Читать книгу Das Haus am Atlantik - Alexandra de Wall - Страница 5

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Am nächsten Morgen ging Vera zu Christel und Teresa, um sich in die Arbeit einweisen zu lassen. Sie hatte eine unruhige Nacht hinter sich. Normalerweise störte sie der Autolärm unten auf der Rua Barranco nicht. Doch letzte Nacht hatte sie jedes Auto gehört. Aber es war weniger das Straßengeräusch, das sie nicht schlafen lassen hatte, sondern vielmehr Monika. Normalerweise vertraute sie den Ratschlägen ihrer Freundin. Jetzt aber war sie entschlossen, nicht auf Monika zu hören. Das machte sie unruhig, und sie zweifelte, ob sie den richtigen Weg eingeschlagen hatte. Vera kam in der Nacht erst zur Ruhe, als ihr klar wurde, dass Monika über eine Distanz von fast dreitausend Kilometern die Situation gar nicht richtig einschätzen konnte. Sie kannte Christel und Teresa, Robert nicht und auch nicht Veras trostlose Lage. Gerade Monika, die sich bewusst alleine durch das Leben schlug, konnte nicht ermessen, wie einsam man alleine sein konnte. Wäre sie hier unten am südwestlichsten Zipfel Europas, würde sie sich vielleicht auch sehr alleine fühlen, wenn sie wie Vera zukunftslos durch die Gegenwart irrte.

Christel und Teresa waren hoch erfreut, als sie Vera sahen.

„Teresa meinte, dass Sie vielleicht nicht kommen würden, weil Robert Ihnen die Arbeit eventuell anders vorgestellt hatte. Sie müssen wissen, Robert neigt dazu, Dinge nicht so ernst zu nehmen. Wer sich ums tägliche Brot nicht mehr krumm machen muss, wird eben leichtfüßig“, sagte Christel.

„Robert hat mir die Arbeit gar nicht beschrieben. Ich bin offen für alles, was Sie mir auftragen“, meinte Vera.

„Schön. Dann wollen wir mal anfangen.“

Christel überreichte Vera zehn Blätter, auf denen Daten und Namen festgehalten waren.

„Das sind die zehn Objekte, die Sie zu betreuen haben, und die Anmeldungen der Gäste, soweit sie vorliegen. An- und Abreisetag ist immer am Samstag. Die meisten bleiben zwei, drei Wochen in den Häusern. Dann gibt es natürlich Ausnahmen wie wöchentliche Aufenthalte oder, sehen Sie mal, das Haus Nr. 1. Hier ist ein deutsches Paar Anfang April eingezogen, und sie planen, ein halbes Jahr zu bleiben.“

Vera sah sich auf der Liste die Namen zu Haus 1 an. Es standen nur zwei Namen auf dem Zettel: Reiner Müller und Frau Elvira.

Auf den anderen Zetteln waren viele Daten und Namen untereinander aufgeführt, da die Hausbelegungen wechselten.

„Die beiden Müllers haben für ein halbes Jahr ein Haus mit vier Schlafzimmern gemietet. Was wollen die denn mit einem so großen Haus?“, fragte Vera laut.

„Haben Sie vergessen, was wir gestern gesagt haben? Das Privatleben der Gäste, was sie warum in den Häusern machen, geht uns nichts an. Solange sie zahlen und das Haus in Ordnung bleibt, ist für uns auch alles in Ordnung“, sagte Teresa.

Vera errötete. Es war ihr unangenehm, dass sie als zu neugierig wirkte und als indiskrete Person.

„Entschuldigung. Das ist mir nur so herausgerutscht. Natürlich haben Sie recht. Diskretion ist alles.“

Vera versuchte, ihren Fehler notdürftig zu korrigieren. Christel und Teresa lächelten gütig, was die Angelegenheit für Vera nicht leichter machte. Dieses gütige Lächeln war ihr erst recht unangenehm. Es hatte so etwas Gouvernantenhaftes. Sie atmete tief durch, was den beiden Frauen nicht entgangen war.

„Nehmen Sie es nicht zu schwer. Das kann ja mal passieren“, meinte Christel. „Das Beste ist, Sie fahren gleich die einzelnen Häuser ab, um sich von ihrer Lage einen Eindruck zu machen. Für Ortsunkundige ist Carvoeiro oft ein Labyrinth. Unsere Häuser mit den ungeraden Zahlen liegen alle östlich vom Ortskern. Die Urbanisationen heißen Rocha Brava und Algarve Clube Atlantico. Die geraden sind westlich im Carvoeiro Clube. So können Sie sich schon mal grob orientieren. Also hier sind die Autoschlüssel. Das Auto steht vorne auf dem Parkplatz. Sie können es an der Aufschrift „Christel & Teresa“ erkennen.“

Vera nahm die Schlüssel und war dankbar, das Büro verlassen zu dürfen. Sie hoffte, dass ihr zweiter Anlauf später besser glücken würde.

Vor dem Haus stand ein weißer VW Polo mit der Aufschrift „Christel & Teresa. Hausverwaltung - Property Management“. Vera stieg ein und fuhr los.

Östlich waren die Häuser mit den ungeraden Zahlen, hatte Christel gesagt. Östlich, das sagte sich so leicht. Im Osten ginge die Sonne auf, kombinierte Vera. Es war vormittags. Also musste sie der Sonne entgegenfahren. Als sie aus der Parkbucht heraus fuhr, merkte sie, dass die Rua Barranco eine Einbahnstraße war. Die Straße bestimmte die Richtung und nicht Sonne, Mond und Sterne. Christel musste Carvoeiro mit dem offenen Meer verwechselt haben, dachte Vera und versuchte trotz widriger Straßenverläufe die Sonne nicht aus den Augen zu verlieren. Als sie den Platz beim Dorfstrand erreicht hatte, bot sich ihr eine lange Straße gen Osten an, ebenso lang wie die Rua Barranco.

Wäre ihr Mann dabei gewesen, hätte er sein Vorurteil, dass Frauen keinen Orientierungssinn hätten, bestätigt gesehen, dachte Vera. Aber er war nicht dabei. Wäre er dabei, hätte sie keine Häuser aufgesucht, und wenn, wäre sie Beifahrerin gewesen. Wie sollte eine ewige Beifahrerin auch einen Orientierungssinn entwickeln können?

Vera genoss es, endlich wieder ein Auto zu haben. Die vierzehn Tage ohne Auto waren sehr beschwerlich gewesen. Zu Fuß oder mit dem Bus. Mehr Alternativen hatte sie nicht gehabt. Aus Kostengründen war ein Taxi für sie nicht in Frage gekommen. Zwar hatte sie sich in ihrer Ehe ein eigenes Sparbuch angelegt, aber ohne frische Geldzufuhr war auch dieses Guthaben endlich. Natürlich hatte sie auch Zugriff auf das gemeinsame Girokonto. Aber darauf wollte sie nur in äußersten Notfällen zurückgreifen. Denn an den Kontoauszügen hätte er nachvollziehen können, wo sie sich aufhielt. Das wollte sie auf keinen Fall riskieren.

Zunächst kam sie nicht schnell voran. Autos parkten in der zweiten Reihe und behinderten den Verkehr ebenso wie die ein- und ausparkenden. Die Feriensaison hatte begonnen, dachte Vera mit Genugtuung, weil ihr neuer Job auf diese Weise gesichert war. Langsam lichtete sich der Verkehr, und die Bebauung wurde dünner. Links sah sie einen großen gelb gestrichenen Hotelkomplex, der seinen Namen in großen Buchstaben kundtat: „Mirachoro“. Vera grübelte, was dieses Wort bedeutete, und dachte, dass sie portugiesisch lernen müsste, wenn sie hier länger bliebe.

Die Straße schlängelte sich an der Küste entlang und eröffnete immer wieder einen schönen Ausblick aufs Meer. Als sie rechts den Hinweis auf Rocha Brava sah, bog sie ein. Langsam fuhr sie durch die Siedlung, um die Häuser, für die sie demnächst zuständig sein sollte, zu suchen. Zuerst sah sie nur Reihenhäuser und zweifelte, ob sie in der richtigen Urbanisation war. Denn die von ihr zu betreuenden Häuser mussten alleinstehend und groß sein. Das Haus der Müllers zum Beispiel mit seinen vier Schlafzimmern war in dieser Siedlung Rocha Brava.

Ein Schild „ocean villas“ nährte in ihr die Hoffnung auf größere Villen, und sie hatte sich nicht getäuscht. Links ragten stattliche Häuser in die Höhe, direkt am Meer, große Prachtbauten mit üppigen Gärten, in denen alte Pinien und Palmen standen. Hier ließe es sich leben, dachte Vera und erinnerte sich, dass sie mit ihrer Familie auch in solchen Villen Urlaub gemacht hatte. Heute backte sie kleinere Brötchen, war Dienstspritze, wie Monika gemeint hatte.

Die Häuser in ihrer Liste hatten alle Namen wie Casa Palmeiras oder Vivenda Sol. Also fuhr Vera die Häuserzeile langsam ab, um das Haus der Müllers, Casa Palmeiras, zu finden. Dann sah sie es. Das Haus war weiß gestrichen und hatte gelb umrandete Fenster. In der geöffneten Doppelgarage sah Vera einen silbernen S-Mercedes. Den Müllers schien es gut zu gehen, dachte sie, als sie ausstieg, um sich das Haus näher anzusehen.

„Kann ich was für Sie tun?“

Eine Frau kam auf sie zu.

„Guten Tag. Ich komme von der Hausverwaltung und versuche mich gerade ein wenig hinsichtlich der Lage der Häuser zu orientieren. Sie sind Frau Müller?“, sagte Vera.

„Ja, Elvira Müller. Sind Sie Teresa? Die Christel haben wir nämlich schon kennen gelernt“, sagte Elvira.

Sie war eine äußerst auffallend geschminkte Frau. Die roten Lippen stachen aus ihrem Gesicht hervor. Die superblonden Haare waren so hoch toupiert, wie Vera es lange nicht mehr gesehen hatte. Ein grell orangefarbenes Sommerkleid rundete das farbenfrohe Bild ab.

„Nein. Ich bin Vera van Berg und fange im Mai bei der Hausverwaltung als Gästebetreuerin an. Auch dieses Haus gehört zu meinem Betreuungsbereich. Darum stehe ich hier so neugierig. Entschuldigen Sie bitte, wenn ich Sie gestört haben sollte“, sagte Vera.

„Die Christel hat uns schon gesagt, dass eine neue Betreuerin kommen wird. Schön, dass wir uns kennen lernen. Von nun an müssen wir uns wohl an Sie wenden, falls irgendwas sein sollte. Oder?“

„Ja, das stimmt“, antwortete Vera. „Ich gebe Ihnen schon einmal meine Handynummer, damit Sie mich im Falle eines Falles auch erreichen können.“

Elvira nahm den Zettel mit der Telefonnummer und fragte, ob sie sich das Haus ansehen wolle. Vera stimmte freudig ein, weil sie ohnehin alle Häuser von innen kennen lernen musste. Wie sollte sie ansonsten die Arbeit der Putzfrauen überwachen?

Das Haus hatte eine große Empfangshalle, in der Veras Apartment zweimal Platz gefunden hätte. Von der Halle aus ging eine Treppe nach oben und eine nach unten.

„Hat das Haus einen Keller?“, fragte Vera.

„Das Haus ist ganz unterkellert. Wohl ungewöhnlich für diese Gegend, aber ganz angenehm. So kann man den Wein gut temperiert aufbewahren“, antwortete Elvira.

Vera nickte. Sie gingen ins Wohnzimmer, das erwartungsgemäß noch größer und mit gediegenen Holzfiguren geschmückt war. Dort standen Elefanten aus Holz, aber auch schlanke Frauenfiguren. Eine lange Fensterfront öffnete den Blick aufs blaue Meer. Hier hielte sie es auch aus, dachte Vera und schaute sich interessiert um.

„Wollen Sie die Schlafzimmer auch sehen?“, fragte Elvira.

„Wen haben wir denn da?“.

Eine männliche Stimme durchdrang den Raum, und Vera drehte sich nach ihr um. Vor ihr stand ein braungebrannter, äußerst athletischer Mann. Mit dem würde ich das Haus auch teilen, fiel Vera spontan ein.

„Darf ich vorstellen. Das ist mein Mann Reiner. Und die nette Dame, Schatz, ist Vera van Berg. Sie hat von der Hausverwaltung die Betreuung unseres Hauses übertragen bekommen. Du erinnerst dich sicherlich, dass Christel so etwas schon angedeutet hat“, erklärte Elvira.

„Angenehm. Was gehört denn alles zur Hausbetreuung? Auch die Pflege des männlichen Inventars?“, amüsierte sich Reiner und reichte Vera die Hand.

„In gewisser Weise schon“, meinte Vera. „Falls Sie Wünsche an die Verwaltung haben, dann bin ich auch für das männliche Inventar zu-ständig. Für das weibliche Inventar allerdings auch.“

„Elvira und ich werden uns Sie also teilen müssen. Wird schon klappen. Darf ich Ihnen den Rest des Hauses zeigen?“, fragte Reiner.

„Später vielleicht“, sagte Vera, der die Charmeoffensive des Athleten zu weit ging. „Ich muss noch weitere Häuser besuchen. Wir werden uns ohnehin in regelmäßigen Abständen sehen.“

„Dann darf ich Sie aber zur Tür begleiten“, beharrte Reiner und ging mit Vera zur Empfangshalle.

Als er die Haustür öffnete, schien ihm noch etwas einzufallen. Denn er hielt Vera an der Schulter fest.

„Bevor Sie gehen, hätte ich noch eine Frage. Christel hat, glaube ich, einmal erwähnt, dass es im Büro einen sicheren Tresor gibt, den auch die Gäste gegen eine kleine Gebühr benutzen dürfen. Stimmt das?“

Vera wurde verlegen. Denn sie wusste nichts von einem Tresor. So weit war die Einarbeitung noch nicht gediehen.

„Oh, tut mir Leid. Ich kann Ihnen die Frage nicht beantworten. Mein offizieller Anstellungstermin ist erst am 1. Mai, so dass ich noch nicht voll eingearbeitet wurde. Herr Müller, ich werde mich erkundigen und Sie dann benachrichtigen. Ist das in Ordnung?“, fragte Vera, ein wenig zaghaft.

„Das ist vollkommen in Ordnung. Eilt auch nicht. Ich dachte nur, es wäre gut, den Schmuck meiner Frau bei Ihnen zu deponieren, wenn wir einmal länger weg sind. Wenn Sie mir das nächste Mal Bescheid sagen, reicht das vollkommen. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag und natürlich viel Spaß. Aber wenn alle so nett sind wie ich, nicht wahr, werden Sie nur Freude haben.“

Vera bekam zum Abschied noch zwei Küsschen auf die Wange und ging zu ihrem Auto.

Bei den anderen Häusern in Rocha Brava hielt sie nur kurz an, ohne auszusteigen. Diese erste Begegnung mit Gästen reichte ihr. Schließlich war sie noch nicht im Dienst und musste noch kein geschäftsmäßig freundliches Gespräch mit den Gästen führen. Die Freundlichkeit und das Aparte ihrer Person konnte sie getrost noch ein wenig zurückhalten. So nett dieser Müller auch anzuschauen war, vielleicht auch war, seine plumpe Anmache war ihr zuwider.

Sie fuhr durch die restlichen Straßen der Siedlung und stellte fest, dass für Abwechslung gesorgt war. Tennisplätze. Swimmingpool, ja sogar ein Restaurant. Die Gäste brauchten das Areal im Urlaub nicht zu verlassen, wenn sie Unterhaltung suchten und kein Interesse an der Umgebung hatten.

Am Ausgang von Rocha Brava gab es ein kleines Café. Vera hielt an, um sich bei einem Milchkaffee die Listen noch einmal anzuschauen. Ab Mai waren alle Häuser belegt, so dass sie am 1. Mai mit einem turbulenten Anreisetag rechnen konnte. Die Müllers in Rocha Brava waren schon da und blieben noch. Um die brauchte sie sich also nicht zu kümmern. Dann gab es einen Wechsel im Haus 3, und Haus 5 wurde erstmalig belegt. Im Algarve Clube Atlantico war keine Anreise, sondern erst eine Woche darauf. Sie hatte also zwei Anreisen in Rocha Brava. Im westlichen Bereich war es ähnlich. Haus 2 und 4 waren belegt, Haus 6 bekam eine Neubelegung, ebenso die Häuser 8 und 10. Insgesamt hatte Vera also fünf Anreisen am Samstag zu bewältigen. Das würde sie schon schaffen, versicherte Vera sich, als ihr Telefon klingelte. Sie suchte das Telefon in ihrer Handtasche und wunderte sich, dass es überhaupt klingelte. Wie konnte jemand ihre neue Nummer wissen?

„Van Berg.“

„Vera. Hier ist Robert. Störe ich?“

„Robert, woher haben Sie die Nummer. Die ist noch so frisch, dass ich sie kaum kenne“, antwortete Vera erstaunt.

„Von Teresa. Ich habe Sie gestern vermisst. Wir waren doch an der Steilküste verabredet“, sagte Robert.

„Tut mir Leid. Ich war in Portimâo wegen der Handynummer. Da habe ich die Zeit vergessen, und schnell war es Abend. Sind Sie mir böse?“

„Ich kann Ihnen doch nicht böse sein, weil Sie mich sitzen lassen haben. Das ist immer noch Ihre Entscheidung.“

„Es war nicht meine bewusste Entscheidung, Robert. Ich hab es einfach vergessen.“

Vera hatte den Eindruck, dass Robert wirklich enttäuscht war. Darum ergänzte sie:

„Sagen Sie, wie kann ich es wieder gut machen?“

„Das hört sich doch schon viel besser an“, sagte er und lachte.

Na, bei dem kann man aber schnell die Laune verbessern, dachte Vera. In ihrer Ehe hatten Missstimmungen immer länger angedauert. Insbesondere das lange Schweigen fiel ihr wieder ein. Beim Telefonieren hatte ihr Mann auch des öfteren den Telefonhörer aufgeknallt, wenn ihm Veras Meinung nicht behagte.

„Schön, dass Sie anrufen. Also, was kann ich für Sie tun?“, fragte Vera aufmunternd.

„Ihnen scheint es ja gut zu gehen. Teresa sagte mir, dass Sie sich gerade die Häuser ansehen. Das scheint vergnüglich zu sein.“

„Zumindest ist es interessant. Man kann extravagante Menschen kennen lernen. Gerade eben zum Beispiel war ich in einem Haus, das schon belegt war. Sie glauben gar nicht.....“.

Vera unterbrach ihren Redeschwall. Sie erinnerte sich, dass sie schon einmal zur Diskretion ermahnt worden war.

„Was glaube ich nicht, Vera?“

„Ach, gar nichts. War nicht so wichtig. Sie haben mir immer noch nicht gesagt, wie ich mein Versäumnis wieder gut machen kann. Oder muss ich nicht sühnen?“.

Vera versuchte, das Gespräch von ihrer Arbeit wegzulenken.

„Ich hätte da eine Idee“, sagte Robert. „Segeln Sie gerne? Wenn ja, dann möchte ich Sie gerne zu einem Segeltörn einladen.“

„Sie haben ein Segelboot? Das ist ja toll. Ich wollte mir die Steilküste immer schon gerne vom Meer aus ansehen.“

„Wie wäre es mit Morgen? Ich hole Sie ab, und wir fahren zusammen zur Marina.“

„Wo liegt Ihr Boot denn?“, fragte Vera, der es alles ein wenig zu schnell ging.

„In der neuen Marina von Portimâo. Na, wie ist es? Morgen um 10 Uhr?“

„Morgen schon. Ich weiß nicht, was Christel und Teresa mit mir planen.“

„Das wird schon klar gehen. Ich werde ein gutes Wort für Sie einlegen. Ich muss ein wenig zur Eile drängen, weil ich nicht weiß, wie lange ich das Boot zur Verfügung habe. Ein Bekannter von mir hat sich angekündigt. Er will auf dem Boot übernachten. Und ich habe dummerweise zugesagt. Also morgen um 10 Uhr?“

„Na, gut. Morgen um 10. Ich erwarte Sie. Wissen Sie überhaupt, wo ich wohne?“

Natürlich hatte er keine Adresse. Sich zu verabreden, aber den Treffpunkt nicht zu kennen! Das wäre Torsten van Berg nicht passiert dachte Vera, als sie das Telefonat beendete. Die beiden Männer waren sehr verschieden. Während Torsten der Inbegriff von Disziplin, Genauigkeit, Fleiß und Pünktlichkeit war, lebte Robert in den Tag hinein. Er musste eine große Erbschaft gemacht haben, wenn er sich auch noch ein Segelboot leisten konnte. Sie versuchte, Roberts Alter zu schätzen. Er sah jünger aus als sie. Wahrscheinlich war er Mitte vierzig. Torsten hingegen war ein paar Jahre älter als sie.

Auf dem Weg zum Algarve Clube Atlantico wurde die Bebauung immer spärlicher. Das Meer rückte näher, und man fuhr durch das derbe, aber karge Grün der Steilküstenlandschaft. Links wies ein Fliesenbild zum Algarve Clube Atlantico, und Vera bog ein.

Haus 7 und 9 befanden sich in dieser Urbanisation. Vera fuhr langsam durch die Siedlung. Immer wieder musste sie mühsam wenden, weil sie sich in einer Sackgasse befand. Die Wendehammer waren viel zu klein. Die Sackgassen sorgten sicherlich für eine ruhige Siedlung, aber Ortsunkundige verwirrten sie. Vor dem Haus 7 hielt Vera an und stieg aus. Es war bewohnt. Laut Liste machte hier eine vierköpfige deutsche Familie Urlaub. Vom Bürgersteig aus schaute sich Vera die Seiten des Hauses an. Es war auch ein großes Haus, und der Garten war überladen grün.

„Mami! Der Dieb ist wieder da!“

Eine schrille Kinderstimme war aus dem Garten zu hören. Vera schaute sich erschreckt um. Welcher Dieb?

„Guten Tag. Suchen Sie etwas?“

Eine Frau mit einem kleinen Mädchen an der Hand, das nur zögerlich folgte, kam auf Vera zu.

„Nein, ich suche nichts. Ich habe mir nur das Haus angesehen, weil ich zur Hausverwaltung Christel & Teresa gehöre und mich nur mal umsehen wollte“, erklärte Vera der Frau mit dem kritischen Blick, der eigentlich gar nicht zum übrigen Erscheinungsbild der Frau passte. Über den blauen Bikini hatte sie eine lockere Bluse gezogen. Eine angespannte Urlauberin mit einem kritischen Blick!

„Ach so. Dann sind Sie Christel oder Teresa? Ich habe mit der Hausverwaltung noch nichts zu tun gehabt. Das hat immer mein Mann erledigt. Sie müssen schon entschuldigen, dass wir Sie nicht erkannt haben.“

„Sie können mich auch nicht kennen. Ich bin von Christel und Teresa beauftragt, ab Mai die Hausbetreuung zu übernehmen. Mein Name ist Vera van Berg. Ich hoffe, mein Kommen war für Sie jetzt nicht unpassend.“

Vera bemühte sich, besonders höflich zu sein, und streckte der Frau ihre Hand entgegen.

„Ist die Frau kein Dieb, Mami?“, fragte das Mädchen.

„Nein, Liebes. Sie müssen wissen, bei uns wurde vor ein paar Tagen eingebrochen. Jetzt leben wir ein wenig in Furcht. Es ist ein seltsames Gefühl zu wissen, dass Fremde im Haus waren, als wir schliefen“, erläuterte die Frau die Worte ihrer Tochter.

„Oh. Bei Ihnen wurde eingebrochen? Ist Wertvolles entwendet worden?“

„Die Portemonnaies. Bargeld haben wir im Urlaub immer wenig dabei. Meinen Schmuck nehme ich nie mit in den Urlaub. Aber dummerweise hatte ich meinen Pass und Führerschein im Portemonnaie. Die sind nun auch verschwunden. Das ist natürlich unangenehm“, sagte die Frau.

„Mein Brustbeutel ist auch weg“, sagte die Kleine.

Vera sah, dass die beiden der Einbruch sehr bekümmerte. Sie hatte schon gehört, dass es Diebesbanden gab, die in Häuser einbrachen.

„Waren Sie bei der Polizei?“

„Ja, die waren hier und haben ein Protokoll aufgenommen. Aber wie sollen die denn die Diebe finden? Solche Bagatelldelikte werden auch in Deutschland von der Polizei nicht sehr ernst genommen. Das wird hier auch nicht anders sein“, sagte die Frau.

„Ich habe gehört, dass die Diebe manchmal die persönlichen Dokumente zurückgeben, weil sie nur Interesse an Geld haben. Vielleicht wird das in Ihrem Fall auch so sein“, versuchte Vera zu trösten.

„Wir reisen in einer Woche schon ab. Da bleibt nicht viel Zeit. Und ehrlich gesagt, bin ich auch froh, wenn ich dieses Haus wieder verlassen kann. Es ist zwar sehr schön. Aber wissen Sie, dass Unbekannte einfach einbrechen und deine Sachen durchstöbern können, das macht einen doch sehr unsicher. Man fühlt sich irgendwie im Intimsten verletzt“, sagte die Frau noch einmal.

„Wissen Sie, wie die Diebe hereingekommen sind?“, fragte Vera.

„Kann ich Ihnen zeigen.“

Vera ging mit den beiden Urlauberinnen ins Haus, das etwas bescheidener als das Vier-Zimmer-Haus in Rocha Brava, aber sehr gemütlich war. Die Frau ging zu einer Schiebetür aus Glas und erklärte, wie die Diebe durch diese Tür hereingekommen sein mussten. Vera schaute sich die Schiebetür an und fand, dass sie sehr leicht war. Sie vermochte sich gut vorzustellen, dass man diese Tür leicht von außen öffnen konnte.

„Vielleicht muss die Tür verstärkt werden. Aber ich kenne mich mit solchen Dingen auch nicht aus“, sagte sie. „In jedem Fall werde ich den Diebstahl in unserem Büro melden, falls Sie das noch nicht getan haben. Vielleicht kann man was machen.“

„Für die nachfolgenden Urlauber wäre das sicherlich gut“, meinte die Frau ein wenig verzagt.

Vera wünschte noch ein paar schöne Urlaubstage, riet, sich von diesen Schurken nicht alles verderben zu lassen, und verabschiedete sich.

Das Haus 9 war in derselben Straße, so dass sie nicht lange suchen musste. Auch diese Begegnung mit Mahlströms motivierte sie nicht, noch weiter den Kontakt mit anderen Gästen zu suchen. Sie konnte so gut nachempfinden, dass ein Diebstahl die Urlaubsstimmung belasten konnte. Wie bei den weiteren Häusern zuvor in Rocha Brava stieg Vera nicht mehr aus, sondern nahm das Haus 9 nur kurz von der Straße aus in Augenschein.

Mittlerweile war es Mittag, und das Büro der Hausverwaltung sicherlich in der Mittagspause.

In Portugal war die Mittagspause zwar nicht so lang wie im benachbarten Spanien, wo man sie bis 17 oder gar 18 Uhr ausdehnte. Dafür legten die Portugiesen mittags Wert auf eine warme Mahlzeit. Überall gab es Restaurants, in denen die Arbeiter ihr Prato do Dia einnahmen, ein recht preiswertes Mittagsmenü. Vera beschloss, solch ein Restaurant aufzusuchen.

Sie brauchte eine Pause, um ihre Gedanken zu ordnen. Obwohl sie noch nicht viel geleistet hatte, war sie voller Eindrücke. Dem luxuriösen Leben der Müllers stand der Diebstahl im Haus 7 gegenüber. Hier tägliches Genussleben, dort gedrückte Stimmung. Bei zehn Häusern, belegt mit Gästen, konnte Vera erahnen, wie vielfältig ihre Zukunft mit den verschiedenen Urlaubern demnächst sein würde. Anders, als Monika gemeint hatte, waren es nicht nur Menschen, die auch zu ihrem Bekanntenkreis hätten gehören können, sondern es war eine bunte Mischung des Alltags, von mittlerem Geldbeutel bis hin zu superreich.

Nach dem Mittagessen fuhr sie zur Hausverwaltung. Christel und Teresa saßen beide an den Computern, als Vera eintrat.

„Schon wieder da? Das ging aber schnell“, meinte Teresa.

„Ich habe mir bisher nur die Häuser im östlichen Bereich angesehen. Die anderen mache ich später. Denn ich glaube, ich müsste zunächst noch mehr wissen, bevor ich möglicherweise auf Gäste treffe“, erklärte Vera ihr frühes Erscheinen.

Sie fragte nach dem Tresor und berichtete von dem Einbruch bei Mahlströms. So hieß die Familie im Haus 7 laut Liste. Christel zeigte ihr den Tresor und begann, die Einarbeitung fortzusetzen.

„Wäre es nicht besser, jedes Haus hätte einen Tresor“, dachte Vera laut.

Christel sah sie skeptisch an, und Vera hatte das Gefühl, eine über-flüssige Bemerkung gemacht zu haben. Das konnte sie doch nicht schon wieder für indiskret gehalten haben, dachte Vera.

„Ob Sie es glauben oder nicht. Vor Jahren hatten viele Häuser einen Tresor“, fing Christel an zu erzählen. „Allerdings auch nur für kurze Zeit. Das war damals so: Eine Firma hatte mit guten Angeboten viele Hausbesitzer zum Kauf eines Tresors animiert. Die wurden etwa gleichzeitig in die Häuser eingebaut. Unter den Männern, die die Tresore eingebaut haben, gab es ein paar Spitzbuben. Die haben einer Diebesbande Schließkombinationen und Duplikate von den Schlüsseln übergeben. Was meinen Sie, was dann passierte? Über Nacht wurden alle Häuser mit den neuen Tresoren ausgeraubt. Viele Hausbesitzer haben also die Tresore wieder ausgebaut und sind zu Omas Verstecken im Kleiderschrank zwischen den Handtüchern oder wo auch immer zurückgekehrt. Weil eben nicht alle Häuser einen Tresor haben, bieten wir den Gästen unseren Tresor im Büro an. Gegen Gebühr, versteht sich. So, nun wollen wir aber weitermachen.“

Vera erhielt von jedem Haus Haustürschlüssel und einen Merkzettel über die Punkte, die sie beim Empfang der Gäste in jedem Fall ansprechen sollte, eine Liste über die für die jeweiligen Häuser zuständigen Putzfrauen, Gärtner und Poolservice, einen Merkzettel über Punkte, die sie am Tag der Abreise zu klären hatte, und Telefonnummern der Notärzte, Polizei, wichtiger Handwerker. Nach zwei Stunden schloss Christel mit der Frage, ob sie alles verstanden hätte. Vera nickte zögerlich.

„Ich habe mir auch ein paar Notizen gemacht. Aber sicherlich werde ich immer wieder Fragen haben.“

„Das ist klar. Ich schlage vor, den ersten Empfang der Gäste machen Sie mit Teresa zusammen. Das ist anschaulicher. Die erste Belegung ist - lassen Sie mich auf die Listen schauen - die erste Belegung ist am Samstag im Haus 10, also im westlichen Bereich. Seien Sie also dann um 9.30 Uhr hier. Dann fahren Sie mit Teresa zum Haus 10.“

Christel schien es zu lieben, alles durchzuorganisieren. Wie ein Orchester dirigierte sie das kleine Team. Teresa fügte sich ebenso wie Vera.

„Ich hab doch von dem Einbruch erzählt. Da sollten wir was veranlassen“, sagte Vera. „Die Verandatür, durch die die Diebe eingestiegen sind, ist wirklich leicht von außen zu öffnen. Das Material ist zu dünn. Ich denke, zur Diebstahlsicherung sollte da mal etwas gemacht werden.“

Christel schaute Vera energisch und ärgerlich an.

„Vera! Das sind nicht unsere Häuser. Wir vermitteln sie nur an Gäste und erhalten den guten Zustand der Häuser. Wenn investiert werden muss, dann sind die Hauseigentümer dafür zuständig. Nicht wir. Das Haus 7 ist in Ordnung. Es gab nie Klagen von Gästen. Bloß weil jetzt mal ein Einbruch passiert ist, sollten wir die Eigentümer nicht beunruhigen. Auch in Deutschland wird eingebrochen. Damit muss man immer rechnen. Kann immer passieren. Also vergessen Sie den Einbruch!“

Christel sagte alles in einem so energischen Ton, dass Vera nicht weiter insistieren wollte. Zufrieden gestellt hatte sie die Auskunft von Christel allerdings nicht. Sie informierte die beiden noch kurz über ihren geplanten Segelausflug und verabschiedete sich.

Am nächsten Morgen um 10 Uhr stand Robert vor der Tür. Schon nach einem Tag Gästebetreuung freute sich Vera, etwas Anderes machen zu können.

„Muss ich was mitnehmen wie Wasser, Brot, Obst oder so?“ fragte sie Robert.

„Gar nichts. Ich habe uns einen Picknickkorb gepackt. Da ist genug drin“, antwortete er.

Das hätte Torsten van Berg nie gemacht, dachte Vera. Der war es gewohnt gewesen, dass ihm alles serviert wurde. Unverheiratete Männer haben doch ihre Vorzüge.

Mit dem roten Kastenwagen fuhren sie nach Portimâo.

„Wo sind die Hunde mit den Hotelnamen?“

„Dorint, Pestana und Vila Vita sind zu Hause. Ich habe einen kleinen eingezäunten Garten mit vielen schattigen Plätzen. Da fühlen die drei sich ganz wohl. Allerdings waren wir heute morgen schon laufen. Ich jogge jeden Morgen, und die Hunde begleiten mich. Dann halten sie auch eine längere Zeit alleine durch“, antwortete Robert.

Die Marina in Portimâo war außerhalb der Stadt, von ockerfarbenen Reihenhäusern umrahmt, vor denen Robert sein Auto abstellte. Er überreichte Vera einen der zwei Picknickkörbe, weil er eine Hand für die elektronische Chipkarte frei haben musste, mit der er das Tor zu den Stegen öffnete.

„Manchmal braucht man ein wenig Geduld, um in die Marina zu kommen. Das Schloss ist zwar Hightech, aber dennoch klemmt es in der Regel“, erläuterte Robert.

In der Tat öffnete sich das Tor nicht reibungslos. Das elektronische Auge reagierte zwar auf die Chipkarte, aber das Tor blieb verschlossen. Nach mehrmaligen Versuchen und kräftigem Ziehen und Ruckeln gab es den Widerstand auf.

Vera folgte Robert in die Marina. Vor ihnen lagen prächtige Motor- und Segelyachten. Sie strahlte, als sie diese weiße Pracht vor sich liegen sah und empfand sofort ein Gefühl von Freiheit, jener Freiheit, nach der sie sich auf der Steilküste gesehnt hatte, als diese Boote ausgelassen im Wind spielten. Doch sie fühlte sich auch erschlagen von dem Luxus, den diese Yachten in der Vielzahl vermittelten. Vera kannte kleine Yachthäfen in Deutschland, in denen sie mit bekannten Ehepaaren hin und wieder die Wochenenden verbracht hatten. Sie ähnelten mehr einem Campingplatz denn einem Hafen. Überall auf den Schiffen waren Menschen, die grillten, tranken und Karten spielten. Befreundete Familien trafen sich dort am Wochenende zu einem fröhlichen Beisammensein.

Dagegen war diese Marina ein stiller Ort. Die Schiffe waren menschenleer und wiegten sich einsam im leichten Wellengang. Das Sonnenlicht ließ ihr Weiß noch greller strahlen, und das alles vor der blauen Kulisse des Meeres. Es war eine seltsame Atmosphäre, die sich hier ausbreitete. Vera konnte sich nicht erinnern, dem Zusammentreffen von Reichtum und Einsamkeit jemals so nah gewesen zu sein.

Sie folgte Robert. Die Holzstege gaben bei jedem Schritt nach, weil sie auf Pontons im Wasser schwammen.

„Das ist mein Segelboot“, sagte Robert und hielt an.

„Ich würde das schon Segelyacht nennen“, meinte Vera.

„Wenn Sie sich umschauen, dann sehen Sie ganz andere Segelyachten. Meine ist dagegen sehr bescheiden. Kommen Sie! Ich helfe Ihnen.“

Mit einem großen Schritt bestieg er das Schiff, nahm Vera den Korb ab und streckte ihr seine Hand entgegen.

„Danke. Ich kann das schon alleine“, meinte Vera.

Während Vera auf das Schiff kletterte, ging Robert die Kajüte öffnen.

„Kommen Sie herein, in die gute Stube“, sagte er.

Doch sie hielt inne und schaute den Mast hoch. Robert kam zu ihr.

„Das sind 14 m“, sagte er.

„Das Boot hat nur einen Mast?“, fragte Vera.

„Ja, es ist eine Slup. Das, was Sie meinen, die Boote mit zwei Masten nennt man Ketsch“, erläuterte Robert. „Kommen Sie! Ich zeige Ihnen die Kajüte.“

Vera folgte Robert und ging ein paar Stufen tiefer ins Innere des Schiffes. Sie staunte. Das Schiff wirkte wie eine kleine Wohnung. Der Raum war holzverkleidet und hatte links und rechts gepolsterte Sitzmöbel. Sogar eine kleine Küche und eine kleine Duschecke gab es.

„Wie viele Personen können hier schlafen?“, fragte Vera.

„Vorne in der Doppelkoje zwei. Dann kann man diese Sitzgarnitur zu zwei Kojen umbauen, und hier unter dem Cockpit an Steuerbord ist noch eine Koje, auch Hundekoje genannt. Also fünf Leute.“

„Das ist wie eine kleine Wohnung, wie ein Wohnwagen“, sagte Vera. „Ich war noch nie im Inneren einer Segelyacht. Es gefällt mir sehr.“

„Nun, wir wollen hier heute nicht wohnen, sondern hinaus aufs Meer. Wenn Sie wollen, können Sie zuschauen, wie ich das Schiff seeklar mache“, sagte Robert und verließ die Kajüte.

Vera beobachtete ihn, wie er das Großsegel von der Persenning befreite.

„So schön die Sonne ist“, meinte er. „Das UV-Licht ist der schlimmste Feind des Segels. Darum tut man gut daran, es immer zu verpacken. Sie müssen also ein bisschen Geduld haben, bis ich alles klar habe.“

„Ich find alles sehr interessant.“

Vera ging nach vorn zum Bug und stellte sich genau in die Spitze. Wie auf der Titanic, dachte sie und lächelte.

„Wie heißt das Schiff eigentlich?“, rief sie.

„Seestern.“

Robert hatte mittlerweile das Großsegel klar gemacht, kam zu ihr nach vorne und befestigte links und rechts Leinen an dem noch aufgewickelten Vordersegel, um diese wieder zurück zum Heck zu führen.

„Kommen Sie. Wir lassen den Motor an.“

„Ich dachte, wir wollten segeln“, sagte Vera.

„Aber erst müssen wir aus der Marina fahren.“

Ein Dieselmotor, dachte Vera, als der Motor lief. Robert verließ das Schiff und machte die Leinen los. Nur eine vorne am Bug ließ er am Klampenfuß befestigt.

„Jetzt können Sie helfen“, sagte er zu Vera. „Ich setze gleich rückwärts. Wenn ich „Leinen los“ rufe, dann ziehen Sie an dieser Leine, so dass das Schiff den letzten Halt mit dem Steg verliert. Klar?“

Vera nickte und nahm die Leine in die Hand. Sie war nervös, weil sie befürchtete, etwas falsch zu machen. Doch es klappte. Als das Schiff rückwärts fuhr, befolgte sie das Kommando „Leinen los“, und sie bewegten sich langsam aus der Marina hinaus.

Auf der Arade war einiger Schiffsverkehr. Während sie hinausfuhren, kamen Fischerboote herein. Auch einige Yachten fuhren ihnen entgegen. Alle winkten freudig, als sie einander begegneten. Vera saß auf den Holzplanken vorne am Bug, und der frische, aber schon warme Wind blies ihr ins Gesicht. Rechts sah sie oben eine Burg, und vor ihr lag das Tor zum offenen Meer, gekennzeichnet durch eine große grüne und eine rote Tonne.

„Es ist herrlich“, rief sie zu Robert, der hinten am Ruder stand und das Schiff steuerte.

„Wird noch schöner werden, wenn wir unter Segel sind“, rief er zurück,

Vera legte sich aufs Deck und schaute in den Himmel. Über ihr nur blau. Kein Wölkchen war zu sehen. Ein Leben zum Träumen. Warum hatte sie sich nicht schon früher von Torsten van Berg losgesagt? Hier konnte er ihr nichts nachtragen. Wie oft hatte er sie in dieses Gefängnis gesteckt. Ja, nachtragende Menschen bauten ein Gefängnis. Nur sie entschieden darüber, wann die Gefängnistore geöffnet wurden. Nämlich erst dann, wenn sie bereit waren zu verzeihen.

„Geht es Ihnen gut?“

Robert stand neben ihr und riss sie aus ihren Gedanken. Vera richtete sich auf und sah, dass sie den Hafenbereich bereits verlassen hatten.

„Wer steuert jetzt das Schiff?“, fragte sie ängstlich.

„Der Kollege Automatische Steuerung“, sagte er und setzte sich neben sie.

Sie fuhren südlich, immer weiter aufs offene Meer. Vera sah links und rechts die Küste der Algarve, deren steile Felsen in unregelmäßigen Abständen ins Meer ragten. Dazwischen waren die bezaubernden Badebuchten.

„Wie hätten Sie`s gerne. Gen Osten oder gen Westen?“

„Ist Christel auch schon mit Ihnen gefahren?“

„Ja. Des öfteren. Warum fragen Sie?“

„Sie hat ihre Art, Wege zu beschreiben, dann wohl übernommen. In Carvoeiro sollte ich auch gen Osten und gen Westen fahren. Nur gibt es dort eigenwillige Straßen, eben nicht das offene Meer“, erläuterte Vera, was Robert zum Lachen brachte.

Sie entschied sich für eine Tour gen Osten.

„Dann lassen Sie uns die Segel setzen. Wollen Sie helfen?“

Vera nickte und ging mit Robert nach Achtern zum Großsegel.

„Sie müssen die Zeisinge lösen“, sagte Robert und zeigte auf die Bänder, die das Segel am Baum befestigten.

Robert forderte Vera anschließend auf, das Ruder zu übernehmen.

„Sehen Sie da oben auf dem Mast den Windrichtungsanzeiger? Steuern Sie so, dass der Wind von vorne kommt. Dann ziehe ich das Großsegel hoch“, erklärte er.

Vera stand am Ruder, hielt das Schiff gegen den Wind und sah, wie das Segel sich gen Himmel bewegte. Zunächst flatterte es. Dann stand es stolz und faltenfrei. Robert kam, den Motor abzustellen.

„So jetzt setze ich noch das Vorsegel, und los geht`s“, erläuterte er.

Als beide Segel gesetzt waren, legte sich das Schiff schräg und nahm Fahrt auf.

„Herrlich“, sagte Vera. „Das ist ja fantastisch. Kein Motorengeräusch, nur das Schlagen der Wellen, und wir kommen voran.“

Robert lachte.

„Wollen Sie hier sitzen oder vorne auf dem Deck liegen?“

„Im Moment sitze ich gerne. So kann ich den Küstenverlauf besser sehen“, meinte Vera.

Die Steilküste zeigte sich in unterschiedlichen Farben. Einmal war sie gelb, dann ocker, manchmal auch braun. Während Vera schaute und träumte, hantierte Robert hin und wieder am Segel. Immer, wenn es anfing zu flattern, änderte er den Kurs, um es wieder zu straffen. Die Zeit verging wie im Flug, und Vera spürte, dass sie Hunger bekam.

„Wir haben doch die Picknickkörbe an Bord. Wollen wir nicht `nen Happen essen?“, fragte sie.

„Gerne.“

Robert baute in der Nähe des Ruders einen provisorischen Tisch auf und bat Vera zu Tisch.

„Was kann ich Ihnen anbieten. Wein, Wasser, Cola. Thunfischsalat, Tomatensalat, gekochte Eier, gebratenes Putenfleisch. Am besten Sie schauen selbst.“

Vera nahm ein Glas Weißwein, und Robert trank Cola. Dann griffen sie kräftig zu.

„Lange habe ich nicht mehr so schön gepicknickt“, meinte Vera.

„Ich auch nicht. Selten war meine Begleitung so apart und reizend“, erwiderte Robert.

Da war es wieder. Dieses Wort. Apart. Es war Roberts Wort. Andere würden vielleicht anziehend oder außergewöhnlich sagen. Robert sagte apart.

„Schade, dass Sie das Schiff bald nicht mehr haben. Denn ich könnt mich dran gewöhnen“, sagte Vera.

„Es ist ein Bekannter. Notfalls schmeiße ich ihn einfach raus. Dann segeln wir“, lachte er.

„Wann kommt er?“

„So genau weiß ich es noch nicht. Aber bald. Er kommt mit dem Auto, weil er seinen Sohn mitbringt.“

„Seit wann dürfen Kinder nicht ins Flugzeug. Der Sohn könnte doch auch fliegen“, meinte Vera.

„Schon, aber in diesem Fall ist das Auto wohl geeigneter.“

Vera verstand nicht, was Robert meinte.

„Ist es billiger mit dem Auto?“, fragte sie.

„Das kommt wohl ganz drauf an, wie sie fahren. Die Autobahngebühren in Frankreich kosten eine Menge. Wenn sie allerdings Landstraße fahren, ist es billiger. Ich nehme fast an, dass sie Landstraße fahren. Da kann man wenigstens unterschiedliche Routen wählen. Das wird ihm eher gelegen kommen“, sagte Robert. „Schauen Sie einmal. Da sind Delphine.“

Vera sah in die Richtung, die Robert vorgab. Zunächst konnte sie nichts erkennen. Doch dann sah sie die Bewegungen auf dem Wasser. Es war eine große Herde.

„Sie werden uns besuchen kommen“, sagte Robert. „Es sind neu-gierige Tiere.“

Bald tanzten die Delphine voller Vergnügen ums Schiff herum. Sie sprangen in die Luft und schwammen unter dem Schiff durch. Ein herrliches Schauspiel.

„Sie bieten mir heute wirklich viel“, sagte sie.

„Ich kann nichts dafür, Sie sind eben ein Glückskind“, erwiderte er.

„Darf ich Sie einmal etwas fragen?“, sagte Vera.

Robert nickte.

„Haben Sie eine Familie?“

„Nicht wirklich. Ich habe zwar eine Tochter. Aber die lebt bei ihrer Mutter. Ich zahle“, sagte er. „Und Sie?“

„Ich habe eine Familie. Drei erwachsene Kinder und einen Ehemann, von dem ich mich gerade getrennt habe.“

„Sind Sie darum hin und wieder - wie soll ich es sagen, ohne dass Sie mir böse sind - na ja, ich meine ein wenig gereizt?“.

„Ist schon in Ordnung. Ich kam hier an und wusste nicht, was werden sollte. Jetzt wird es besser, glaube ich. Dank Ihrer Hilfe habe ich jetzt wenigstens einen kleinen Job, der mich ablenkt“, sagte Vera.

„Weil Trennungen so schwer sind, habe ich mich eben nie gebunden“, meinte Robert nachdenklich. „Wir sollten jetzt die Wende machen, damit wir auch zeitig in Portimâo einlaufen können.“

Vera beobachtete, wie Robert Leinen löste, andere anzog, das Ruder wie wild drehte. Das Vorsegel flatterte von einer Schiffseite zur anderen, und der Großbaum mit dem Segel folgte mit Getöse. Das Schiff hatte sich gedreht. Bald waren die Segel wieder stramm und faltenfrei, und das Schiff nahm Fahrt auf. Er war ein sportlicher Typ. Das Athletische seines Körpers konnte man erst in Aktion richtig bewundern, was Vera tat.

„Jetzt können wir es uns wieder gemütlich machen“, sagte Robert.

Er setzte sich zu ihr und legte nach einer Weile seinen Arm um sie. Vera ließ es geschehen. Es passte. Die weißen Segel, der blaue Himmel, das Rauschen des Meeres und im Arm eines gutgebauten Mannes. Das wäre der Stoff, in dem Träume wahr werden könnten, dachte sie. Eigentlich bedauerte sie, dass nicht mehr passierte.

Zurück in der Marina wurde sie zur Festmacherin befördert. Sie sollte auf den Steg springen und das Schiff am Klampenfuß festmachen. Gewissenhaft folgte sie seinen Anweisungen, sprang, wickelte die Leine um den Klampenfuß und hielt fest.

„Locker lassen, Vera! Locker lassen!“.

Robert schrie fast hysterisch. Dann sah sie das Malheur. Das Schiff bewegte sich mit dem Heck vom Steg weg und drohte mit dem Segelboot nebenan zu kollidieren.

„Robert! Was soll ich machen!“

„Leine locker geben, Vera!“

Vera merkte, dass sie die Leine krampfhaft festhielt. Nun ließ sie locker. Der Schiffsbug entfernte sich leicht vom Steg, und das Heck ließ von seinem Kollisionskurs. Robert sprang auf den Steg und zog mit einer Leine den hinteren Schiffsteil an den Steg.

„So, jetzt können Sie wieder fest anziehen“, sagte er.

Veras Knie zitterte, während sie die Leinen wieder fester zog. Robert kam und machte das Schiff fachmännisch fest. Dann nahm er sie in den Arm und drückte sie fest an sich.

„Ist ja noch mal gut gegangen. Ich hätte es Ihnen besser erklären müssen.“

Seine Worte beruhigten sie ein wenig. Sie kletterten wieder auf das Schiff, und Robert war mit den Leinen und den Segeln beschäftigt, während Vera nur zuschaute.

„Ich lasse das Großsegel jetzt runter. Wenn Sie wollen, können Sie es dann nach und nach auf den Großbaum falten.“

Vera war froh, sich wieder nützlich machen zu dürfen. Am Schluss legten sie die Persenninge wieder auf das Segel, schlossen die Kajüte ab und gingen mit den fast leeren Picknickkörben zurück zum Auto.

Während der Fahrt schwiegen sie. Vera litt immer noch unter ihrem Fehler beim Festmachen und malte sich aus, die beiden Boote wären kollidiert. Den Schaden hätte sie wahrscheinlich nie wieder gutmachen können. Den materiellen wohl nicht, den immateriellen schon gar nicht.

„Es war eine sehr schöne Tour. Ich danke Ihnen.“, unterbrach Robert ihre Gedanken.

„Tut mir Leid, dass ich so tollpatschig war. Ich bin froh, dass nichts Schlimmes passiert ist. Das hätte mir sehr Leid getan. Das schöne Boot.“

„Es ist doch gar nichts passiert. Im übrigen ist noch kein Meister vom Himmel gefallen. Oder?“

Als sie vor der Wohnung aussteigen wollte, hielt er sie fest und sah sie an.

„Sehen wir uns heute Abend an der Steilküste?“

Vera überlegte. Sie hatte den ganzen Tag mit ihm verbracht. Es musste nicht auch noch der Abend werden.

„Tut mir Leid. Durch diese wundervolle Tour habe ich meine Hausaufgaben nicht machen können. Am 1. Mai geht der Ernst des Lebens los. Und ich will so wenig wie möglich falsch machen. Das kommt bei den Gästen nicht gut an, glaube ich. Die werden im Urlaub kein Verständnis für die Fehlbarkeit von Bediensteten in der Einarbeitungszeit aufbringen. Schließlich legen sie viel Geld auf den Tisch. Da soll alles Tipp Topp sein. Seien Sie mir nicht böse, dass ich Sie heute Abend alleine lassen werde.“

Robert machte ein trauriges Gesicht, neigte sich zu ihr hinüber und gab ihr einen Kuss auf die Wange.

„Danke“, sagte Vera und stieg aus. Robert fuhr in seinem roten Kastenwagen davon.

Noch gab es sie, die kleinen Lebensmittelläden in der Straße. Sie waren klein, auch wenn sie oftmals supermercado hießen. Für Vera waren sie in den letzten beiden Wochen lebenswichtig gewesen. Wo hätte sie ansonsten einkaufen sollen? Ohne Auto. Fußläufig konnte sie ihren Bedarf auf diese Weise decken. Da sie noch frisches Brot brauchte, ging sie in den Laden auf der gegenüberliegenden Straßenseite, in dem nie viele Kunden waren. Ein paar Touristen und ältere portugiesische Frauen, die wie Vera im Dorf wohnten und auch keine Fahrgelegenheit zu den Supermärkten hatten. In Zukunft würde Vera sicherlich auch häufiger in den großen Märkten einkaufen, die wie Pilze aus dem Boden schossen, weil sie in der Regel billiger und ihr Angebot reichlicher war. Es war abzusehen, dass diese kleinen Läden auf Dauer nicht überleben konnten wie in Deutschland, wo die kleinen Tante Emma Läden auch verschwunden waren. Was würden dann die alten portugiesischen Frauen machen? Was machten die alten Frauen in Deutschland?

Vera holte sich ihr Brot, ein wenig Käse und eine Flasche Rotwein. Nach dem schönen Tag wollte sie sich einen gemütlichen Abend machen. Einen wirklich gemütlichen Abend nach langer Zeit. Denn sie fühlte sich befreiter, freier von quälenden Gedanken. Vielleicht hatte sie auch die Muße, den Krimi, den sie aus Deutschland mitgebracht hatte, zu lesen. Am nächsten Tag wollte sie sich um die westlichen Häuser kümmern und ein paar Daten ihrer zukünftigen Arbeit auswendig lernen. Denn übermorgen war der 1. Mai.

Das Haus am Atlantik

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