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Zweites Kapitel

Lewis Left Hand Schneegestöber

Rosebud Reservation, Winter 1987

Lewis stand im Wohnzimmer des blauen Hauses. Dem Haus seines Vaters. Seinem Haus. Jetzt. Wann immer er im Sommer Zeit gefunden hatte, war er mit Renovierungsarbeiten beschäftigt gewesen, um das alte Haus wieder bewohnbar zu machen. Vor allem aber auch winterfest.

Bernard Little Horse, der inzwischen so etwas wie ein guter Onkel für Lewis war, hatte seinem Schützling von den harten Präriewintern erzählt und stand ihm auch sonst mit Rat und Tat zur Seite. Auch Alma Yellow Hat geizte nicht mit ihrer Zuneigung und wurde nicht müde in ihren Bemühungen, Lewis die Eingewöhnung zu erleichtern. Allerdings hielt sich der Erfolg in Grenzen.

Von der Familie seines Vaters existierte tatsächlich niemand mehr. Die geheimnisvolle Tante war und blieb spurlos verschwunden. Der Name Left Hand bürgte offenbar für Schwierigkeiten. Mit dieser Tatsache musste Lewis sich abfinden, als er die schmerzliche Erfahrung machte, dass die Familie seiner Mutter nichts mit ihm zu tun haben wollte. Das waren eine Menge Leute, von denen keiner einen besonderen Wert auf Lewis Anwesenheit zu legen schien. Anfangs hatte Lewis den Grund für dieses feindselige Verhalten bei sich selbst gesucht, weil er ein Fremder war, weil er sich wie ein Weißer benahm und weil er ein Besitzer im Land der Besitzlosen war. Aber das allein war es nicht. Diese Art von Abneigung ging tiefer.

Lewis hatte mit Bernard darüber gesprochen, doch der hatte nur gelacht und gemeint, dass die Leute einfach ein bisschen Zeit brauchen, um sich an ihn und seine seltsamen Großstadtmanieren zu gewöhnen. Danach hatte Little Horse rasch das Thema gewechselt. Offensichtlich wollte er nicht mit Lewis über dessen verworrene Familiengeschichte reden. Keiner wollte das. Manchmal dachte Lewis, dass er ebenso gut in New York hätte bleiben können. Dort kannte ihn wenigstens niemand. Hier dagegen schon. Mieden sie ihn wegen seines Vaters? Wenn ja, warum? Von seinem anderen Vater, der bereits eine Woche nach ihrem Wiedersehen abgereist war, hatte Lewis auch nicht viel in Erfahrung bringen können. Aber das lag wohl eher daran, vermutete Lewis, dass Andrew wirklich nicht mehr wusste als das, was er ihm bereitwillig erzählt hatte. Bernard Little Horse dagegen wusste sicher alles und erzählte nichts. Offenbar war er der Meinung, dass es besser für alle Beteiligten wäre, wenn er sich nicht einmischte. Auch gut. Immerhin war er einer der gastfreundlichsten Menschen, denen Lewis je begegnet war. Andrew und er hatten die ganze Zeit über bei ihm und seiner vierköpfigen Familie gewohnt. Und das, obwohl Little Horse bis dahin keinen von ihnen gekannt hatte.

Andrew Maclean war mittlerweile zurück in Schottland, seiner alten Heimat. Es ging ihm gut. Das stand in seinem letzten Brief, der vor zwei Wochen angekommen war. Seitdem verfügte Lewis über ein hübsches Sümmchen auf seinem Bankkonto. Sein Vater hatte ihm die Hälfte des Geldes, das der Verkauf ihrer Wohnung in New York erbracht hatte, überlassen. Er wollte, dass Lewis frei war. Frei zu entscheiden, was er mit seinem Leben anfangen wollte. Andrew hatte es gut gemeint. Wenigstens war Lewis dadurch die Sorge um einen Job los. Vorerst zumindest.

Lewis ging zu einem der Fenster und sah hinaus. Der Winter war über Nacht gekommen. Heftige Schneestürme und eisiger Frost hatten seinen Einzug begleitet. Jetzt hielt er das Land und die Menschen fest im Griff und Lewis begann sich zu fragen, wie er diesen Teil des Jahres in der trostlosen Einsamkeit seines Hauses überstehen sollte. War er frei?

Er sah hinüber zu den Pappeln. Kahl und starr umstanden sie das Haus. Kein Flüstern der Blätter mehr, kein Rauschen. Nur noch die Äste gaben wehmütig knarzende Töne von sich, wenn die Kälte der Nacht der blassen Wärme des Tages wich oder der Sturm über die Ebene tobte. Kleine Vögel suchten Schutz im dichteren Geäst. Lewis riss den Blick von ihnen los und ging zu dem gusseisernen Ofen in der Ecke.

Der Ofen heizte gut. Alle vier Räume des Hauses, wenn es sein musste. Der Ofen und das bereitliegende Holz waren, neben einem ausziehbaren Schlafsofa und einer Kiste mit Büchern, eine spärliche Erweiterung der restlichen Kücheneinrichtung. Im Bad gab es eine neue Dusche, ein Waschbecken und ein WC. Lewis hatte die Leitungen verlegen lassen. Wasser vom Brunnen im Hof zu holen, das hatte er sich noch vorstellen können, aber im Winter auf ein zugiges Aborthäuschen angewiesen zu sein, das überstieg dann doch seine Vorstellungskraft. Mochten die Leute denken, was sie wollten.

Die Küche wirkte gleichsam luxuriös im Vergleich zu den übrigen Räumen. Ein nagelneuer Elektroherd prangte neben dem silberglänzenden Spülbecken und den weißen Einbauschränken. Gegenüber, unter dem zweiten Küchenfenster, standen ein großzügiger Tisch und sechs Stühle. Die nackte Glühbirne, die von der Decke baumelte, erregte noch Lewis Missfallen, aber ansonsten war er mit dem Ergebnis seiner Arbeit durchaus zufrieden. Das Schlafzimmer schließlich beherbergte ein breites Bett und ein paar Kleiderhaken. Auf dem Boden standen noch einige seiner Umzugskisten, von denen eine als Nachttisch diente, auf dem etwas verloren eine Lampe neben ein paar Büchern stand. Der vierte Raum war leer. Lewis hoffte, dass Alma die Küche gefiel. Sie hatte seine sonstigen Errungenschaften nur mit einem kurzen Nicken gewürdigt, als sie vor drei Wochen das letzte Mal vorbeigeschaut hatte, um ihn zum wiederholten Male darauf aufmerksam zu machen, dass die Küche der wichtigste Ort in einem Haus wäre. Der Ort, wo alle zusammenkommen. Alma hatte ihm auch manchmal ihre beiden halbwüchsigen Söhne vorbeigeschickt, damit sie ihm am Anfang beim Streichen und beim Verlegen der Böden halfen. Nathan und Jason hatten bereitwillig mitangefasst und Lewis war froh über ihre Hilfe gewesen, aber eine persönliche Beziehung war nicht entstanden. Lewis, der die beiden für ihre Mühe großzügig bezahlt hatte, fragte sich, ob es wohl nicht genug war. Inzwischen glaubte er aber zu wissen, dass die Bezahlung an sich ein Fehler gewesen war. Warum, wusste er allerdings nicht.

Er bewegte sich nach wie vor in einem luftleeren Raum und hatte keine Ahnung, ob sich das je ändern würde. Wenn er jedoch wirklich bleiben wollte, konnte er nicht für den Rest seines Lebens an Almas Rockzipfel hängen oder die Gastfreundschaft der Little Horses über Gebühr in Anspruch nehmen. Er musste lernen, auf eigenen Füßen zu stehen.

Lewis legte Holz nach, betrachtete seine schwindenden Vorräte und wusste, dass er bald für Nachschub würde sorgen müssen. Natürlich könnte er auch rausgehen und ein paar Pappeln fällen, aber der Gedanke widerstrebte ihm. Außerdem gingen auch einige seiner Lebensmittel zur Neige. Er musste also ohnehin nach Rosebud oder Mission. Ihm graute bei dem Gedanken an diese Fahrt. Lewis verließ nur ungern seine selbst gewählte Einsamkeit, obwohl ihm auch davor zu grauen begann und er manchmal schweißgebadet aus irgendwelchen Albträumen hochschreckte, nur um den Rest solcher Nächte dösend auf einem Küchenstuhl zu verbringen, wo ihm die Schrecken der Vergangenheit nichts anhaben konnten.

Er würde also fahren. Alma und Bernard hatten ihn oft genug gewarnt, im Winter niemals die Vorräte ausgehen zu lassen. Er wohnte, selbst nach den großzügigen Reservatsmaßstäben, weit draußen. Und er lebte allein. Wenn das Benzin ausging oder der Motor einfror oder die Straße unpassierbar war, musste er in der Lage sein, für eine Weile zu überleben. Ein Hund wäre nicht schlecht, dachte Lewis. Vielleicht nächstes Jahr. Falls er dann noch hier war.

Zwei Tage später betrat Lewis das Gebäude des Rosebud Tribal Office und warf einen Blick in Almas Büro, um nachzusehen, ob sie eventuell Zeit für ihn hätte.

Eine junge Frau, die Lewis nicht kannte, saß am Computer und sah kurz hoch, als sie merkte, dass sie nicht mehr allein im Zimmer war. Fragend hob sie die Augenbrauen.

„Entschuldigung, die Tür war offen. Ich suche Miss Yellow Hat.“

„Worum geht es denn? Miss Yellow Hat ist im Augenblick nicht hier, aber vielleicht kann ich Ihnen helfen?“

„Nein, Miss …?“

„Miller. Bernice Miller.“

„Ja, also Miss Miller, es handelt sich eher um eine private Angelegenheit. Ich wollte nur eben vorbeischauen, da ich sowieso in Rosebud zu tun hatte.“ Lewis stand unschlüssig vor Miss Miller und ihrem Computer und überlegte. „Wissen Sie, wann sie wieder zurück sein wird? Oder wo ich sie erreichen könnte?“

„Hm, sie besucht ihre Familie in Lower Brulé und auf dem Rückweg wollte sie über Pierre fahren. Das kann dauern. Außerdem soll das Wetter wieder schlechter werden. Warum rufen Sie sie nicht einfach an, ich könnte …“

Bevor sich Bernice Miller für das Thema erwärmen konnte, immerhin hatte sie bereits die Finger von der Tastatur genommen und sich etwas bequemer auf ihrem Stuhl zurechtgesetzt, dankte ihr Lewis für die Auskunft und hatte das Büro so schnell wieder verlassen, dass Bernice nur noch verblüfft auf die Stelle blicken konnte, an der er eben noch gestanden hatte. Sie schüttelte den Kopf mit der sorgfältig gelegten Dauerwelle und wollte wieder an die Arbeit gehen, als ihr plötzlich etwas einfiel. Sie stieß ihren Stuhl zurück und sprang auf.

„Hallo, warten Sie! Mr Left Hand?!“

Lewis, der im Begriff gewesen war, das Gebäude zu verlassen, drehte sich überrascht um und wartete auf Bernice, die ihm nachgelaufen war und ihn jetzt neugierig musterte.

„Sie sind doch Lewis Left Hand, nicht wahr?“ Ihre Augen funkelten bei dieser Frage und sie wirkte aufgeregt und nervös. Das Gegenteil von vorhin. Diesem seltsamen Verhalten begegnete Lewis nicht zum ersten Mal. Wann immer die Leute mit seiner Person und dem Namen Left Hand konfrontiert wurden, löste dies entweder pures Entzücken oder nur schlecht verhohlene Abneigung aus. Anfangs hatte Lewis verstört und verärgert reagiert, dann fand er die unterschiedlichen Reaktionen amüsant. Inzwischen ließen sie ihn gleichgültig und so nickte er nur knapp, um Miss Miller ihre Frage zu beantworten. Gleichzeitig bedeutete ihr sein Gesichtsausdruck, dass er sich in Eile befand und sie sich kurz fassen sollte. Bernice war noch jung genug, um zu erröten und sich ertappt zu fühlen. Andererseits arbeitete sie lange genug in Büros, um sich ihrer Kompetenz und Wichtigkeit durchaus bewusst zu sein. Sie hob den Kopf und sah Lewis kühl in die Augen.

„Nun, Alma Yellow Hat lässt Ihnen etwas ausrichten. Für den Fall, dass Sie hierher kommen und sie nicht da sein sollte.“

Lewis wartete und erwiderte ihren Blick gleichmütig. Bernices Mundwinkel zuckten und sie war jetzt deutlich verärgert über diesen jungen Mann, der ihre Zeit bereits über Gebühr in Anspruch genommen hatte, ohne dass sie einen Vorteil daraus hätte ziehen können. Unhöflich war er auch. Auf was er sich wohl etwas einbildete? Ohne Alma und dem Stammesratsmitglied Little Horse wäre er schon längst wieder da, wo er hergekommen war. Oder dort, wo sein Vater gelandet war. Die Left Hands brachten nichts als Ärger. Das wusste jedes Kind.

„Es geht um einige Unterlagen, die in Pine Ridge aufgetaucht sind, und die mit dem Tod Ihres Vaters zu tun haben könnten. Sie hatten diesbezüglich nachgefragt.“

Bernice schwieg und beobachtete, wie sich das Gesicht vor ihr veränderte. Die Gleichgültigkeit war weggewischt und Lewis Left Hand sah sie mit brennenden Augen an. Sie fühlte ihr Herz klopfen und erwiderte seinen Blick erschrocken und ungeschützt. Ärger? Na und?!

„Was für Unterlagen?“ Lewis versuchte, die Faszination, die er unbewusst und plötzlich auf die Frau ausübte, für sich zu nutzen. Bernice Miller interessierte ihn nicht im Geringsten. Sie war wie alle anderen auch. Mochte sie von ihm denken, was sie wollte, und erzählen, was sie wollte. Hauptsache, sie gab ihm jetzt, was er wollte: so viele Informationen über seinen Vater wie möglich. Bernice räusperte sich und fuhr sich mit der Zunge nervös über die Lippen. Sie war sich auf einmal der Tatsache bewusst, dass sie mit diesem Lewis Left Hand, Sohn eines Unruhestifters und Nichtsnutzes, mitten im Flur des Tribal Office stand. Dem öffentlichsten Gebäude des ganzen Reservates! Ihre Mutter würde unweigerlich davon erfahren und sofort besorgt sein. Die Reaktion ihres Vaters mochte sie sich gar nicht vorstellen. Aber sie war kein Kind mehr, sondern sie saß hier in einem öffentlichen Büro. Sie wusste, was sie tat. Ihre Großmutter, die Mutter ihres Vaters, würde ohnehin auf der Seite ihrer Enkelin stehen. Bernice lächelte und gab ihm die Informationen, die er wollte. „Also damals, als Ihr Vater starb, fanden einige Leute die Umstände seines Todes etwas mehr als seltsam. Ihr Vater hatte Kontakte zum American Indian Movement, dem AIM, und die schickten jemanden, um den Fall auf eigene Faust zu untersuchen. Allerdings ohne Ergebnis.“

„Was soll das heißen?“ Lewis wurde es plötzlich zu warm, seine Kleider wurden ihm zu eng und er glaubte zu ersticken. Er hielt Bernices forschenden Augen stand und riss sich zusammen. „Und wieso tauchen jetzt Unterlagen auf? Wieso nicht hier, sondern in Pine Ridge? Dort leben doch die Oglala. Was ist damals passiert?“ Diese Fragen, die ihn immer mehr quälten, schienen Lewis wichtiger denn je zu sein. Unwillkürlich hatte er Bernice an den Schultern gepackt und begann, sie unsanft zu schütteln. Entsetzt sah sie ihn an. Doch in ihrem Blick las er Anteilnahme und Neugier anstelle der Furcht und der Abneigung, die er erwartet hatte. Aufrichtigkeit. Er schämte sich. Zum ersten Mal, seit er hier im Reservat war, suchte er die Schuld für sein Fremdbleiben bei sich und nicht bei den anderen. Lewis beruhigte sich.

Bernice sah sich um und bedeutete ihm mit einem Neigen des Kopfes, dass er ihr folgen sollte. Sie würde ihm weitere Fragen beantworten, aber nicht hier, wo jeder sie hören konnte. Sie ging zurück in ihr Büro und Lewis folgte ihr. Nachdem sie die Tür geschlossen hatte, füllte sie zwei Tassen mit Kaffee, reichte eine davon Lewis und setzte sich auf einen der beiden Besucherstühle.

„Milchpulver und Zucker liegen neben der Kaffeemaschine.“

Lewis nickte dankend und gab zwei Löffel Milchpulver aus der angeschlagenen Keramikdose in seinen Kaffee. Drei Stücke Zucker plumpsten hinterher. Lewis wusste inzwischen, dass ein Sioux-Kaffee amerikanische Herzen schneller schlagen ließ und war entsprechend vorsichtig geworden. Er nahm sich den zweiten Stuhl und setzte sich Bernice gegenüber, die ihren Kaffee schwarz trank und ihren Gast über den Rand ihrer Tasse hinweg eingehend gemustert hatte und nun höflich auf ihre Hände sah. „Was möchtest du noch wissen?“

Er schwieg verwirrt von der plötzlichen Vertrautheit und trank einen Schluck. Sie drängte ihn nicht, wartete einfach ab. Statt- dessen stellte sie sich selbst die Frage, ob es richtig war, was sie tat. Hatte sie das Recht zu sprechen, wo alle geschwiegen hatten? Brachte es nicht Unglück, die Namen der Toten auszusprechen?

„Mein Vater … ich meine, der Mann, der die letzten neunzehn Jahre lang mein Vater gewesen ist, also mein Vater hat mir erzählt, dass meine Mutter nie über die Gründe gesprochen hat, warum sie das Reservat verließ, bevor ich geboren wurde. Nur, dass es besser für mich gewesen wäre. Sie hat Andrew Maclean, meinen Vater, kennengelernt, als sie einen Job als Bedienung in einem italienischen Restaurant hatte.“

Lewis brach ab und versuchte sich seine Mutter vorzustellen, wie sie im vierten Monat schwanger, mit ihm unter ihrer weißen Schürze verborgen, zwischen den eleganten Tischen hin und her geeilt war.

„Mein Vater aß dort oft mit seinen Geschäftsfreunden. Er hat meine Mutter angesprochen, weil sie so ein schönes, trauriges Lächeln hatte. Sie hielten sie für eine Italienerin.“

Er sah Bernice an und lächelte ebenfalls. Schön und traurig, fand sie, und konnte verstehen, warum ein weißer Mann seine Mutter angesprochen hatte.

„Wann hat sie es ihm gesagt?“

„Was? Dass sie schwanger war oder dass sie keine Italienerin war?“

Nun lachten sie beide. Über einen traurigen kleinen Witz. Jetzt, da er ihr nicht mehr feindselig gesinnt war, fand Lewis Bernice sehr nett. Es ließ sich gut mit ihr reden und sie sah gut aus. Bernice bemerkte die Veränderung in seinem Blick und beeilte sich mit ihrer nächsten Frage. Das hier ging ihr zu schnell.

„Was hat dein Vater gemacht, als er es wusste?“

„Nun, sie hat ihm gleich bei ihrem ersten Treffen alles erzählt und Dad war bereits hoffnungslos in sie verliebt. Er fand die Vorstellung Vater zu werden genauso interessant wie die Tatsache, dass Mutter Indianerin war.“

„Ein indianisches Aschenbrödel.“

„Nein. Nein, so würde ich das nicht sagen.“ Lewis versuchte vergeblich seine Überraschung darüber zu verbergen, dass eine Indianerin hier im Reservat die Geschichte von Aschenbrödel kannte. Sie grinste ihn an und er wusste, dass sie wusste, was er dachte.

„Du denkst noch viel zu weiß, Lewis Left Hand. Aber wenn du lange genug bleibst und bereit bist zu lernen, dann könnte noch was aus dir werden.“ Sie sagte dies lächelnd und ließ ihm Zeit, die zwei Seiten eines Lächelns zu begreifen.

„Du weißt wohl genau über mich Bescheid, was?“

„Oh, das Stachelschwein wird wieder borstig!“

Wider Willen musste Lewis lachen und fühlte sich gut dabei. Er begriff die zweite Seite des Lächelns und wurde wieder ernst.

„Nein, meine Eltern haben sich wirklich geliebt. Auf ihre Art. Aber sie konnten nicht über die Dinge reden, die ihnen wichtiger waren als ihre Liebe zueinander. Dad hat mir das gesagt, bevor er ging. Ist ihm nicht leicht gefallen.“ Lewis dachte an das Gespräch zurück.

„Was war ihnen wichtiger?“

Er sah Bernice an und seufzte. „Sie vermissten beide ihre Heimat.“

„Beide?“

„Dad war als Fünfzehnjähriger aus Schottland in die Staaten gekommen.“

„Was sagte dir deine Mutter, wo sie herkam?“

„Indianerland.“

„Ah.“

„Nur solange ich klein war. Sie hat mir Schottland immer auf der Landkarte gezeigt. Aber niemals Indianerland. Ich hab’s erst jetzt gefunden.“

„Wollte dein Dad nicht, dass du es erfährst?“, fragte Bernice und dachte an die Wutanfälle ihres eigenen Vaters. Sinnloser Zorn aus der Flasche.

„Nein. Mein Dad wollte immer, dass ich mehr über meinen leiblichen Vater erfahren sollte. Mehr als das, was Mutter bereit war zu erzählen. Wir haben in den letzten Jahren oft deswegen gestritten.“ Lewis dachte an die Tränen seiner Mutter, die sie geweint hatte, als er sie angebrüllt hatte, ihm endlich zu sagen, was er glaubte, wissen zu müssen. Sie hatte beharrlich geschwiegen und aufgehört zu weinen. Zwei Monate später war sie tot. Warum?

„Kurz vor meinem neunzehnten Geburtstag fand ich durch Zufall zwei Zeitungsartikel über einen Mann namens Left Hand. Meinen Vater. Meinen richtigen Vater, den offensichtlich niemand leiden konnte.“ Er sah Bernice angespannt ins Gesicht. Sie hob die Schultern und wirkte ein wenig ratlos. Wie jemand, der nicht wusste, wie viel er von seinem Wissen preisgeben durfte.

„So kann man das nicht sagen“, meinte sie schließlich vage und suchte nach den richtigen Worten. „Du musst wissen, dass dein Vater nicht von hier war. Das heißt, Johns Großvater war ein Bru- lé Lakota aus Rosebud, aber er hat eine Oglala aus Pine Ridge geheiratet … “ Bernice unterbrach ihre Ausführungen und sah Lewis fragend an, der offensichtlich Mühe hatte ihr zu folgen. „Ich fürchte, für einen Außenstehenden ist das …“, sie stockte abermals und wich seinem Blick aus. „Tut mir leid, ich …“

„Schon gut“, beruhigte er sie. „Du hast ja recht, ich bin ein Fremder. Vollblut hin oder her.“ Lewis grinste verschmitzt. „Ich bin doch ein Vollblut, oder? Keine weiteren Überraschungen?“ Bernice atmete erleichtert auf.

„Nein, solche Überraschungen nicht“, sagte sie leise und wagte nicht, ihm in die Augen zu sehen, aus Angst, er könnte vielleicht ihre Gedanken lesen.

Ja, Lewis, du bist ein Vollblut-Lakota, auch wenn du dich benimmst und sprichst wie ein weißer Mann, dachte sie. Und vielleicht fürchten sich die Leute vor dem, was du glaubst, wissen zu müssen. So, wie deine Mutter sich gefürchtet hat. Sie sagen, du würdest aussehen wie dein Vater. Sie denken, vielleicht ist er wiedergekommen. Bernice beobachtete Lewis unter gesenkten Lidern.

„Übrigens sind verworrene Familienstammbäume nichts Neues für mich. Ich sagte dir doch, mein Dad kommt aus Schottland.“ Lewis war seinen eigenen Gedankengängen gefolgt und sie sah ihn verständnislos an. Dabei spürte sie, wie sich Lewis nach Zugehörigkeit sehnte, wie sehr er danach suchte. Aber das war etwas, das er selbst finden musste. Niemand konnte ihm dabei helfen. Er hatte aufgehört von Schottland zu sprechen.

„Wer war mein wirklicher Vater? Was ist damals passiert? Warum ist er gestorben?“

„Dein Vater war ein aufmüpfiger Bastard!“ Sie beobachtete seine Reaktion und beeilte sich, die Wirkung ihrer Worte zu mildern.

„Das sagt jedenfalls mein Vater.“ Bernice dachte nach und legte sich das, was sie nun sagen wollte, sorgfältig zurecht.

„John Left Hand war zweiundzwanzig, als er nach dem Tod seiner Großtante aus Pine Ridge herkam und begann, in ihrem Haus zu leben. Er war allein und meine Mutter sagt, er hätte sämtlichen Mädchen den Kopf verdreht, ohne eines auch nur ein zweites Mal anzusehen, sobald er hatte, was er wollte.“

„Meine Mutter? War Molly eines dieser Mädchen?“

„Ich glaube eher, dass meine Mutter keines davon war.“

„Du meinst …?“

„Ich weiß es. Großmutter hat es mir erzählt. Sie findet, dass sich meine Mutter noch immer wie ein kleines Mädchen benimmt, dem man sein Lieblingsspielzeug weggenommen hat.“

Lewis konnte bei ihren Worten unschwer erkennen, dass die Dinge im Hause Miller nicht unbedingt zum Besten standen. Bernice hielt auch jetzt den Kopf gesenkt und spielte nervös mit ihrer leeren Tasse. Das sah ja beinahe so aus, als hätten sie beide schon lange darauf gewartet, sich aussprechen zu können.

„Und dein Vater?“, wagte Lewis zu fragen.

„Mein Vater ist auf niemanden gut zu sprechen, der weiß, was er will und dessen Familie eine Geschichte hat.“

„Eine Geschichte?“

„Nun ja, einen Name, den das Volk kennt. Einen Name, der etwas zählt.“

„Und die Left Hands haben eine solche Geschichte? Gut oder schlecht?“

„Beides.“

Bernice erhob sich plötzlich, nahm ihm seine Tasse ab und begann, das Geschirr in dem kleinen Waschbecken, das verloren an der großen weißen Wand hing, zu spülen. Dabei drehte Bernice Lewis den Rücken zu und schwieg. Ende des Gespräches.

„Was ist los?“ Frustriert hob er die Hände. „Habe ich was Falsches gefragt?“

Bernice stellte die Tassen wieder ordentlich neben die Kaffeemaschine und trocknete sich sorgfältig die Hände ab, bevor sie sich umwandte und Lewis, dessen Blick sie kaum zu ertragen vermochte, fest in die Augen sah. Sie hoffte, dass er verstehen würde, warum sie ihm nicht alles sagen konnte. Warum er seine eigene Version der Geschichte finden musste. „Du solltest heute lieber nicht mehr nach Pine Ridge fahren.“

Sie zwang ihre Stimme in einen neutralen Tonfall.

„Der Wetterbericht hat einen Blizzard angekündigt und du würdest Pine Ridge frühestens gegen zehn Uhr abends erreichen. Da ist alles dicht. Die Papiere laufen dir nicht weg.“

Hoffte sie zumindest und verschränkte ihre Finger zu komplizierten Mustern. Sie fröstelte trotz der Wärme, die die Heizung ausstrahlte. Musste sie ihm alles erklären? Sah er denn wirklich nicht ein, dass es an ihm war, die Wahrheit zu finden? Er wusste die einfachsten Dinge nicht, hatte keine Ahnung, wie die Dinge hier liefen. Sie zögerte.

„Ich könnte aber noch dort anrufen und denen sagen, dass du in den nächsten Tagen vorbeischaust“, bot sie ihm an, doch Lewis rührte sich nicht, sondern sah sie nur verständnislos an. Dann stand er plötzlich auf und ging zur Tür. Bernice hielt ihn nicht auf, sah nur zu, wie er das Zimmer verließ und die Tür leise hinter sich schloss. Da sprang sie auf.

„Lewis!“

Zuerst ging er einfach weiter, doch dann blieb er stehen und wandte sich um. Sein Gesicht zeigte denselben gleichgültigen Ausdruck wie vorhin, als sie ihn das erste Mal angesprochen hatte. Bernice lief Lewis ein zweites Mal hinterher und blickte ihm abschätzend in die Augen. Sie erkannte Selbstmitleid, wenn sie es sah.

„Lewis? Ich kann dir nicht mehr sagen. Aber wenn du willst, können wir gemeinsam nach Pine Ridge fahren.“ Was redete sie denn da? War sie verrückt geworden?

„Nein. Schon gut, Bernice.“

Lewis gelang es, seine starren Gesichtszüge neu zu ordnen. Er merkte selbst, dass er sich wie ein schmollender Junge benahm und konnte es Bernice nicht verübeln, wenn sie die Geduld verlor. Immerhin hatte sie ihm in einer Stunde mehr erzählt als er in den letzten drei Monaten in Erfahrung gebracht hatte. Vielleicht lag es ja wirklich an ihm. Vielleicht sollte er einfach etwas tun, anstatt immer nur abzuwarten. Vielleicht gehörte er aber einfach nicht hierher. Ja, er gehörte nirgendwohin. Fast wünschte er, er wäre tot.

„Danke für den Kaffee und das Gespräch. Hat mich gefreut.“ Lewis hatte gelernt höflich zu sein, wenn es die Situation erforderte. Höflich und überzeugend. Bernice Miller sollte sich keine Sorgen machen und auch sonst nichts, was seine Person betraf. Er lächelte.

„Ein Anruf ist wohl nicht nötig. Ich denke, ich fahre in den nächsten Tagen nach Pine Ridge.“ Sie hob zweifelnd ihre Augenbrauen und er beeilte sich weiterzusprechen, um ihren Argwohn zu zerstreuen. „Keine Sorge. Ich muss nur noch einmal über alles nachdenken. Also, nochmals vielen Dank. Bye.“

Lewis schüttelte ihre Hand, die sie ihm willenlos überlassen hatte und die nun für einen kurzen Moment schlaff zwischen seinen Fingern hing. Dann ließ er sie los und wandte sich endgültig ab. Bevor die Tür hinter ihm zuschlug, rief er über die Schulter zurück, dass sie Alma von ihm grüßen möchte. Dann war er fort und die Tür schloss sich mit einem saugenden Geräusch. Ein paar Schneeflocken, Vorboten des Sturmes, landeten vor Bernices Füßen, wo sie innerhalb von Sekunden schmolzen und sich mit den feuchten, braunen Flecken vermischten, die frühere Besucher an diesem Tag hinterlassen hatten.

Bernice starrte durch die Scheiben der Glastür und beobachtete, wie Lewis Left Hand in seinen verbeulten Wagen stieg, den Motor anließ und langsam vom vereisten Parkplatz des Tribal Office schlingerte. Sie hob fröstelnd die Schultern und ging zurück in ihr Büro, wo sie sich steif und ungelenk an ihren Schreibtisch setzte, den Computer einschaltete und gedankenverloren die Wellen beobachtete, die über den blauen Bildschirm krochen.

Lange Zeit saß Bernice einfach nur da. Niemand störte sie. Obwohl oder gerade weil das Büro an diesem Tag unterbesetzt war. Viele Leute hatten die Grippe. Manche hielten es für besser, das Haus heute nicht zu verlassen, sondern vorsichtshalber den angekündigten Blizzard abzuwarten. Es war nichts los. Bernice schaltete kurzerhand den Computer wieder aus und entschloss sich, früher nach Hause zu gehen. Zu dieser Jahreszeit brauchte sie mindestens eine Stunde zum Haus ihrer Eltern. Wäre Alma hier gewesen, hätte sie Bernice jetzt auch losgeschickt, damit sie noch vor der Dunkelheit daheim ankam. Sie räumte auf, schlüpfte in ihren Mantel und schloss das Büro ab.

Die Ratssitzung, die sonst immer am Donnerstag stattfand, war vertagt worden. Inzwischen war es vier Uhr nachmittags und außer Bernice war niemand mehr im Haus. Also schloss sie auch die Eingangstür, durch die Lewis vor ungefähr einer Stunde verschwunden war, hinter sich ab. Der Wind, der draußen über sie herfiel, war schneidend und bitterkalt, so dass es ihr die Tränen in die Augen trieb. Sie wickelte sich fester in ihren Mantel, zog den Schal vor das Gesicht und stieg vorsichtig die vereiste Treppe hinunter.

Der Schneefall war dichter geworden und die anhaltende Dämmerung des Tages ging rasch in die Dunkelheit über. Bernice kratzte notdürftig die Scheiben ihres Wagens frei und ließ dabei den Motor laufen. Durchgefroren setzte sie sich schließlich auf den Fahrersitz und zog die Tür zu. Das Innere des alten Fords war noch immer eisig kalt und die Heizung röchelte und ächzte bei jedem warmen Luftstoß, der sich durch die Lüftungsschlitze quälte. Bernice, die ihre Hände in die Achselhöhlen gesteckt hatte, zog sie nun wieder hervor und steckte sie in ihre Fäustlinge, die sie auf die Lüftung gelegt hatte. Langsam lenkte sie das Auto vom Parkplatz, während sich ihre Gedanken überschlugen.

Sie hatte sich nicht von seinem Lächeln täuschen lassen und war überzeugt davon, dass etwas Schlimmes geschehen würde. Man mischte sich eben nicht ungestraft in die Angelegenheiten anderer Leute ein. Das gehörte sich nicht. Wenn nur ihre Großmutter hier gewesen wäre. Die alte Frau hätte sicher einen Rat gewusst. Bernice hielt an der Kreuzung, obwohl weit und breit kein anderes Fahrzeug zu sehen war. Allerdings konnte man auch nicht mehr allzu weit sehen, da das Schneegestöber immer dichter wurde. Schließlich traf Bernice eine Entscheidung und bog nach links ab.

Sie würde Left Hand nicht hinterher fahren. Ihr Verstand sagte ihr, dass das bei diesem Wetter Irrsinn wäre. Selbst wenn Lewis, wie sie vermutete, nicht direkt zu sich nach Hause gefahren war, was hätte sie schon tun können? Wo hätte sie ihn suchen sollen? Da ihr Gefühl jedoch eine andere Sprache sprach, hatte sie beschlossen, den Weg zwischen den beiden offensichtlichen Möglichkeiten zu gehen. Sie fuhr zum Haus der Little Horses.

Ihre Hoffnung, Bernard dort anzutreffen, wurde gleich darauf enttäuscht, als ihr seine Frau die Tür öffnete und meinte, dass Bernhard vor ein paar Minuten angerufen hätte, um ihr mitzuteilen, dass alle Flüge von Minneapolis nach Rapid City oder Pierre wegen des Blizzards ausfallen würden.

„Bernard ist in Minneapolis?“

„Aber ja. Wussten Sie das nicht, Bernice?“ Eileen Little Horse musterte die junge Frau, die mit entgeisterter Miene vor ihr stand, und kam zu dem Schluss, dass etwas ganz und gar nicht in Ordnung war.

„Kommen Sie herein, bevor wir beide auf der Treppe festfrieren! Kommen Sie!“

Sie zog Bernice in die Wärme des Hauses, half ihr aus dem Mantel und drückte sie auf einen der Stühle in der Küche. Im Zimmer nebenan saßen zwei Mädchen im Teenageralter auf dem Sofa und sahen sich einen Videofilm an. Ein zehnjähriger Junge lag bäuchlings auf dem Boden, vor sich eine Tüte Kartoffelchips, und verfolgte wie seine beiden Schwestern gebannt das Geschehen auf dem Bildschirm. Die drei hatten kaum aufgesehen, als ihre Mutter mit dem unerwarteten Besuch in die Küche kam. Eileen Little Horse setzte Teewasser auf, warf einen flüchtigen Blick auf ihre Kinder und wandte sich ihrem Gast zu.

„Was ist los, Bernice? Sie sehen aus, als hätten Sie einen Geist gesehen.“

Ihr kleiner Scherz versickerte ungehört in der wachsenden Verzweiflung, die sich auf dem Gesicht von Bernice wiederspiegelte. Sachte berührte Eileen den Arm des Mädchens. Dann schloss sie die Schiebetür zum Wohnzimmer und forderte Bernice auf, ihr alles zu erzählen, was sie auch ihrem Mann gesagt hätte. Sie unterbrach Bernice, aus der die Worte nur so heraussprudelten, kein einziges Mal. Als der Wasserkessel pfiff, drehte sie sich lediglich um und zog ihn vom Herd. Erst als Bernice fertig war, stand sie nachdenklich auf und bereitete den Tee zu. Stark und mit sehr viel Zucker. Vielleicht machte sich Bernice grundlos Sorgen. Vielleicht stand ihnen aber auch eine lange Nacht bevor.

Lewis fuhr durch die Nacht.

Als er Rosebud verließ, war es Tag gewesen und er war Richtung Parmelee gefahren. Doch als er auf den Highway nach Westen einbog, setzte bereits die Dämmerung ein, obwohl es erst kurz nach vier Uhr nachmittags war.

Lewis schaltete das Licht ein und die Scheibenwischer. Der Wind kam in immer heftigeren Böen aus Norden und peitschte Schnee und Eis vor sich her. Die Lichtkegel der Scheinwerfer schoben sich schwerfällig durch die weiße Flockenwand und wurden bereits wenige Meter vor dem Wagen von der Dunkelheit verschluckt. Es war Nacht geworden. Lewis fuhr durch die Nacht. Obwohl es ihm eigentlich egal war, wohin er fuhr, wusste er instinktiv, dass Pine Ridge und die Unterlagen über seinen Vater das Ziel dieser Reise waren. Sollte er auf dem Weg zu diesem Ziel allerdings erfrieren, auch gut. Wer wusste schon, was ihn in Pine Ridge erwartete? Unterlagen. Geister aus der Vergangenheit. Ein Vater, der ihn nicht haben wollte. Ein Volk, das er nicht verstand. Nichts. Niemand. Vor diesen letzten beiden fürchtete er sich am meisten.

Lewis umklammerte das Lenkrad und kämpfte sich verbissen durch den schwersten Schneesturm dieses Winters. Er wusste es nicht, und wenn, dann wäre ihm auch das egal gewesen. Er merkte auch nicht, dass er sich nach einiger Zeit nicht mehr auf Reservatsland befand. Wäre es hell gewesen, hätte er die abgeernteten Felder sehen können, die sich nun anstelle des Graslandes zu beiden Seiten der Straße in die Nacht erstreckten. Übergroße Reklameschilder säumten seinen Weg. Doch er bemerkte es nicht.

Erst als die Lichter von Martin durch den Sturm sickerten und Lewis auf kürzlich geräumten Straßen durch den größten Ort des Bennett County fuhr, vorbei an hell erleuchteten Geschäften und Schaufenstern, wurde ihm klar, dass er sich wieder in der Welt draußen befand. Er vermochte sein Glück kaum zu fassen.

Lewis konnte es immer noch nicht fassen, als er in der dritten Kneipe ein Bier oder einen Schnaps zu viel trank und dem bärtigen Mann an der Theke neben ihm seine Faust mitten ins Gesicht rammte. Er fühlte Fleisch und Knorpel nachgeben, als das Nasenbein brach. Seine Fingerknöchel schmerzten und er beobachtete fasziniert, wie das Blut aus der gebrochenen Nase des Mannes schoss und ihm in die Mundwinkel lief. Lewis lachte. Dann wusste er nichts mehr von sich.

Zwei Tage später, der Blizzard hatte sich ausgetobt und war weiter nach Süden gezogen, klingelte das Telefon im Büro der Stammespolizei von Rosebud. Minuten später wusste auch Alma Yellow Hat Bescheid: Lewis Left Hand saß wegen Trunkenheit und Körperverletzung im Gefängnis von Martin und verlangte einen Anwalt zu sprechen.

Der Sheriff äußerte sein Befremden über einen juristisch wohlinformierten jungen Burschen aus dem Reservat, der offenbar seinen Platz in der Weltordnung noch nicht kannte.

Bernard Little Horse, der noch immer in Minneapolis festsaß, wurde informiert und versprach, so schnell wie möglich zu kommen. Inzwischen machte sich Alma Yellow Hat von Rosebud aus auf den Weg nach Martin. Es war Sonntag und sie hatten Glück gehabt, dass das Sheriffbüro sie informiert hatte.

„Mein Name ist Alma Yellow Hat. Ich komme aus Rosebud, um Lewis Left Hand zu besuchen. Man hat uns angerufen und zugesichert, dass ich heute noch eine Besuchserlaubnis erhalten würde.“

„Ah ja. Miss Yellow Hat. Einen Augenblick, bitte.“

Alma wartete, dann wurde sie von einer Beamtin gebeten, ihr zu folgen.

„Sie haben zehn Minuten, Miss Yellow Hat.“

„In Ordnung.“

Alma betrat den kleinen Raum, der als Besucherzimmer diente, und setzte sich auf einen der beiden Stühle, die an dem Tisch in der Mitte des Raumes standen. Sie wartete und hatte Angst. Angst vor dem, was ihr in einem gefangenen Lewis begegnen mochte, und Angst, weil sie nicht wusste, was sie ihm sagen sollte. Es war aber gut gewesen, dass Bernice mit ihm gesprochen hatte. Auch wenn niemand mit diesem Ausgang hatte rechnen können. War vielleicht doch etwas Wahres an dem Spruch, dass ein Left Hand nichts als Ärger machte? Alma erinnerte sich an diese Worte, mit denen ihre Mutter sie vor John gewarnt hatte. Das war lange her. John war tot. Sein Sohn aber lebte.

Die Tür wurde geöffnet und Almas Gedankengänge unterbrochen. Ein Polizeibeamter führte Lewis herein, verließ den Raum und stellte sich draußen neben die Tür. Wenn er wollte, konnte er durch das kleine Fenster in der Tür alles beobachten. Aber es interessierte ihn nicht und er hatte keinen entsprechenden Befehl erhalten.

Lewis zögerte kurz, dann setzte er sich Alma gegenüber an den Tisch, sah sie aus geschwollenen Augen kurz an und schwieg. Alma erschrak beim Anblick von Lewis Gesicht, das in allen Regenbogenfarben schillerte, und holte tief Luft.

„Was ist passiert?“

Lewis versuchte zu blinzeln, was ihm angesichts der Blutergüsse um beide Augen nicht so recht gelingen wollte. Er fuhr sich mit der Zunge über seine aufgeplatzte Unterlippe und brachte, trotz der Schmerzen, ein bescheidenes Grinsen zustande.

„Ich habe über jemanden gelacht, der meine Späße gar nicht komisch fand.“

Alma lächelte vorsichtig zurück und wiederholte ihre Frage.

Er schien sie zuerst gar nicht wahrnehmen zu wollen, aber dann überlegte er es sich anders. Er war froh, dass sie da war. Froh, dass sich jemand um ihn sorgte. Trotz allem.

„Ich habe mit Bernice Miller über meinen Vater gesprochen.“

„Ja, ich weiß. Sie macht sich Vorwürfe deswegen.“

Lewis sah seine Besucherin erstaunt an. „Aber das braucht sie nicht! Ich war froh, endlich mit jemandem darüber reden zu können.“ Er sah, wie Alma schuldbewusst den Kopf senkte, und beeilte sich fortzufahren.

„Bernice trifft keine Schuld an dieser Sache hier. Das habe ich mir selbst eingebrockt, okay?“ Lewis sah an Alma vorbei und fixierte einen imaginären Punkt an der gegenüberliegenden Wand so intensiv, dass Alma versucht war, sich umzudrehen.

Lewis redete weiter. „Möchten Sie vielleicht den Witz hören, den ich in der Bar zum Besten gegeben habe?“

Alma verschluckte das Nein, das ihr auf der Zunge lag und nickte widerstrebend. Der Junge wirkte völlig verändert, aber sie war sich keineswegs sicher, ob ihr die Veränderungen gefielen oder nicht. Sie wartete auf den Witz.

„Ich habe denen erzählt, dass ich ein Vollblut-Sioux auf Entdeckungsreise bin und hier nach meinem toten Daddy suche. Die Pointe ist mir leider entfallen, aber der Mann neben mir lachte und sagte etwas von einem ‚roten Hurensohn‘ und einem ‚Scheißindianer, der sich gefälligst verpissen sollte, bevor sie ihm auf die Sprünge helfen müssten‘. Da habe ich rot gesehen und zugeschlagen.“ Lewis lachte bitter auf und hustete.

Es trat eine betretene Stille ein. Alma hielt den Blick noch immer gesenkt und saß reglos auf ihrem Stuhl. Lewis tastete vorsichtig nach seinem zugeschwollenen linken Auge und verlagerte sein Gewicht, so dass er die Ellbogen auf den Tisch legen konnte, um seinen schweren Kopf mit den Händen halten zu können. Er hatte höllische Kopfschmerzen.

„Es war das erste Mal seit Langem, dass ich mich wieder geprügelt habe“, nuschelte er kaum hörbar. „Ich fand Schlägereien schon immer idiotisch. Vom Saufen ganz zu schweigen.“

Lewis schien sich jetzt mit der Tischplatte zu unterhalten, aber Alma hob den Kopf und sah ihn forschend an. Sie lauschte dem Klang seiner Stimme nach, denn sie glaubte etwas darin gehört zu haben, das sie zutiefst erschreckte. Zuerst hielt sie es für Müdigkeit, Nachwirkungen seines Rausches und der Schlägerei, doch je länger sie ihm zugehört hatte, desto mehr bestätigte sich ihr Verdacht. Lewis Left Hand hatte endlich aufgehört, sich selbst zu bedauern, weil er plötzlich einen Ersatz für dieses Gefühl gefunden hatte. Lewis Left Hand hatte resigniert. Aufgegeben.

Alma widerstand dem Drang, ihn an den Schultern zu packen und durchzuschütteln. Stattdessen fasste sie sich ein Herz. „Dein Vater wurde in einer Kneipe wie dieser erschossen. Anschließend schafften sie seine Leiche nach Pine Ridge, legten sie in ein Auto und schoben den Wagen über eine Klippe in den Badlands.“ Alma schickte ein wortloses Gebet in die heiligen vier Richtungen und bat um Hilfe für sie beide, bevor sie noch hinzufügte: „Es hieß, John Left Hand hätte in betrunkenem Zustand die Kontrolle über den Wagen verloren und einen tödlichen Unfall in unübersichtlichem Gelände gehabt.“

Lewis hob das Gesicht aus seinen Händen und starrte Alma an, als wäre sie ein Geist. Der Geist redete unbeirrt weiter.

„Aber es war kein Unfall. Es war Mord!“

Lewis bewegte die Lippen und brachte keinen Ton heraus. Alma schluckte.

„Und dein Vater war mit Sicherheit nicht betrunken.“

Lewis räusperte sich und fand seine Stimme wieder. „Warum erzählen Sie mir das? Jetzt?“

„Ich denke, du solltest es wissen.“ Alma sah ihm fest in die Augen und hielt seinem verletzten Blick stand. „Es steht nicht viel in den Unterlagen, die in Pine Ridge liegen, aber es gibt Hinweise und eine Akte über deinen Vater … und andere. Das FBI und … und andere wissen Bescheid. In nächster Zeit wirst du jedoch kaum Gelegenheit erhalten, dich darum zu kümmern. Und es wäre unklug, dir die Papiere hierher zu bringen oder …“

Der Wärter drehte den Schlüssel im Schloss und Alma zuckte zusammen. Lewis lehnte sich vor und griff nach ihren Händen. Seine Stimme war ein heiseres Flüstern.

„Warum haben Sie mir das alles nicht früher erzählt, verdammt nochmal?“

Alma blickte ihm ruhig in sein wutverzerrtes Gesicht, bemerkte die mühsam unterdrückten Tränen in seinen Augen, die er verzweifelt zurückzuhalten versuchte, und löste vorsichtig ihre Hände aus seinem fordernden Griff. Ihr blieb nicht mehr viel Zeit.

„Es ist nicht unsere Art, Lewis. Schlimme Dinge sind geschehen. Aber du musst deine eigene Wahrheit finden, dann findest du auch dich selbst.“

Die Tür öffnete sich und der Beamte betrat den Raum. „So Leute, die Besuchszeit ist um.“

Alma erhob sich. Lewis stand langsam auf und hielt ihren Blick fest. Sie lächelte ihm zu. „Keine Sorge, es gibt einen Weg. Und wir werden dich hier rausholen!“

An der Tür drehte sie sich noch einmal um. Ihr Herz machte einen erschrockenen Hüpfer, als ihr John Left Hand in Gestalt seines Sohnes in die Augen sah. Hatten sie ihn auch so zugerichtet, bevor sie mit ihm fertig waren? Almas Herz zog sich schmerzhaft zusammen. Hastig ging sie hinaus.

Minneapolis, Winter 1987

Am Sonntagmorgen hatte das Sheriffbüro die Stammespolizei informiert und gleich nach ihrem Besuch bei Lewis setzte sich Alma mit Bernard Little Horse in Minneapolis in Verbindung. Dieser wandte sich ohne zu zögern an den Anwalt Raymond Burns, von dessen Engagement für die Indianer Bernard sehr angetan war. Burns hatte schon öfter mit Fällen zu tun gehabt, bei denen latenter bis offener Rassismus im Spiel war. Sein besonderes Interesse galt dabei den Ureinwohnern, deren Bevölkerungsanteil in manchen Städten wie Minneapolis relativ hoch war. Trotz eigener Community und sichtbaren Verbesserungen während der letzten Jahre, stellten sie dennoch nur eine Minderheit dar, die sich verzweifelt gegen die stetig steigende Kriminalität zur Wehr zu setzen versuchte.

Burns Engagement kam dabei nicht von ungefähr, denn sein Schwiegervater und ehemaliger Arbeitgeber hatte sich zu seinen Lebzeiten mit Haut und Haaren der Bürgerrechtsbewegung verschrieben, und dabei auch immer wieder Mitglieder von AIM, dem American Indian Movement, vertreten.

Als Bernard Little Horse, Stammesratsmitglied der Brulé Lako- ta, persönlich um Burns Rechtsbeistand für einen jungen Mann namens Left Hand bat, klingelten bei dem Anwalt die Alarmglocken. Der Name erregte Raymonds Aufmerksamkeit und so rief er vor seinem Termin mit Little Horse seine Exfrau Mary-Ann an.

Am frühen Nachmittag tauchte Raymond wie verabredet bei Mary-Ann auf, um sie mit Fragen nach einem ehemaligen Klienten ihres Vaters zu löchern. Ob sie den Namen Left Hand schon einmal gehört hätte? Ob sie die alten Akten ihres Vaters aufbewahrt hätte?

Mary-Ann stand mit verschränkten Armen in der Küche und wartete darauf, dass ihrem Ex endlich die Luft ausging und sie ihm sagen konnte, was sie von ihm und ihrem Vater hielt. Während sie sich den Namen durch den Kopf gehen ließ, musste sie widerwillig zugeben, dass er tatsächlich eine Erinnerung geweckt hatte. Abrupt entfaltete Mary-Ann ihre Arme und ließ Raymond einfach stehen. Bevor er sich von seiner Verblüffung erholen konnte, kam sie bereits mit einem Aktenordner und einem schmalen, ledergebundenen Buch wieder zurück.

„Hier, das ist alles, was ich dir geben kann, Ray. Vater hatte, wie du ja wohl weißt, einen Sammlertick in Bezug auf seine verlorenen Fälle. Er hob seine Notizen auf, für den Fall, dass ein Verfahren neu aufgerollt werden würde. Nun, eigentlich habe ich nach seinem Tod diesen ganzen Aktenmüll hinausgeworfen, aber hier …“ Mary-Ann zögerte und strich sanft mit den Fingern über das abgegriffene Leder des Buches. Schließlich wischte sie energisch ihre Erinnerungen beiseite und hob den Kopf. „Dieser Fall war eine Ausnahme. Ich weiß nicht viel über die Fakten, es ist sehr lange her, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass dieser Fall hier die Ursache für Vaters Tod war. Zumindest indirekt.“

Sie reichte Raymond die Akte und das Buch mit den Worten: „Ray? Versprich mir, dass du vorsichtig sein wirst. Wir sind vielleicht nicht besonders gut miteinander ausgekommen, aber ich will nicht, dass du endest wie Dad!“

Burns schluckte trocken, drückte die Akten an sich und musterte Mary-Anns zweifelndes Gesicht. Er räusperte sich und amüsierte sich über ihre Sorge, antwortete aber ernst: „Annie, dein Vater hat Selbstmord begangen. Wieso sollte das ausgerechnet etwas mit diesem Fall zu tun gehabt haben, um Himmels Willen? Das war vor zwanzig Jahren. Aber dein Vater hat sich erst viel später umgebracht, oder etwa nicht?“

Mary-Anns Zweifel und ihre Sorge hatten sich bei den Worten ihres Exmannes umgehend in Ungeduld und Zorn verwandelt. Es hatte sich nichts geändert und so zischte sie ihm jetzt zwischen zusammengebissenen Zähnen zu: „Dad wollte den Fall wieder aufrollen, du Idiot!“

„Was?!“

„Er war auf irgendetwas gestoßen. Reiner Zufall. Er ging zum FBI, stellte denen eine Menge Fragen, fuhr sogar nach South Dakota und nahm sich die dortigen Akten noch einmal vor, bis er sich vier Wochen später auf einem Parkplatz in Rapid City erschossen hat.“

„Rapid City? Was redest du da? Er ist doch hier in seinem Büro gestorben?“

„Nein, ist er nicht.“

Mary-Anns Stimme klang seltsam tonlos. Erschöpft zog sie sich einen Stuhl heran, ließ sich müde darauf sinken und bat Raymond um ein Glas Whiskey. Vorsichtig nippte sie daran und verzog das Gesicht. Burns wartete.

„Okay“, meinte sie schließlich. „Ich sehe ein, dass es jetzt kein Zurück mehr gibt, oder?“

Raymond nickte und trank einen Schluck aus der Flasche. Mary-Ann überlegte. „Wo fange ich an? Die sechziger Jahre. Wir waren Kinder und haben wohl nicht viel mitgekriegt außer der Mondlandung.“ Pause. „Die sechziger Jahre müssen mörderisch gewesen sein für manche Menschen. Na ja, wahrscheinlich nicht nur die Sechziger. Egal. Nicht nur die schwarzen Bürgerrechtler gingen auf die Straße, sondern auch die Indianer meldeten sich zu Wort. Aber das brauche ich dir als Anwalt in Sachen Bürgerrechte nicht zu erzählen.“

Sie schwieg einen Moment und ließ ihm Zeit, sich an gemeinsame Zeiten zu erinnern. Ihr Vater und später auch ihr Mann hatten sie ihm Stich gelassen, um für ihre höheren Ideale zu kämpfen. Ihre Ehe war dabei auf der Strecke geblieben. Aber das war vorbei. Vielleicht war es nun an der Zeit, dass sie sich selbst um einige Ideale kümmerte. Mary-Ann trank aus.

„Vater hatte einen Fall angenommen, der ihm schon bald über den Kopf wuchs. Das American Indian Movement war an ihn herangetreten und hatte ihn gebeten, sich einige von ihnen zusammengestellte Fakten und Beweise zum Tod eines Sioux-Indianers namens John Left Hand anzusehen. Dad wollte zuerst ablehnen, überlegte es sich aber dann anders. Left Hand war nämlich kein Unbekannter. Das FBI hatte Berge von Akten über ihn, das heißt über seine Aktivitäten zu seinen Lebzeiten, aber nichts über seinen Tod. Zumindest nichts Offizielles. Es schien aber so, als hätte Left Hands Tod einige Dinge ins Rollen gebracht, die später zur Besetzung von Wounded Knee führen sollten. AIM behauptete, es wäre kein Unfall, sondern Mord gewesen. Und zwar nicht der einzige.“

Mary-Ann lehnte sich zurück und hielt Raymond ihr leeres Glas entgegen. Er beeilte sich nachzuschenken. Sie trank und schloss für einen Moment die Augen.

„Dad erhielt mehrere Warnungen. Dabei konnte er sowieso nicht viel unternehmen, da es keine Leiche mehr gab. Das Sheriffbüro, das FBI … alle arbeiteten zusammen, um den Fall Left Hand aus dem Scheinwerferlicht der Öffentlichkeit herauszuhalten. Er wurde als Unfall eingestuft und kam nicht einmal vor Gericht. Fünf Jahre später kam es im Sioux-Reservat Pine Ridge zum Wounded-Knee-Desaster und Dinge wurden ans Licht gezerrt, von denen keiner hören wollte. Plötzlich stand auch der Name Left Hand in allen großen Zeitungen des Landes und Dad, der über all die Jahre penibel Tagebuch geführt hatte, witterte Morgenluft und arbeitete wieder eng mit verschiedenen AIM-Füh- rern zusammen, die einen Prozess anstreben wollten, was natürlich gar nicht gerne gesehen wurde. Eines Abends sagte Dad beiläufig, dass er für einige Zeit nach South Dakota müsste, um lose Fäden zu verknüpfen und einen Zeugen zu sprechen. Tja, das nächste, was wir von ihm hörten, war, dass er Selbstmord begangen hätte. In seinem Büro, wie du schon sagtest. Was aber nicht stimmte.“

„Was soll das heißen?“ Raymond hatte sich vorgebeugt.

„Wir wussten, dass er in Rapid City war. Außerdem ist denen ein peinlicher Fehler unterlaufen.“ Mary-Ann lächelte freudlos.

„Bevor das FBI kam, erhielt Mutter einen Anruf von der örtlichen Polizeidienststelle in Rapid City. Sie teilten ihr mit, dass ihr Mann sich erschossen hätte und fragten, was mit der Leiche geschehen sollte. Keine Stunde später, wir waren in Tränen aufgelöst und Mutter packte schon ein paar Sachen, da stand das FBI vor der Tür. Zwei Agenten teilten uns mit, dass Vater tot in seinem Büro aufgefunden worden wäre.“ Mit Mühe hielt Mary-Ann nun ihre Tränen zurück. „Mutter brach zusammen. Sie fragte nicht und wollte von nichts wissen. Alles war so schnell gegangen.“

„Warum habt ihr zu niemandem etwas gesagt?“ Raymond schüttelte fassungslos den Kopf. „Warum hast du mir nie etwas davon gesagt, Mary-Ann? Dein Vater war mein Chef, mein Mentor … ich, wieso habt ihr mir nicht vertraut?“

„Man hat uns sehr deutlich nahegelegt, die Sache für uns zu behalten. Wir waren gerade mal ein Jahr verheiratet, Ray, und es stand damals schon nicht mehr zum Besten. Du warst nie da, wenn ich dich brauchte. Was Vater anbelangt, so glaube ich, dass er dich aus allem heraushalten wollte, was deiner Karriere längerfristig hätte schaden können.“

Mary-Ann schluckte und versuchte nicht an die Schrecken der Vergangenheit zu denken, aber sie ließen sich nicht mehr verdrängen. Nicht, nachdem sie ausgesprochen waren. Nicht, nachdem Namen genannt worden waren, die für immer hätten verschwiegen werden sollen. Mary-Ann stützte den Kopf in die Hände und dachte an ihre Mutter, die sich bis heute weigerte, die Anordnungen des FBI in Frage zu stellen. Die sich geweigert hatte, mit den Vertretern von AIM zu sprechen, und die ihrer Tochter verboten hatte, die Entscheidungen ihrer Mutter anzuzweifeln. Und nun?

Raymond war aufgestanden und tigerte aufgeregt durch ihre Wohnung. Er gab sich Mühe, das eben Gehörte zu verdauen und begann sich zu fragen, was ihm seine Frau und sein Schwiegervater noch alles verheimlicht hatten. War er wirklich so blind gewesen? In all den Jahren? Was für eine Art von Anwalt war er eigentlich? Mary-Ann schien seine Gedanken zu lesen und lächelte ihm wehmütig zu.

„Du bist ein guter Anwalt, Ray. Aber du hattest von Anfang an mehr für deine Karriere übrig als für deine Familie. Dad war tot, daran war nichts mehr zu ändern. Mom wollte mit der Kanzlei nichts mehr zu tun haben und du hattest deine Fühler gerade nach Washington ausgestreckt. Das war’s dann. Alles, was von damals geblieben ist, hältst du in Händen.“

„Wie bist du zu der Akte und dem Tagebuch gekommen? Nach dem, was du mir gerade erzählt hast, hätte ich angenommen, das FBI hätte alles beschlagnahmt.“

„Haben sie auch. Sogar Dads private Unterlagen.“

„Also?“

„Hm, eine Woche nach dem Tod meines Dads erhielt ich ein Päckchen aus South Dakota. Kein Absender. Es enthielt die Akte und das Tagebuch, sonst nichts. Ich habe es behalten, aber ich brachte es nicht über mich, es zu lesen. Darum …“ Sie hob die Schultern in einer hilflosen Geste und sah ihn forschend an.

Raymond nickte nur und meinte: „Schon gut. Ich verstehe.“

„Tust du das wirklich, Ray?“

Mary-Ann wusste nicht, ob sie wirklich wollte, dass er das alles erfuhr. Aber sie wusste, dass dies womöglich die letzte und einzige Möglichkeit sein würde, den Tod ihres Vaters nach all den Jahren der Ungewissheit aufzuklären. Raymond war ein guter Anwalt.

„Ray? Was hat das alles zu bedeuten? Warum hat Dad die Anweisung gegeben, mir nach seinem Tod die Unterlagen zu schicken? Warum durften wir nie über die Umstände seines Todes sprechen? Wer war dieser John Left Hand? Und warum, verdammt nochmal, willst du eigentlich alles über diesen Fall wissen?“

Sie war wütend über ihre Hilflosigkeit. Burns nahm ihre Hand und lächelte sie an. „Ich weiß noch nicht, was es bedeutet. Dein Dad war ein kluger Mann. Er hat dir sein Tagebuch geschickt, weil er wusste, dass du sein Geheimnis niemals preisgeben würdest. Die Frage nach John Left Hand kann ich dir noch nicht beantworten, aber so, wie die Dinge liegen, braucht sein Sohn meine Hilfe.“

„Sein Sohn?!“

„Frag nicht. Ich kann dir noch nichts sagen, aber ich verspreche dir, dass ich versuchen werde, Antworten auf deine Fragen zu finden.“ Und auf meine, dachte er.

Burns küsste die Hand seiner Exfrau und verabschiedete sich. Zeit, sich auf den Weg zu machen. Ein gewisser Bernard Little Horse wartete bereits seit einer halben Stunde auf sein Erscheinen. Burns würde den Fall übernehmen. Vielleicht nicht nur diesen.

Mary-Ann brachte ihn zur Tür. „Du wirst vorsichtig sein, ja?“

„Ich verspreche es.“

Zwei Stunden später saß Raymond Burns dem Mitglied des Stammesrates Little Horse gegenüber und murmelte seinem Gast etwas über ein angebliches Verkehrschaos als Entschuldigung zu. Der saß, die personifizierte Geduld, schweigend in seinem Besuchersessel und schien sich am Verhalten des Anwalts nicht im Geringsten zu stören.

Bernard Little Horse hatte dem Anwalt alles über Lewis berichtet, was ihm wichtig erschien und was er wusste. Burns hatte schon vorab sein Interesse an dem Fall bekundet und Bernard in seinen Ausführungen bis auf einige Zwischenfragen nicht unterbrochen. Während er darüber nachdachte, wie er Little Horse am besten aus der Reserve locken konnte, um herauszufinden, was er über John Left Hand wusste, und warum er dessen Todesumstände mit keinem Wort erwähnt hatte, stellte Little Horse ähnliche Überlegungen an. Konnte er Burns trauen? Genügte es nicht, Lewis frei zu bekommen und die alten Geschichten ruhen zu lassen? Er seufzte innerlich und rief sich das Telefonat mit Alma ins Gedächtnis. Sie hatte Lewis gesehen und war überzeugt davon, dass der Junge am Abgrund stand und dringend Hilfe brauchte. Außerdem würde er ohnehin keine Ruhe mehr geben, bis er die Wahrheit über seinen Vater in Erfahrung gebracht hatte. Nun gut, dachte Bernard, und sein Entschluss stand fest. Auch Raymond gab sich einen Ruck, lächelte sein Gegenüber entwaffnend an und sagte mit fester Stimme: „Mr Little Horse, ich danke Ihnen für Ihre Offenheit. Obwohl Ihr Schützling Lewis nicht unbedingt meinen üblichen Fällen entspricht, haben Sie mich neugierig gemacht. Ich werde also seine Verteidigung übernehmen.“ Burns lächelte erneut, als er die Erleichterung im Gesicht von Little Horse registrierte, obwohl dieser sich sichtlich Mühe gab, eine unbewegte Miene zur Schau zu stellen. Bevor der Indianer antworten konnte, hob Burns die Hand und beugte sich leicht vor: „Was das Honorar betrifft, können Sie beruhigt sein. Eine Sache würde mich allerdings noch interessieren. Haben die Probleme meines Mandanten etwas mit denen seines Vaters zu tun?“ Burns sah Little Horse forschend ins Gesicht.

Dieser war bei der Frage des Anwalts unwillkürlich zusammengezuckt, das war nicht zu übersehen gewesen. Für einen Moment schlug er die Augen nieder, dann blickte er Burns an und antwortete, ohne mit der Wimper zu zucken: „ Nein, ich denke nicht.“

Burns lehnte sich zurück und wartete. Bernard zögerte erneut. Nachdem alle so lange geschwiegen hatten, fiel es ihm jetzt schwer zu reden. Aber vielleicht war die Zeit ja reif.

„Nein, die Schlägerei hat mit Johns Tod nichts zu tun.“ Er fuhr sich mit der Zunge über die ausgetrockneten Lippen und schluckte. „Aber sein Tod hat alles in Gang gesetzt.“

Ah, dachte Burns. Da war es wieder. Auch Mary-Ann hatte davon gesprochen, dass mit John Left Hands Tod die Dinge ins Rollen gekommen waren.

Laut dagegen fragte er: „Es war Mord, wenn ich richtig informiert bin, nicht wahr?“

Little Horse zuckte abermals zusammen. Es gelang ihm nicht, seine Gefühle zu verbergen. Misstrauisch sah er Burns ins Gesicht. Schweiß begann sich auf seiner Oberlippe zu bilden. Man sprach nicht über die Toten, das brachte nur Unglück. Verfluchte Left Hands!

„Mord?“, fragte Bernard und hatte sich wieder in der Gewalt. „Nicht?“ Burns beugte sich nach vorn.

Little Horse wischte sich über die Oberlippe und entgegnete kühl und abweisend: „Nun, im Polizeibericht ist die Rede von Trunkenheit am Steuer und Unfall mit tödlichem Ausgang.“

„Sie kennen also den Bericht? Auch den des FBI?“, konterte Burns ebenso kühl.

„Warum sollte das FBI einen Bericht über den Autounfall eines besoffenen Indianers haben?“

„Weil es vielleicht kein Unfall war. Was denken Sie?“

Bernard schwieg.

Burns hakte unerbittlich nach. „Hören Sie, wenn ich dem Jungen helfen soll, wäre es nicht das Schlechteste auch über den Vater Bescheid zu wissen.“ Burns bemühte sich um Neutralität.

„Mr Burns, ich bin gekommen, um Sie zu bitten, einen Stammesangehörigen aus einem staatlichen Gefängnis herauszuholen. Das ist alles. Alles andere liegt lange genug zurück, um es vergessen zu können.“ Little Horse brach erneut der Schweiß aus.

„Aber Sie haben es nicht vergessen.“ Burns starrte unentwegt in die dunklen Augen seines Gegenübers. Etwas regte sich darin. Er durfte jetzt nicht locker lassen.

„Keiner hat es vergessen, nicht wahr? Und Lewis ist nicht irgendein Stammesangehöriger, für den Sie sich persönlich ins Zeug legen …“ Burns ließ den Satz in der Luft hängen.

„Nein, Sie haben recht.“ Bernard senkte die Lider. „Keiner hat es vergessen. Und Lewis wird nicht eher Ruhe geben, bis er weiß, was passiert ist. Aber die Leute haben Angst vor dem, was die Wahrheit dem Stamm vielleicht bringen wird.“

„Was ist die Wahrheit?“, fragte Burns gespannt.

„Ich weiß es nicht. Keiner weiß es.“ Bernard Little Horse spreizte beide Hände und schüttelte den Kopf. „Alles, was wir zu wissen glauben, ist, dass es Mord war. Aber wir haben keinerlei Beweise und wir wissen auch nicht, warum. Woher wissen Sie eigentlich davon?“

Nun war es an Raymond zu zögern. Wie viel durfte er preisgeben? Eine Menge Menschen hatten Angst. Auch Little Horse. War es richtig, sie in Gefahr zu bringen? Nein, aber der Gerechtigkeit musste Genüge getan werden. Burns dachte an seinen Schwiegervater.

„Mein Schwiegervater war mit dem Fall John Left Hand vertraut. Er starb auch unter etwas mysteriösen Umständen, wie ich erst heute erfahren habe, als AIM den Fall 1973 wieder aufrollen wollte. Malcolm wollte in Rapid City mit einem Zeugen reden, aber …“, weiter kam Burns nicht.

Bernard fiel ihm aufgeregt ins Wort: „Malcolm? Etwa Malcolm Urquart? Er ist Ihr Schwiegervater?“

Burns nickte nur und Bernard starrte ihn mit offenem Mund an. Er brachte kein Wort mehr heraus, lediglich ein erbärmliches Gurgelgeräusch, das den Anwalt fast zum Lächeln brachte, doch ein Lächeln schien dem Ernst der Situation nicht angemessen. „Sie kannten meinen Schwiegervater?“ Nun hatte die Überraschung wieder die Seite gewechselt. Der Anwalt musterte Little Horse über den Schreibtisch hinweg.

„Nicht persönlich. Aber es hatte sich damals schnell herumgesprochen, dass ein bekannter Anwalt aus Minneapolis in der Nähe von Rapid City Selbstmord begangen haben sollte. Auch, dass er für AIM tätig gewesen war, weswegen die meisten seinen Tod nicht weiter tragisch genommen hatten. Damals starben viele meiner Leute. Urquart hatte einen guten Ruf als Anwalt für Bürgerrechte. Sein Tod war ein großer Verlust.“

Burns räusperte sich und setzte mehrmals vergeblich zum Sprechen an, bevor er fragte: „Haben Sie an der Selbstmordversion gezweifelt?“

„Wir, ja.“ Bernard nickte bedächtig.

„Ah.“ Burns lächelte.

South Dakota, Winter 1987

Am Montagnachmittag landete die Maschine der Midwest Airline auf dem Flughafen von Pierre, der Hauptstadt des Staates South Dakota, wo die beiden Männer bereits von Alma Yellow Hat erwartet wurden.

Seine erste Nacht verbrachte der Anwalt im Rosebud Reservat im Haus der Little Horses, wo er sich Eileens Abendessen schmecken ließ und später mit ihr und ihrem Mann ein angeregtes Gespräch über Menschenrechte im Allgemeinen und Lewis Left Hand im Besonderen führte.

Erfrischt, ausgeruht und wohlinformiert machte sich Raymond Burns am nächsten Morgen auf den Weg nach Martin. Unterwegs machte er sich Gedanken über die besondere Rechtslage des Falles, auf die er am Abend zuvor schon die Little Horses aufmerksam gemacht hatte. Der vollständige Name von Lewis lautete nämlich Lewis Alistair Left Hand Maclean. Das bedeutete, dass er, rein rechtlich gesehen, der Sohn von Mr Maclean war, einem amerikanischen Staatsbürger schottischer Herkunft, der gerade wieder zum Schotten wurde. Das bedeutete weiterhin, dass Lewis offiziell keinerlei Rechte als Reservatsindianer besaß und deswegen ein ganz normaler amerikanischer Steuerzahler war, der im Reservat eigentlich keinen Landanspruch hatte. An dieser Stelle hatten die Little Horses vehement widersprochen und konnten sich nur schwer beruhigen.

Burns überlegte nun, wie sich diese Sache am besten für seinen Mandanten nutzen ließe, oder ob es nicht besser wäre, Lewis Status zu ändern.

Nach einem ersten Gespräch mit Lewis, der seinem Anwalt durchaus vernünftig und auch sympathisch erschien, schöpfte Burns neue Hoffnung und versprach, sein Möglichstes zu tun und in zwei Tagen wiederzukommen, sobald er sich ein konkretes Bild gemacht hätte.

Als Lewis ihn auf sein Honorar angesprochen hatte mit der Bemerkung, dass er auf keine Almosen angewiesen wäre und sich durchaus einen Anwalt leisten könnte, wenn dieser es wert wäre, hatte Raymond Burns dünn gelächelt. Gedacht hatte er, dass es nicht verwunderlich war, wenn die Leute vom Sheriff bis zur Tribal Office Sekretärin aufgebracht reagierten, sobald sie es mit Lewis Left Hand zu tun bekamen. Diese jugendliche Arroganz war wirklich kaum zu überbieten. Dennoch bewunderte Burns den jungen Mann im Stillen und hatte mit Befriedigung registriert, dass von Resignation keine Rede mehr sein konnte. Mrs Yellow Hat würde erfreut sein, das zu hören.

Im Übrigen hatte Burns auch dafür gesorgt, dass Aufnahmen von Lewis nur langsam abheilendem Gesicht gemacht wurden und ihn eingehend zu seiner Behandlung von Seiten des Gefängnispersonals befragt. Anschließend hatte der Anwalt Erkundigungen über die gebrochene Nase eingezogen und sich ein Bild vom Ort des Geschehens gemacht, indem er sich in besagter Bar als neugieriger Tourist ausgab, dem man neugierige Fragen bereitwillig beantwortet hatte.

Als Burns sich schließlich gegen zehn Uhr abends in sein Motelzimmer zurückzog, war er mit dem Ergebnis seiner bisherigen Arbeit durchaus zufrieden. Er vermisste die Gastlichkeit des Hauses Little Horse und beschloss, dem Reservat am nächsten Tag einen Besuch abzustatten, um sich auch von den näheren Lebensumständen seines Mandanten ein besseres Bild machen zu können. Er musste zugeben, dass ihn Lewis Left Hand neugierig gemacht hatte. Mit diesem Gedanken schlief Burns kurze Zeit später ein.

Im Gefängnis lag unterdessen Lewis Left Hand hellwach auf der Pritsche und lauschte auf das Pochen seines Herzens. Er vermisste die Einsamkeit seines blauen Hauses und die Weite des Raumes. Er lag ganz still und kostete vom bitteren Geschmack des Heimwehs. Auch in dieser Nacht schlief er kaum.

Am Mittwoch stand Burns fröstelnd in dem kleinen Haus, das Lewis von seinem leiblichen Vater geerbt und wieder bewohnbar gemacht hatte. Der Anwalt befand sich in Begleitung von Alma und Bernice, da Little Horse in Stammesangelegenheiten unterwegs war.

Die beiden Frauen sprachen nicht viel, aber Burns fühlte sich durchaus wohl in ihrer stillen Gesellschaft. Miss Miller, fiel ihm auf, schien das erste Mal hier zu sein und betrachtete alles sehr aufmerksam. Alma hingegen kannte sich aus und schnalzte beim Anblick der Küche anerkennend mit der Zunge. Dann sagte sie etwas in ihrer Sprache zu Bernice, die daraufhin lächelnd den Kopf schüttelte.

Als er nach einem kurzen Rundgang zurück ins Haus kam, prasselte ein Feuer im Herd und auf dem Tisch standen eine bescheidene Mahlzeit und drei dampfende Tassen. Verschmitzt erklärten die Frauen ihm, dass die Lebensmittel nicht ewig haltbar wären und dass es in weitem Umkreis keine andere Möglichkeit zum Essen gäbe. Burns streckte seine Fühler aus und erhielt erste Antworten auf seine vorsichtigen Fragen.

Wie versprochen besuchte Burns seinen Klienten am darauffolgenden Tag. Lewis sah inzwischen besser aus und schien mit sich und der Welt auf sonderbare Weise Frieden geschlossen zu haben. Diesmal fragte ihn Burns auch nicht nach Einzelheiten der Schlägerei, sondern wie es überhaupt dazu gekommen war, dass Lewis mitten in der Nacht durch einen Jahrhundertschneesturm fuhr, um dann im erstbesten größeren Ort plötzlich anzuhalten, sich innerhalb kürzester Zeit sinnlos zu betrinken und sich mit allen Gästen der Dinosaurier-Bar auf einmal anzulegen.

Lewis überlegte und besah sich dabei eingehend das schmucke Nadelstreifenmuster vom tadellos sitzenden Anzug seines Anwalts. New York und die dazugehörige Welt schienen Lichtjahre entfernt. Genau wie Mr Burns, der doch direkt vor ihm saß.

„Was wissen Sie denn inzwischen über mich?“, fragte er schließlich.

„Nun, nicht viel“, entgegnete Burns und lächelte. „Aber doch eine ganze Menge, wenn ich es mir recht überlege.“

„Die Vorgeschichte?“

Burns nickte. „Mr Little Horse war so freundlich, mich über die letzten neunzehn Jahre Ihres Lebens aufzuklären. So gut er es vermochte.“

Er schwieg einen Moment und fuhr dann fort: „Ich kann mir immerhin vorstellen, dass die Situation, in der Sie sich seit dem Tod Ihrer Mutter und seit Ihrem Umzug ins Reservat befinden, nicht gerade einfach für Sie ist. Da kann es leicht zu unvorhergesehenen emotionalen Spannungen kommen.“

„Ich bin deswegen nicht übergeschnappt, wenn Sie das meinen.“

„Nein, das meinte ich nicht. Aber es gibt Situationen im Leben, die einen durchaus zu, sagen wir, Kurzschlusshandlungen treiben können. Stimmen Sie mir in diesem Punkt zu?“

Lewis nickte und lächelte freudlos.

Burns wartete geduldig. Irgendwann begann Lewis zu erzählen. Von Zeitungsartikeln und blauen Häusern. Von seiner Ankunft, die keine war. Von Albträumen und Küchenstühlen. Müttern und Vätern. Von sich selbst. Seiner Einsamkeit und seiner Suche. Raymond Burns hörte zu.

„Wissen Sie denn, wohin Sie gehen werden, wenn ich erreiche, dass Sie auf Kaution freikommen?“, fragte er schließlich neugierig.

Lewis sah ihn erstaunt an. „Ich denke, dass ich nach Hause gehen werde, wohin sonst?“

„Ah, das blaue Haus. Sehr nett, nur etwas einsam.“

„Sie waren also dort.“ Es war eine Feststellung.

„Ja. Mit Alma und Bernice.“ Enthusiastisches Kopfnicken. „Und?“ Es klang misstrauisch.

„Wir haben alle Ihre Vorräte aufgegessen! Sie können uns also verklagen, wenn Sie wollen.“ Die zwei Seiten eines Lächelns. Da waren sie wieder.

„Gefällt Alma die Küche?“ Lewis zeigte zum ersten Mal ein vorsichtiges Entgegenkommen.

„Sie war entzückt.“ Der Anwalt erlaubte sich ein offenes Grinsen. Lewis wagte den nächsten Schritt und überquerte den Abgrund, der zwischen ihnen lag. „Ich danke Ihnen, Mr Burns.“ Er streckte seine Hand über den Tisch und fühlte sich so stark wie lange nicht mehr.

„Keine Ursache“, entgegnete Raymond einfach und ergriff die dargebotene Hand mit festem Druck. Für einen kurzen Augenblick waren sie mehr als Anwalt und Mandant. Sie waren Verbündete.

Zwei Tage später wurde Lewis gegen Kaution auf freien Fuß gesetzt. Seine Verhandlung wurde für den zwölften Januar des folgenden Jahres anberaumt. Bis dahin blieb ihm Zeit, um sich darüber klar zu werden, ob ihm an der Aufklärung des Falles Left Hand Senior gelegen war. Er würde sich das diesbezügliche Angebot seines fähigen Verteidigers durch den Kopf gehen lassen. Blieb natürlich auch die Frage, ob Burns im Januar einen Freispruch durchbringen würde. Raymond Burns flog nach Minneapolis, während Lewis ins Reservat zurückkehrte. Im blauen Haus waren die Vorräte ergänzt worden.

Sturmgeflüster

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