute die Bewerbung zu schreiben.
Wie viele Portugiesen hatte sie sich angewöhnt, ihr Frühstück in einem Café einzunehmen. Sie nahm sich das Briefpapier und den Stift und hoffte, ihr würde am frühen Morgen genug einfallen, um die Bewerbungszeilen zu schreiben.
Morgens mied sie die Cafés, in denen die Touristen verkehrten, und wählte bescheidene portugiesische Cafés. Hier war der Kaffee billiger und besser und die Atmosphäre alltäglich. Fern der touristischen Aufgeregtheit.
Nachdem sie ihren Milchkaffee mit Brötchen bestellt hatte, entfaltete sie das Briefpapier.
Zunächst die Adresse: Vera van Berg, Rua Barranco, Carvoeiro. Ein Telefon hatte sie nicht, noch nicht einmal eine portugiesische Handy-Nummer. Sie bereute, dass sie sich darum noch nicht gekümmert hatte.
Sehr geehrte Damen und Herren,
darf ich mich Ihnen kurz vorstellen. Ich heiße Vera van Berg....
Sie stockte. Sollte sie den Namen im Brief noch einmal erwähnen? Schließlich stand er schon oben im Absender. Noch nie in ihrem Leben hatte sie eine Bewerbung geschrieben. Ihr wäre es viel lieber gewesen, ohne einen schriftlichen Vorlauf in ein Büro zu gehen und sich vorzustellen. Aber wo wohnte diese Chiffre?
Vera legte den Stift zur Seite und fing an, sich ihrem Frühstück zu widmen.
„Na, schreiben Sie einen Brief an Ihre Lieben, die zu Hause bleiben mussten?“
Vera schaute auf, um zu sehen, welche männliche, ihr irgendwie vertraute Stimme sie ansprach. Es war Robert. Als sich ihre Blicke trafen, lachte er.
„Störe ich oder darf ich mich zu Ihnen setzen?“, fragte er.
„Nein, Sie stören nicht. Ich weiß ohnehin nicht, was ich schreiben soll“, antwortete Vera und wies ihm mit einer kleinen Geste einen Stuhl an.
Robert setzte sich. Er hatte sich seinen Kaffee von der Theke mitgebracht und nahm einen kräftigen Schluck, während er Vera anschaute.
„Dass ich sie nun auch am Morgen treffe, finde ich putzig. Wir haben wohl ähnliche Gewohnheiten“, meinte Vera und hoffte, dass er sie nicht weiter so anschauen möge.
„Frühstücken Sie etwa auch immer hier?“, fragte Robert und lockerte seinen Blick.
„Fast jeden Morgen.“
„Wenn Sie Ihren Brief weiterschreiben möchten, kann ich mich auch an den Nebentisch setzen.“
Und dann würde er sie von da aus anschauen, dachte Vera.
„Das brächte nur was, wenn Sie kurzsichtig wären“, sagte sie.
„Bin ich aber nicht“, antwortete Robert und lächelte.
„Ich will mich heute mit niemanden streiten, sondern nur freundlich sein. Darum in aller Freundlichkeit: Starren Sie mich nicht so an. Das nervt.“
Veras Tonfall war schärfer geworden, als sie gewollt hatte. Doch ihn schien das nicht zu stören.
„Wie lange sind Sie schon hier?“ fragte er stattdessen.
„Seit einer Viertelstunde.“
„Ich meine, hier in Portugal.“
„Warum interessiert Sie das? Etwa vierzehn Tage.“
„Dann machen Sie etwas falsch. Nach vierzehn Tagen müsste der Urlaub doch schon gewirkt haben. Sie haben den Alltagsstress immer noch nicht hinter sich gelassen. Ich könnte zu ihrer Entspannung beitragen, wenn Sie wollen“, sagte Robert und lächelte weiter.
Vera fiel es schwer, ihrem Vorsatz, den ganzen Tag freundlich zu sein, weiterhin gerecht zu werden. Sie hasste es, wie er sich ihr näherte.
„Ich mache keinen Urlaub“, sagte sie. „Insofern habe ich ein Recht auf meinen Alltagsstress.“
„Arbeiten Sie hier in der Algarve?“
„Und was machen Sie so? Haben Sie genügend Aufträge in ihrer Detektei?“, fragte sie zurück.
„Ich bin kein Detektiv. Nur neugierig. Ich bin freier Journalist. Allerdings mehr frei als Journalist“, sagte Robert lachend.
„Und davon lässt es sich gut leben?“, hakte Vera nach.
„Wollen Sie meine Kontoauszüge sehen? Da müssten Sie mich allerdings in meine Wohnung begleiten“, antwortete Robert.
„Nein, will ich nicht sehen. Aber wenn Sie mir einen Tipp geben könnten, wie man mit Nichtstun über die Runden kommen kann. Dafür wäre ich Ihnen sehr verbunden. Ich würde mich anschließen.“
„Das wird nicht gehen“, sagte Robert. „Meine Eltern sind schon tot, und somit kann das Erbe nicht noch einmal vergeben werden.“
Vera schwieg. Sie empfand sich selbst als zu aufdringlich und wusste nicht, wie sie das Gespräch nun fortführen sollte. Auch Robert schwieg. Ihr war es wieder einmal gelungen, ein Gespräch in die Sackgasse zu führen.
„Ich glaube, es ist besser, wenn ich jetzt zahle“, meinte sie und ergänzte nach kurzem Zögern: „Ich wollte nicht neugierig sein. Entschuldigen Sie. Aber Sie waren mir auch zu neugierig.“
„Dann muss ich mich wohl jetzt entschuldigen. Dabei wollte ich Ihnen nur behilflich sein. Ich finde Sie nämlich sehr freundlich, ja irgendwie auch apart“, antwortete Robert.
Vera stutzte: „Was haben Sie da gesagt? Sie finden mich apart und freundlich? Das ist ja fantastisch!“
Sie sprang auf, beugte sich über den Tisch und gab Robert einen Kuss auf die Stirn.
Robert sah sie überrascht an und schwieg. Vera setzte sich wieder.
„Jetzt muss ich wohl was erklären“, sagte Vera und erzählte von der Stellenanzeige und ihrem Versuch, sich zu bewerben.
Als sie ihre Geschichte beendet hatte, lachte Robert laut los.
„Zufälle gibt es!“, sagte Robert „Wissen Sie was, jetzt spendiere ich uns einen Brandy. Das muss einfach begossen werden.“
Vera sah ihn verunsichert an und beobachtete, wie Robert zur Theke ging und mit zwei Macieira, einem portugiesischen Weinbrand, zurückkam.
„Na, dann Prost. Oder A Saúde, wie es hier heißt.“
Vera nahm nur einen kleinen Schluck. Denn sie war nicht gewohnt, Weinbrand zu trinken, schon gar nicht am Morgen.
„Sie möchten also gerne diese Gästebetreuung machen“, fing Robert an zu erzählen. „Wissen Sie, ich bin nicht ganz unschuldig an dieser Anzeige. Zwei gute Freundinnen von mir haben sie aufgegeben. Ich kam zufällig dazu, als sie an dem Anzeigentext bastelten und überlegten, welche Eigenschaften sie bei einer Gästebetreuerin für wichtig hielten. Da habe ich ihnen freundlich und apart vorgeschlagen. Ja, das haben sie dann wohl auch genommen.“
Vera wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte. Sie hatte Mühe, ihre Enttäuschung zu verbergen. Apart und freundlich schienen seine Standardausdrücke zu sein und hatten mit ihr nichts zu tun. Robert musste ihren veränderten Gesichtsausdruck bemerkt haben.
„Das ist doch kein Grund, Trübsal zu blasen. Ich kann Sie meinen beiden Freundinnen vorstellen. Dann brauchen Sie keine Bewerbung zu schreiben. Und Sie müssen nicht mehr an dem Text dichten“, schlug er vor.
„Warum eigentlich nicht“, sagte Vera und war froh, keine Bewerbung mehr schreiben zu müssen. „Vielleicht komme ich für die beiden in Frage. Ich möchte allerdings nicht, dass Sie mich empfehlen. Das können Sie gar nicht, weil Sie mich nicht kennen. Und außerdem will ich nicht in Ihrer Schuld sein.“
„Sie werden nicht in meiner Schuld sein. Meine beiden Freundinnen suchen ganz dringend eine aparte und freundliche Betreuerin für ihre Gäste. Denn die Saison fängt an, und die beiden schaffen es einfach nicht mehr alleine. Wollen wir gleich zu ihnen gehen?“, fragte er.
Vera nickte. Sie zahlten und verließen das Café.
„Es ist nicht weit. Wir können zu Fuß hingehen“, sagte Robert.
Vera folgte ihm. Sie gingen etwa fünfhundert Meter die Rua Barranco entlang und hielten vor einem Schaufenster, das weiß überstrichen war. In großen roten Buchstaben war darauf zu lesen: CHRISTEL & TERESA. Hausverwaltung - Property Management.
Sie betraten das Büro, und Robert ging auf die beiden Frauen zu.
„Hallo, Ihr Lieben. Ich habe Euch jemanden mitgebracht. Vera, kommen Sie! Das ist Christel, und das ist Teresa. .“
Vera gab beiden die Hand und sagte: „Vera van Berg. Guten Tag.“
„Ich bin Christel Neumann. Das ist Teresa Coelho Pareira. Guten Tag. Robert sagte, er hätte sie uns mitgebracht. Wie dürfen wir das verstehen?“
Im Alter waren sich die beiden Frauen ähnlich. Vera schätzte beide um die vierzig. Aber ansonsten waren sie sehr verschieden. Christel Neumann hatte blonde, lange Haare. Naturblond, dachte Vera. Sie war sehr groß und hatte eine ebenso große Nase. Ganz anders wirkte Teresa. Sie war klein, gedrungen und zierlich, hatte kurze schwarze Haare und einen dunklen Teint. Die eine wirkte stolz, die andere ein wenig schüchtern. Aber beide sahen Vera erwartungsvoll an.
Vera sagte in kurzen Worten, dass sie Arbeit suche und sich für die ausgeschriebene Stelle interessiere. Sie verwies auf ihre sozialpädagogische Ausbildung und ihre Arbeit in der Familie und für die Familie in der Gesellschaft.
„Nun habe ich Zeit, etwas anderes anzufangen. Ich bin durchtrainiert in Organisation, Konfliktbewältigung und Geduld. Oder wissen Sie, wie man sonst drei Kinder und einen Mann durchs Leben bringen kann. Da braucht man gute Nerven und ein freundliches Wesen. Verstehen Sie, was ich meine?“, beendete Vera ihre Vorstellung.
„Was soll ich sagen?“, mischte sich Robert ein. „Genau die Kraft, die Ihr sucht.“
„Zunächst will ich Ihnen erzählen, was wir suchen. Dann wissen Sie, um was es geht“, sagte Christel. „Wir vermieten Apartments und Luxusvillen an Feriengäste. Überwiegend an Deutsche, aber hin und wieder sind auch ein paar Engländer dabei. Unser Geschäft läuft gut. In diesem Jahr sind mehr Häuser in die Vermietung gekommen, und wir erwarten somit auch mehr Feriengäste. Das schaffen Teresa und ich nicht mehr alleine. Betreuung, Organisation, Büroarbeiten. Das ist zu viel für uns. Darum suchen wir für den Sommer ab Mai eine Betreuerin für unsere Gäste. Wir haben uns das so vorgestellt. Sie bekämen zehn Häuser in Ihre Obhut. Das heißt: Gäste empfangen und einführen, Putzfrau und Gärtner kontrollieren, Ansprechpartnerin sein und Endkontrolle und Endabrechnung mit den Gästen, z. B. Telefongebühren abrechnen, evtl. Schadensfälle regulieren usw.“
Christel machte eine Pause und sah Vera an.
„Wenn es eine Einarbeitung gibt, dann traue ich mir das schon zu“, sagte Vera.
„Natürlich gibt es eine Einarbeitung. Sie müssen die Häuser kennen, die Bediensteten, die im übrigen alle ein paar Brocken Englisch sprechen, ein paar Daten über die Gäste usw. Das ist klar. Nun zum Finanziellen. Wir bezahlen im Stundenlohn und haben uns das so vorgestellt: Stundenlohn ist fünf Euro. Wenn die Häuser belegt sind, dann braucht man nach unserer Erfahrung drei Stunden die Woche pro Haus. Bei zehn Häusern müssten Sie also 30 Stunden die Woche arbeiten. Der Wochenlohn bei dieser Stundenzahl wäre 150 Euro. Pro Monat also etwa 600 Euro. Wenn ein Haus nicht belegt ist, braucht man nur eine Stunde die Woche zur Kontrolle von Putzfrau und Gärtner. Dann wäre das Entgelt entsprechend weniger. Was sagen Sie dazu?“, fragte Christel.
Vera hatte der Rechnung von Christel nicht folgen können und wusste nicht, was sie antworten sollte. Sie sah Robert an, und er nickte ihr ermutigend zu.
„Hört sich vernünftig an“, sagte Vera. „Wann beginnt der Job, und wie lange soll das Arbeitsverhältnis gehen?“
„Beginn ist bald, am 1. Mai, einem Samstag. Vorher können Sie sich die Häuser ansehen, sofern sie nicht belegt sind. Ende voraussichtlich Ende September, vielleicht auch Oktober. Auch das hängt von der Belegung ab, die wir für den Herbst im Moment noch nicht genau kennen“, sagte Christel.
Vera fand es seltsam, dass die Einarbeitung vor Arbeitsbeginn, also noch ohne Bezahlung, sein sollte. Sie wollte einen Job, also fragte sie nicht weiter.
„Ich finde alles in Ordnung. Wenn Sie mich wollen, würde ich mich freuen“ sagte sie.
Christel schaute Teresa an, die nickte.
„Okay. Dann geben wir uns die Hand drauf“, sagte Christel und streckte Vera ihre Hand entgegen. Vera ergriff die Hand, obwohl sie sich wunderte, dass es anscheinend keinen Arbeitsvertrag geben sollte.
„Da gibt es noch ein paar Kleinigkeiten zu klären.“ Teresa meldete sich erstmalig zu Wort.
„Sie brauchen natürlich eine Handynummer. Die Gäste wollen vielleicht mit Ihnen Kontakt aufnehmen können. Aber Sie werden wohl schon Mobile haben. Führerschein werden Sie auch haben. Wir haben nämlich einen Firmenwagen für Sie. Sie müssen die Privatkilometer separat mit uns abrechnen.“
Vera nickte, obwohl sie nicht wusste, auf was sie sich wirklich einließ.
„Ach ja“, sagte Christel. „Es ist natürlich klar, dass Sie sich nicht übermäßig für das Privatleben der Gäste interessieren dürfen. Solange die Häuser und das Inventar nicht betroffen sind, gehen Sie die Gäste nichts an. Die sind im Urlaub. Diskretion ist wichtig, wollte ich damit sagen.“
Vera nickte.
„Gut, dann kommen Sie morgen, um sich die Schlüssel für die Häuser zu holen. Haben Sie noch Fragen?“
„Nein, im Moment nicht. Ich komme dann morgen“, sagte Vera.
Sie verabschiedete sich, und Robert verließ mit ihr das Büro.
„Hat doch gut geklappt. Ich glaube, Sie sind genau die Richtige“, sagte Robert und legte freundschaftlich seinen Arm um sie. Vera ließ es geschehen. Schließlich hatte sie ihm den Job zu verdanken.
„Ich danke Ihnen für die Vermittlung“, sagte sie.
„Sie stehen nicht in meiner Schuld, okay?“
Vera lachte. Eigentlich ist er sehr nett, dachte sie.
„Wollen wir noch etwas trinken? Auf den guten Anfang?“, fragte er.
„Glaube nicht. Der Weinbrand steckt mir immer noch in den Beinen. Übrigens, wo sind denn die Hunde? Wie hießen sie noch? Diese Hotels meine ich?“, fragte sie.
„Sie sind zu Hause, und ich hoffe, dass sie sich ruhig verhalten und die Nachbarn nicht mit einem Gejaule stören. Sie werden sie heute Abend an der Steilküste sehen. Sie kommen doch? Bis dann.“
Robert verabschiedete sich, und Vera ging in ihr Apartment. Sie brauchte Zeit, um über alles noch einmal nachzudenken. Es war alles so schnell gegangen.
Nachmittags hatte sie das Gefühl, mit irgendjemandem reden zu müssen. Mit Monika zum Beispiel. Aber sie hatte kein Telefon. Sie brauchte eine portugiesische Handynummer. Auch für den Job.
Also fuhr Vera mit dem Bus nach Portimâo, der nächsten größeren Stadt, ging in einen dieser Telefonläden und war bald Besitzerin einer portugiesischen Handynummer.
Ziellos schlenderte sie durch die Gassen der Stadt. Viele kleine Läden luden zum Einkauf ein. Doch Vera zögerte, einen zu betreten. Nach Einkaufen war ihr nicht zumute. Die Ereignisse des Tages beschäftigten sie so sehr, dass sie ihre Umgebung nur schemenhaft wahrnahm, bis sie einen kleinen Park erreichte. Er stach durch seine vielen Kachelbänke ins Auge. Die Portugiesen waren stolz auf ihre Kachelmalereien, ihre azulejos. In diesem Park hatten sich viele Künstler verewigt. Die Rückenlehnen der Bänke bestanden aus großen blauweißen Kachelbildern, auf denen große Schlachten portugiesischer Entdecker dargestellt waren. Links wurde auf kleineren Kacheln das Ereignis, rechts das jeweilige Datum dargestellt.
Vera setzte sich auf eine Bank, die sich mit dem 21. August 1415 schmückte. Es schien um die Eroberung der Stadt Ceuta an der Nordküste Afrikas zu gehen. Vera überlegte, woher sie den Namen dieser Stadt kannte. Ceuta musste in Marokko liegen, aber es gehörte nicht zu Marokko. Aus ihrem Urlaub in Gibraltar wusste sie, das es sich um eine spanische Exklave handelte, zu der von Spanien aus Fährschiffe übersetzten. Erst maurisch, dann portugiesisch und schließlich spanisch. Vermutlich war dieses kriegerische Bild hinter ihr nicht die einzige Schlacht gewesen, die es um diese Stadt gegeben hatte.
Obwohl die Bank eher schön als bequem war, blieb Vera noch eine Weile sitzen. Sie nahm ihr Telefon und wählte Monikas Nummer in Deutschland. Nach langem Klingeln meldete sich Monika, die begeistert war, von Vera zu hören. Als sie allerdings von Veras beruflichen Ambitionen erfuhr, riet sie heftig ab, die Stelle anzunehmen.
„Vera. Das hast du doch gar nicht nötig. Das ist ja ein Abstieg für dich. Weißt du denn nicht mehr, wohin du gehörst? Zu welcher gesellschaftlichen Schicht? Dein Mann ist ein einflussreicher Manager einer großen Firma, und du willst Gästebetreuung machen?“
„Du hast es richtig gesagt. Mein Mann ist einflussreich. Und ich? Ich eben nicht. Ich muss von vorne anfangen“, erwiderte Vera enttäuscht. Denn sie hatte von Monika Zuspruch erwartet und nicht diese Abfuhr.
„Reiche die Scheidung ein. Dann behältst du deinen gesellschaftlichen Status und bekommst obendrein einen Batzen Geld. Dein Mann hat doch Kohle, Vera!“
Die beiden Freundinnen stritten heftig am Telefon. Keine gab nach. Zum Abschied wünschte Monika Vera trotzdem viel Glück und ergänzte: „ Dann wirst du demnächst eben die Dienstspritze für deinen alten Bekanntenkreis sein. Denn die werden solche Häuser im Urlaub mieten. Viel Spaß.“
„Was regst du dich eigentlich auf? Das war ich doch vorher auch. Bei jeder Party habe ich die bewirtet? Mein Mann hatte den Status, ich war die Dienstspritze. Es hat sich also nichts geändert.“
Ohne ein Lebewohl beendete Vera das Gespräch. Sie stand auf und ging durch ein paar Gassen zum Ufer des Flusses Arade, an dem Portimâos Hafen lag. Die Stadt hatte hier große Flächen gepflastert, und man konnte unter großen Palmen, die ein wenig kümmerlich aussahen, ausgiebig spazieren gehen. In einem Café bestellte sich Vera einen Milchkaffee und beobachtete die Schiffe und Boote auf dem Fluss. An der anderen Seite des Flusses lag Ferragudo, das noch viel vom Charme eines kleinen Fischerdorfes in die Touristenzeit hinübergerettet hatte. So manches Dorf in der Algarve firmierte zwar noch als Fischerdorf, hatte aber keine richtigen Fischer mehr und war längst ausschließlich vom Tourismus abhängig.
Vera blieb lange sitzen. Erst als die Sonne unterging, fuhr sie zurück nach Carvoeiro, dem Dorf, in dem sie ihr Apartment hatte und in dem sie bald für Gästebetreuung zuständig sein sollte
In ihrer Wohnung fiel ihr ein, dass sie gar nicht ihren gewohnten Spaziergang an der Steilküste gemacht hatte. Ob Robert sie vermisst hatte?