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Erstes Kapitel

Lewis Left Hand Geistertanz

New York, Mai 1968

Molly Walks Around The Water hatte sich davongestohlen. Weit weg von dem blauen Haus ihrer Erinnerung, weit weg von den Warteräumen der Vergangenheit kam ihr Kind zur Welt. Molly hatte die Farben ihrer Herkunft neu gemischt und verteilte sie mit großzügigen Pinselstrichen auf der weißen Leinwand ihrer Zukunft.

Andrew Maclean. Der Name ihres neuen Mannes. New York. Die Heimat ihres neuen Mannes. Andrew Maclean war ein guter Mann und er würde ein guter Vater für ihren Sohn sein.

Molly war allein. Allein mit der Vergangenheit und dem Traum der Zukunft in ihren Armen. Sie summte leise vor sich hin. Eine alte, erdige Melodie. Das Baby bewegte sich, drehte den Kopf. Die winzigen Finger der linken Hand ballten sich zur Faust. Die Mutter lächelte.

Molly Walks Around The Water nannte ihren Sohn Lewis Alistair Left Hand Maclean.

Lewis nach dem Vater ihrer Mutter: Lewis Clark Many Horses.

Alistair nach dem Vater ihres Mannes: Alistair James Maclean.

Left Hand nach dem wahren Vater ihres Sohnes: John Left Hand.

Andrew kam und küsste zuerst seine Frau und dann seinen Sohn.

Er war glücklich. Alles schien gut.

Rosebud Reservation, Mai 1968

John Left Hand wusste nichts von Mollys Schwangerschaft. Bemerkte nicht einmal, dass sie plötzlich nicht mehr da war. Er ahnte nichts von der Existenz seines Sohnes. Es konnte ihm auch völlig egal sein, denn John Left Hand Junior war bereits tot, als die Lichter in Mollys Kreißsaal ausgingen.

Molly hörte erst Wochen später von einem Zwischenfall in der Pine Ridge Reservation in South Dakota, bei dem, wieder einmal unter mysteriösen Umständen, ein Indianer ums Leben gekommen war. Eine Tatsache, die lediglich von der Presse im Osten registriert worden war. Ortsansässige Blätter urteilten anders.

„Zuviel Alkohol“ hieß es in seriösen Medienkreisen.

„Betrunkene Rothaut“ vermerkte eine der Lokalzeitungen.

„Kein Grund zur Aufregung“ lautete die schulterzuckende Reaktion der Bevölkerung.

Der Fall John Left Hand lag schon bei den Akten, bevor ein richtiger Fall daraus werden konnte.

John war das egal. Selbst wenn er noch hätte aussagen können, hätte ihn wohl keiner gefragt. Seine Leiche wollte auch niemand sehen. Nicht der Mühe wert. Kein rechtschaffener Pathologe schüttelte den Kopf. Kein aufrechter, vom Leben gebeutelter Beamter der Mordkommission bemühte sich um Aufklärung. Kein Aufschrei der Empörung ging durchs Volk. Und keine gramgebeugten Verwandten zogen vor Gericht, um beim letzten unparteiischen Richter des Staates ein gerechtes Urteil über einen Fall zu erwirken, der gar keiner war. Es hätten ohnehin keine Beweise mehr existiert, denn aufgrund einer bedauerlichen Unachtsamkeit der neuen Sekretärin des zuständigen Beamten hatte man die Leiche eingeäschert.

Die Polizei hatte ihre Arbeit nach bestem Wissen und Gewissen getan und die Leiche aufgesammelt. Der Pathologe hatte einen Zettel mit der Nummer 7985 an Johns linkem großem Zeh befestigt und ihn für einige Tage tiefgekühlt. Der Sheriff sah keinen Grund für eine Anklage und schrieb „Tod durch Unfall unter Alkoholeinfluss“ in seinen Abschlussbericht, bevor er mit Frau und Kindern zum Angeln in die Black Hills fuhr. Der Richter stempelte und unterschrieb. Sein Magenleiden hatte sich verschlechtert. Trotz der neuen Tabletten.

Patricia Left Hand, die einzige Schwester des Toten, hatte die Welt schon lange vorher verflucht und es hieß, sie hätte das Reservat endgültig verlassen, um in Chicago unterzutauchen. Aktivisten der Indianerbewegung kamen vorbei, sahen sich um und fuhren anscheinend unverrichteter Dinge wieder ab. Die Zeit war noch nicht reif.

Man vergrub Johns Asche neben den anderen Gräbern auf dem Anwesen der Left Hands in der Rosebud Reservation, verschloss die Tür des blauen Hauses und überließ es den Toten, mit der neuen Situation fertig zu werden.

John machte es sich bequem und dachte, dass er es noch nie so gut gehabt hatte wie jetzt, da er tot war. Keine Sorgen mehr um Jobs und Geld. Kein Ärger mit der Regierung. Das Büro für Indianische Angelegenheiten ließ ihn in Ruhe und er war endlich frei, zu gehen, wohin er wollte, und zu sein, wer er war. Obendrein ein neues Haus vom Staat, nachdem er jahrelang darum gebettelt hatte: Die Urne war zwar klein, aber sauber und ordentlich. Gleich nebenan wohnten seine Eltern. John wollte ihnen erzählen, was geschehen war, aber sie wussten es bereits. Seine Mutter hatte sich gar nicht verändert, fand John. Sie lachte sogar mehr als früher. Und sein Vater! Es tat ihm richtig gut, dass er nicht mehr trank. Die Eltern freuten sich, verschwiegen ihrem Sohn aber, dass er gerade Vater geworden war. Er wirkte so gelöst und glücklich. Er würde es früh genug erfahren. John Left Hand jedenfalls war überzeugt, das große Los gezogen zu haben. Dass der Preis dafür sein Leben war, störte ihn nicht besonders. Er zuckte mit den Schultern. Die Kugel war gut gezielt und schnell gewesen. Der Gewinn war der Tod. Es hätte schlimmer enden können, dachte John und wandte sich an seine Mutter, um zu erfahren, wann es ihnen gestattet sein würde, die letzten fünf Schritte zu tun, um das Ende der Welt und ihre Vorfahren zu erreichen. Aber seine Mutter schüttelte nur lächelnd den Kopf und mahnte ihren Sohn zur Geduld. Eine Kleinigkeit wäre noch zu erledigen, aber die Zeit war noch nicht reif.

New York, Ende Mai 1968

Molly Walks Around The Water schnitt sich Zeitungsartikel aus. Zwei. Aus der New York Times und der Chicago Tribune. Noch bevor ihr Sohn eine Woche alt war, hatte seine Mutter bereits ein Album voller Fotos. Gewissenhaft hielt sie ihr neues Leben fest. Genauso gewissenhaft legte sie die beiden Zeitungsartikel über ungeklärte Todesfälle indianischer Bürgerrechtler in South Dakota zwischen die letzten Seiten des Albums und verklebte diese miteinander. Nur für den Fall, dass ihr etwas zustoßen sollte.

Wenn der Junge den Grips seines Vaters geerbt hatte, würde er die notwendigen Schlüsse ziehen. Wenn nicht, auch gut.

Molly begutachtete ihr Werk, zwirbelte einen Rest Klebstoff zwischen Daumen und Zeigefinger und sah für einige Minuten zum Fenster hinaus. John Left Hand hatte vermutlich keine Ahnung gehabt, dachte sie und lächelte. Dann setzte sie Wasser auf und holte zwei Steaks aus dem Gefrierfach ihres Kühlschrankes. Ihres Kühlschrankes. Ihrer. Eis im Sommer. Kaltes Fleisch statt Hunger. In einer Stunde würde Andrew von der Arbeit kommen. Ihr Mann. Er war das Gegenteil von John, aber er liebte dessen Sohn wie seinen eigenen. Molly mochte Andrew. Er kümmerte sich um sie. Molly warf einen Blick auf das Fotoalbum. Gut, dass sie die Artikel weggeklebt hatte. Gut, dass sich John Left Hand nicht weiter um sie gekümmert hatte. Jetzt konnte sie nur hoffen, dass Andrew keine Fragen mehr stellte und dass John blieb, wo er war. Molly schüttete den Reis ins kochende Wasser.

New York, Februar 1973

Molly rauchte mehr als je zuvor. Jahrelang hatte sie es geschafft, ihrer Vergangenheit den Rücken zu kehren. Sie hatte gelernt, sich ihrer Umgebung anzupassen. Und sie musste vor sich selbst zugeben, dass ihr das neue Leben nicht schlecht gefallen hatte. Wahrscheinlich war es leichter, sich an Annehmlichkeiten zu gewöhnen als Ungerechtigkeiten hinzunehmen. Seltsamerweise waren es jedoch die Ungerechtigkeiten, die sie irgendwann vermisste, und die Annehmlichkeiten, die sie mitunter zu langweilen begannen. Molly hatte angefangen auf etwas zu warten. Nichts Konkretes. Irgendetwas.

Dann waren da plötzlich überall Zeitungsartikel und sie riss die letzten Albumseiten auseinander und versuchte vergebens, all die neuen Toten und Worte dort unterzubringen. Wohin sie auch sah sprangen ihr die Erinnerung und ihr früheres Leben ins Gesicht: Wounded Knee. Blutrünstige Rothäute. Staatsfeinde. Aufschrei der Unterdrückten. Mord und Totschlag. Wut. Verzweiflung. Trauer. Hoffnung und Leben. Auch der Name John Left Hand tauchte auf und griff nach Molly Walks Around The Water. Ein Opfer und viele Fragen.

Molly zündete sich die siebte Zigarette in einer Stunde an. Sieben ist eine heilige Zahl, dachte sie dabei und starrte dem Rauch nach, der sich vor ihren Augen in ein blaues Haus verwandelte.

Im Irgendwo der Ebene, im Rosenknospen Reservat, in der Einsamkeit des Graslandes steht ein blaues Haus. Die Farbe blättert bereits ab. Niemand wohnt mehr dort, doch die leeren Räume sind voller Stimmen. Das Haus liegt weitab von der Straße. Nur wer davon weiß und den Weg gut kennt, findet die Reifenspur, die zu dem blauen Haus führt. Irgendwann.

Im Sommer, wenn das Land dürr ist, die Gräser trocken und hart, dann würde sich mit jedem Besucher eine Staubwolke nähern. Und im Winter, wenn das Land erstarrt ist, die Gräser begraben unter Schnee und Eis, dann steht das Haus blau und kalt in der weißen Einsamkeit. Die kahlen Pappeln verharren aufrecht vor dem Eingang und warten. Auf den Frühling. Auf ihre Blätter. Auf gelbe Staubwolken. Doch niemand kommt. Im Haus wird gesungen und gelacht. Irgendwann wird es Frühling. Die Blätter sprießen. Aber nur der Wind wirbelt Staub auf. Und John Left Hand ist nichts weiter als ein unsichtbarer Pappeltraum.

Rapid City, South Dakota, April 1973

„Hören Sie, Smith, Sie wissen doch mehr als Sie zugeben!”

Der schwarzhaarige Mann Anfang dreißig, dessen wettergegerbtes Gesicht bereits von tiefen Falten des Kummers durchzogen war, sagte nichts, senkte aber den Blick und schüttelte den Kopf. Eine verzweifelte Geste? Der Anwalt glaubte nicht daran. Seit vier Stunden saß er nun mit Smith in diesem muffigen Motelzimmer und stellte ihm immer wieder die gleichen Fragen. Mit äußerst mäßigem Erfolg, wie er sich eingestehen musste. Sein weißes Hemd wies mittlerweile tellergroße Schweißflecke unter jedem Arm auf, während sein schütteres Haar, das normalerweise sorgfältig zurückgekämmt war, in schlaffen Strähnen um seine faltige Stirn hing. Er wusste nicht mehr weiter.

Smith dagegen mochte zwar in zusammengesunkener Haltung auf der Bettkante kauern, die breiten Schultern wie ein Paar zu kurzer Flügel nach vorn geklappt, die arbeitsgewohnten Hände zwischen den Knien versteckt und den Kopf gesenkt, dennoch wirkte er ruhig und sicher im Vergleich zu seinem Gegenüber. Urquart, der Anwalt aus Minneapolis, spähte durch einen schmalen Spalt zwischen den zugezogenen Vorhängen und nahm Anlauf für einen letzten Versuch. Es musste ihm einfach gelingen, diesen dickköpfigen Farmer zum Reden zu bringen. Zu viel hing davon ab.

„Smith, Sie haben doch eine kleine Tochter, nicht wahr?“

Er drehte sich nicht um bei dieser Frage. Er fühlte, wie die Spannung in dem kleinen Raum beinahe unerträglich wurde. Hörte sie knisternd Wellen schlagen. Er wusste, dass Smith erschrocken den Kopf hob und er wusste, dass dessen Hände zwischen den Knien sich verkrampften, die gestutzten Flügel sich strafften. Hitze breitete sich vom Bett her im Zimmer aus und prallte gegen die nächste kühle Frage des Anwalts.

„Cathy, nicht wahr? So heißt die Kleine?“

Urquart fühlte die Augen, die sich durch sein Hemd in sein Herz bohrten. Er war ein Schwein. Nicht besser als die, die er des Mordes zu überführen hoffte. Doch er konnte nicht anders, wenn er die Mauer des Schweigens durchbrechen wollte.

„Wollen Sie Cathy in diesen Schmutz mit hineinziehen? Was werden Sie ihr sagen, wenn sie erfährt, mit welchen Leuten ihr Vater gemeinsame Sache macht?“

Urquart verstummte, nachdem er sein letztes Pulver verschossen hatte. Hinter ihm ertönte ein gurgelndes Geräusch, als Smith sich räusperte und mit rauer Stimme antwortete: „Ich mache keine gemeinsame Sache mit denen.“

Der Anwalt schwieg. Seine Hände zitterten. Er wartete.

„Das werde ich Cathy sagen, sollte sie je von … von dieser Sache hier erfahren. Und Ihnen sage ich dasselbe. Ich gehöre nicht zu diesem Verein. Und mit den Rothäuten habe ich nichts zu schaffen. Ich weiß nichts von einem Mord. Also hören Sie auf, mir etwas in die Schuhe schieben zu wollen, nur weil Sie nicht weiter wissen. Verschwinden Sie von hier und lassen Sie uns in Ruhe!“

„Smith, bitte …!“

Doch Smith hatte sich bereits erhoben. Mit zwei langen Schritten stand er an der Tür. Den Knauf in der Hand drehte er sich noch einmal um.

„Er hat’s drauf angelegt. Der Idiot konnte keine Ruhe geben. Seine eigene Schuld.“

„Ist das so? Fragen Sie sich nicht manchmal, warum?“

„Nein. Hab meine eigenen Sorgen. Sie auch.“

Leise zog Smith die Tür hinter sich zu.

South Dakota, Smiths Farm, Juli 1984

Es war Juli und sehr heiß. Die Sommer in South Dakota waren alle heiß, staubig und kurz. Doch das Wetter war gottgewollt. Genauso wie ihr schweres Los als Farmer, die von Leuten regiert wurden, die Erde nur aus Blumentöpfen kannten, wenn überhaupt. Leute, die von irgendeiner gottlosen Großstadt aus über gottverlassenes Land regierten, bestimmten auch, ob ein Betrieb rentabel war oder nicht. Die Farmer beklagten sich nicht mehr, denn der alte Spruch, dass es noch schlimmer kommen könnte, schien durchaus seine Gültigkeit zu haben. Viele stellten verwundert fest, dass sie plötzlich nachvollziehen konnten, wie sich die Indianer gefühlt haben mussten, als ihnen das Land unter den Füßen weggezogen worden war. Doch alter Hass hatte sich festgesetzt wie Rost und kein Mittel half dagegen.

Cathy stand im Hof hinter dem Haus, als die Luft sich plötzlich anfühlte, als stünde sie unter Strom. Das Mädchen strich sich fröstelnd über die nackten Arme. Ihr altes T-Shirt, das sie immer beim Reiten trug, bauschte sich um ihren mageren Oberkörper. Der Wind, der heute so seltsam war, presste die Schrift und die fremdartigen Symbole eng an Cathys Brust. Ein Staubwirbel zerzauste ihr dunkelbraunes, schulterlanges Haar und warf es ihr zurück ins Gesicht. Sie taumelte, stemmte sich mit beiden Füßen fest auf die Erde und hielt so dem nächsten Windstoß stand. Verwirrt versuchte Cathy ihr Haar zu bändigen. Das Hochgefühl, das sie empfunden hatte, als der Wind ihr plötzlich durch die Kleider fuhr, hatte nachgelassen. Die Kraft, die direkt aus der Erde und der Luft zu kommen schien und sie durchflutet hatte, wurde aufgesogen von einer noch größeren Macht.

Cathy riss entsetzt die Augen auf und starrte nach Norden, wo gerade noch die Sonne das ausgedehnte Maisfeld beschienen hatte und jetzt eine riesige, blauschwarze Säule den Himmel mit der Erde verband. Der Schrei wurde von ihren Lippen weggeschleudert, als Cathy sich dem Haus zuwandte. Sie erkannte das angstverzerrte Gesicht ihrer Mutter in der aufgerissenen Tür, die zur hinteren Veranda führte, und die eine heftige Böe gerade aus den Angeln hob. Ein paar Meter nur bis zum Haus. Ein kleines Stück, um in den sicheren Keller zu gelangen. Doch Cathy wusste instinktiv, dass es zu spät war. Sie würde ihre Mutter und die Sicherheit nicht mehr erreichen. Scharfkantiger Staub riss Cathy die trockenen Lippen blutig und scheuerte schmerzhaft an der Haut ihrer nackten Arme. Sie wurde auf den Boden geworfen und der Wind zwang sie flach auf die Erde, drückte ihr Gesicht in den Dreck, so wie er vorhin das T-Shirt an ihre Brust gepresst hatte. So viel Wind und keine Luft zum Atmen.

Wäre nicht dieses alles verschlingende Brausen und Heulen gewesen, hätte Cathy das angstvolle Wiehern ihres Pferdes und das panische Gackern und Muhen der übrigen Tiere im Stall gehört, das abrupt verstummte, als das Gebäude sich erst schief legte und dann krachend in sich zusammenfiel, bis der Sturm schließlich die Einzelteile des Stalls emporhob und davontrug. Knirschend neigte sich der Traktor zur Seite. Die Geräte aus dem Werkzeugschuppen flogen durch die Luft. Gefährliche Geschosse, die sich mit unglaublicher Wucht in alles bohrten, das sich ihnen noch in den Weg stellte. Die Schaukel drehte sich wie verrückt um sich selbst, bis sie, hoffnungslos verkeilt, zu Boden krachte und in hilflosen Hüpfern hinaus auf die offene Prärie getrieben wurde. Die Bäume suchten verzweifelt Halt, auch dann noch, als ihre Äste längst fortgerissen waren und nur noch die alten Stämme dem Unwetter trotzten. Endlich gaben auch sie nach und beugten sich krachend und stöhnend der entfesselten Gewalt des Sturmes. Fünf Minuten tobte der Tornado über das Land der Familie Smith und hinterließ eine breite Schneise der Verwüstung.

Irene Smith saß die ganze Zeit zusammengekauert im Keller des Farmhauses und betete. Betete und lauschte. Betete um das Leben ihrer Tochter, während ihr die Tränen aus den schreckgeweiteten Augen in die zitternden Mundwinkel flossen. Nach einer Weile schloss sie die Augen, betete aber weiter und hörte, wie das Haus über ihr fortflog. Da hielt sie sich die Ohren zu, verkroch sich tiefer in sich selbst und schrie laut, damit ihre Gebete das Tosen übertönten und Gott sie nicht überhören konnte.

Cathys Vater Mark kaufte Vorräte in der Hauptstadt Pierre und hielt gerade an einer Tankstelle auf dem Weg nach Hause, als er im Radio die Meldung über den schwersten Tornado der letzten Jahre hörte. Er rannte in den Laden und stieß den Mann zur Seite, der eben den Telefonhörer abhob. Mark Smith krallte sich an den Apparat und verfluchte nicht den Sturm, sondern sich selbst. Dafür, dass er hier war und seine Familie nicht. Seine Schuld. Alles seine Schuld. Gott strafte seine Familie für das, was er getan hatte. Er hätte wissen müssen, dass er nicht so einfach davonkommen würde. Er mochte vielleicht einen Anwalt täuschen. Seine Frau. Sogar sein eigenes Gewissen. Aber Gott ließ sich nicht täuschen. Und Gott vergaß nichts. Nie.

Mark Smith dachte an das Motelzimmer und den Anwalt. Er dachte an das Geld. Jede Nacht weckten ihn das heisere Bellen der Schüsse und der Geruch nach frischem, warmem Blut an seinen Händen. Er hätte reden sollen, als ihm noch jemand zuhörte. Aber der Anwalt war tot. Das Geld weg. Und seine Familie?

Als kein Klingelsignal ertönte, hängte Mark beinahe zärtlich den Hörer ein, fuhr sich mit den Händen über das Gesicht, zerwühlte sein Haar und sackte stöhnend gegen das Telefon. Er hatte es doch für sie getan. Für Irene. Für Cathy. Seine geliebte, kleine Cathy. Doch seine Tochter war ihm fremd geworden. Daran waren diese verfluchten Rothäute schuld, mit denen sich Cathy in letzter Zeit herumtrieb.

Mark stierte den Mann an, den er gerade so grob beiseitegeschoben hatte und der ihn nun vorsichtig am Arm fasste und auf den nächsten Stuhl drückte. Dabei warf er einen hilflosen Blick in die Gesichter der Umstehenden, die das Geschehen neugierig verfolgten. Mark schauderte und stieß die Hilfe und den Stuhl von sich. Der Ladenbesitzer führte Mark schließlich hinaus zu seinem Wagen.

„Die Rothäute sind an allem schuld!“

„Sicher, Mark.“

„Es war nicht meine Schuld!“

„Nein, Mann. Wie kommst du denn auf so einen Blödsinn?“

Aber Mark antwortete nicht mehr. Er trat das Gaspedal durch und fuhr mit kreischenden Reifen in einer Staubwolke davon. Es war seine Schuld. Wie in der Bibel. Gott ließ sich auf keine Spielchen ein. Cathys Freundschaft mit dem Red Eagle Mädchen, der wachsende Schuldenberg und jetzt dieser Sturm. Auge um Auge. Zahn um Zahn. Mark schluchzte und wagte es nicht, Gott um das Leben seiner Familie zu bitten.

Irene hob den Kopf, öffnete die Augen und nahm die Hände von den Ohren. Sie lauschte wieder, wischte sich das verschmierte Gesicht an ihrer Schürze ab und machte sich schwankend auf den Weg nach oben. Dorthin, wo vorhin noch die Küche gewesen war, wo das Essen auf dem Herd gestanden hatte. Irene hatte Angst davor, was sie dort erwarten würde. Sie hatte aufgehört zu weinen.

Cathy drehte ihren Kopf, rollte sich auf den Rücken und blinzelte in den blauen Himmel über ihr. Alles tat ihr weh. Aber ich lebe, dachte sie. Und etwas später: Warum?

Sie konnte sich kaum erinnern, was geschehen war, nachdem der Sog des Sturmes sie gepackt, vom Boden weggerissen und wie ein Spielzeug mit sich fortgetragen hatte. Wohin? Cathy versuchte mühsam sich aufzurichten. In ihrem Kopf drehte sich alles und ihr Mund war voller Staub und Erde. Sie wollte ausspucken und musste feststellen, dass da nichts war, womit sie spucken konnte. Ihre Schleimhäute waren trocken und hart. Sogar das Schlucken schmerzte so sehr, dass sie in Tränen ausgebrochen wäre, wäre da nicht diese Dürre in ihren Augen gewesen. Das brachte sie zum Lachen. Ein heiseres, sprödes Lachen, das sie erschreckte, so fremd klang es. Bei dem Gedanken, dass sie überlebt hatte, wurde sie von einem überwältigenden Gefühl der Freude durchflutet. Schwankend rappelte sich Cathy auf, ruderte haltsuchend mit den Armen in der Luft, reckte Gesicht und Hände der Sonne entgegen und stieß einen krächzenden Jubelschrei aus.

Der Schrei hallte über das Land, brach sich an sich selbst und kehrte zu Cathy zurück. Sie ließ die Arme sinken und starrte an sich herab. Staubbedeckt und erdverschmiert glich sie der Landschaft so sehr, dass sie glaubte, ein Teil davon zu sein. Der Sturm hatte sie zu einem kleinen Stück wilder Prärie getragen und in dem schmalen, ausgetrockneten Bachbett hinter der Farm fallen lassen.

Cathy wischte sich über die Brust und klopfte den Staub von der Vorderseite ihres T-Shirts. Sie wusste, was die fremden Worte und Zeichen bedeuteten, die ihrem Vater so verhasst waren. Makoce wakan. Die Erde ist heilig. Cathy flüsterte die Worte vor sich hin und fühlte sich sicher und geborgen. Aber davon würde sie ihren Eltern nichts erzählen. Sie würden es ohnehin nicht hören wollen.

Cathy sah sich um. Vor dem Tornado hätte sie das Haus von hier aus sehen müssen. Aber nichts war mehr wie zuvor. Sie zuckte mit den Schultern und setzte sich in Bewegung. Ihre Mutter würde sich Sorgen machen. Hoffentlich war den Red Eagles nichts passiert.

Zwei Tage später stand die Familie Smith neben ihrem Auto, das die wenigen Dinge enthielt, die ihnen geblieben waren. Von der Farm war nichts übrig, das auch nur im Entferntesten an eine Farm erinnert hätte. Die Smiths würden das Land verkaufen müssen. Sie hatten keine Wahl. Sie hatten nur eine Versicherung, die das Notwendigste deckte und ihr nacktes Überleben sicherte. Jammern nützte nichts. Vielleicht hätten sie sowieso bald verkaufen müssen. Die Wirtschaftslage meinte es nicht gut mit kleinen Farmern.

Cathy drückte ihr Gesicht an die Scheibe und presste die Hände gegen das Glas, während ihr Zuhause hinter ihnen zurückblieb. Ihre Eltern hatten sich schnell entschließen müssen. Für Gefühlsduselei war keine Zeit geblieben. Also fuhren sie nach Pierre, wo sie für einige Zeit im Motel wohnen würden, bis alles geklärt war. Viel zu klären gab es ohnehin nicht. Melvin hatte die Entscheidung für sie getroffen. Melvin, so hatten die Meteorologen den Tornado genannt. Damit das Kind einen Namen hatte, so hatte Mark verbittert vor sich hingemurmelt. Cathy und ihre Mutter lauschten dem neuen Klang seiner Stimme nach und fühlten, dass sich nicht nur die Welt um sie herum verändert hatte, sondern auch die Menschen. Melvin würde sie von nun an begleiten. Egal, wohin sie gingen.

In Pierre trafen sie andere Farmer, denen es nicht viel besser ergangen war als ihnen. Doch die wenigsten hatten buchstäblich alles verloren. Trotzdem fühlte sich die Familie unter Gleichgesinnten und so kam es, dass sie länger in Pierre blieben als ursprünglich geplant war. Mark traf sich nach den nervenaufreibenden Verhandlungen, die sie mit den Anwälten ausfochten, mit anderen Männern in irgendwelchen Kneipen. Dort passierte es auch immer häufiger, dass ernsthaft begonnene Diskussionen im Sande verliefen, weil der Alkohol meist das letzte Wort behielt. Man gratulierte Mark zu der wundersamen Rettung seiner Tochter, während ihm gleichzeitig eine Welle des Mitleids entgegenschlug.

Fragen schwirrten ständig um ihn herum. Er ging mit ihnen zu Bett und wachte morgens neben ihnen auf. Sofern er überhaupt Schlaf fand. Mark benötigte immer mehr Alkohol, um die Albträume abzuwehren. Er, der übermäßiges Trinken immer auf das Schärfste verurteilt hatte. Seine Welt stand Kopf und Mark hatte nicht die geringste Ahnung, wie sie wieder ins Lot kommen sollte.

Anfangs begegnete Irene ihrem Mann mit Verständnis. Sie verbrachte die Nachmittage mit Frauen, deren Männer ebenso die Zeit und das Geld mit sinnlosen Saufereien vergeudeten. Als sie aber feststellen musste, wie er sich völlig in sich selbst verschanzte und sie mit ihren Sorgen allein ließ, begann sie, ihm aus dem Weg zu gehen.

Genau wie Cathy, deren betrunkener Vater ihr Angst einjagte. Heimlich hatte sie ihre Freundin angerufen. Ihre beste Freundin.

Ihre einzige Freundin. Sarah Red Eagle. Der Mensch, dem sie vertraute und bei dem sie sich aussprechen konnte. Der Mensch, mit dem ihr der Umgang untersagt worden war.

Keines der gleichaltrigen Farmerkinder hatte je großes Interesse an Cathy gezeigt. Das beruhte durchaus auf Gegenseitigkeit. Cathy war eine Einzelgängerin. Doch vor zwei Jahren hatte sich das geändert. Sarah war gekommen.

Sarah Red Eagle war ein Siouxmädchen aus Crow Creek, deren Familie das Reservat verlassen hatte. Sarah war die einzige Indianerin in ihrer Klasse gewesen und die anderen Kinder waren nicht gerade Schlange gestanden, um sich mit ihr anzufreunden. Als die Lehrerin Sarah auf den freien Platz neben Cathy setzte, war aus dem anfänglichen beiderseitigen Misstrauen langsam eine feste, dauerhafte Freundschaft erwachsen. Die Sticheleien ihrer Mitschüler nahm Cathy gelassen, doch vor ihren Eltern hatte sie die neue Freundschaft geheim gehalten. Während ihre Eltern glaubten, sie hätte endlich Anschluss an die anderen Kinder gefunden, verbrachte Cathy gestohlene Zeit bei den Red Eagles. Sarah hingegen respektierte nicht nur Cathys Wunsch, sondern schien ihrerseits eine natürliche Abneigung gegen Cathys Vater zu hegen. Als wüsste sie von einem Geheimnis, schrecklich und dunkel, von dem Cathy keine Ahnung hatte.

Ein Bekannter hatte schließlich Mark bei einer Viehauktion gefragt, seit wann die Smiths denn Indianerfreunde wären, und ob sie mit dem Benehmen ihrer eigenwilligen Tochter und der Wahl ihrer neuen Freunde einverstanden wären. Auf Marks verwirrten Gesichtsausdruck hin hatte der Mann geschmunzelt und genüsslich sämtliche Einzelheiten der seit Langem kursierenden Gerüchte preisgegeben. Fuchsteufelswild war Mark gewesen und hatte das erste Mal in seinem Leben seine Tochter, die er über alles liebte, angebrüllt und beinahe geschlagen. Beinahe nur, doch dieses Beinahe stand seither zwischen ihnen.

Irene hatte dafür gesorgt, dass alles, was Cathy an Sarah erinnern könnte, über Nacht verschwunden war. Nur ein altes, verwaschenes T-Shirt blieb von der Aktion verschont. Irene hatte versucht mit ihrer Tochter zu sprechen, doch Cathy, die merkte, dass sie es nur um des lieben Friedens willen tat, verschloss sich. Den feinen Riss, der sich von da an zwischen Mutter und Tochter auftat, sollte Irene erst viel später bemerken.

Das alles schien unendlich lange her zu sein. Während Mark und Irene Smith auf ihre Weise mit den schier unlösbaren Problemen umzugehen versuchten, saß Cathy in dem billig möblierten Motelzimmer und starrte auf den kleinen Bildschirm des mickrigen Fernsehapparates. Stundenlang, ohne Unterbrechung. Sie wusste, dass sie in der Falle saß. Abgeschnitten von ihrer vertrauten Welt und unfähig zu handeln. Sie würde weder Sarah noch ihr Zuhause jemals wiedersehen.

Lange nach Mitternacht, ihre Eltern waren nicht gekommen, schaltete Cathy den Fernseher aus, zog ihre Turnschuhe an und verließ das Zimmer. Draußen sah sie sich um und setzte sich Richtung Süden in Bewegung. Zuerst ging sie langsam, dann immer schneller. Irgendwo dort draußen gab es ein Stück Prärie, das noch nicht unter den Pflug geraten war. Dorthin war sie unterwegs. Wenn sie schon gehen musste, dann wollte Cathy noch einmal das Gefühl erleben, das Melvin ihr geschenkt hatte. Noch einmal diese Freiheit spüren.

Sie kam nicht weit. Eine Polizeistreife gabelte sie gleich nach dem Ortsrand auf. Sie fragten, was ein hübsches, junges Mädchen wie sie nach Mitternacht hier draußen verloren hätte. Cathy blieb erschöpft stehen. „Meine Träume“, sagte sie müde und blickte in zwei verständnislose Gesichter, die sich vielsagend ansahen und die denen ihrer Eltern glichen.

Danach ging alles sehr schnell. Ihr Vater, der sie nur kopfschüttelnd angesehen hatte, als man ihm seine Tochter zurückbrachte, verlor keine Zeit und tat das Unvermeidliche. Er telefonierte mit seinem älteren Bruder in Minneapolis. Diesmal sprach er nicht von vielleicht, sondern davon, dass sie gleich am nächsten Tag aufbrechen würden. Sie hätten keine Zeit zu verlieren und sein Bruder sollte sich so schnell wie möglich nach einer Arbeit für ihn umsehen. Und einer Wohnung. Sie wollten niemandem zur Last fallen. Nicht zu teuer selbstverständlich. Melvin saß ihnen im Nacken. Cathy fühlte die Dürre in ihre Augen zurückkehren.

Minneapolis, Januar 1985

„Ich bin schwanger!“

„Du bist fünfzehn!“

Mit diesen drei Worten hatte Cathys Mutter ihrer Tochter allen Wind aus den eben noch aufsässig geblähten Segeln genommen. Dass Cathy in diesem Jahr schon sechzehn werden würde, tat nichts zur Sache. Tatsache war, dass sich die Mutter schlicht weigerte, ihre Tochter ernst zu nehmen. Nicht nach allem, was in den letzten Monaten seit ihrer Abreise von South Dakota und der Ankunft hier in Minneapolis geschehen war.

Es war nicht nur der Umzug. Es war mehr. Viel mehr. Zu viel.

Das Fundament der Familie bröckelte so wie das Fundament des Farmhauses, das sie seit vier Generationen ihr Eigen genannt hatten, und das mehr gewesen war als nur ein Haus. Jetzt war es weg. Alles. Heimat, Haus, Arbeit, Zukunft. Weggeblasen bis auf die Grundmauern. Marks Bruder war die einzige Lösung gewesen. Eine Lösung, die keine war, wie Irene sich eingestehen musste. Sie saßen fest. Alle miteinander. Mittellos, fremd und krank. Krank vor Sorge, sie selbst. Krank von all den Jobs, die er fand und wieder verlor, ihr Mann Mark. Krank vor Heimweh, Cathy, ihre Tochter.

Nichts war mehr so wie in den fünfzehn Jahren bisher. Gar nichts, dachte Cathy jeden Tag auf dem Weg zu ihrer neuen Schule, wo sie niemanden kannte und sich linkisch und dumm vorkam. Ängstlich. Nicht mehr sie selbst. Stundenlang stromerte sie durch den Stadtteil, wo sie im Haus ihres Onkels gestrandet waren. Schiffbrüchige. Dann entdeckte sie eines Tages etwas, das sie kannte. An der Bushaltestelle sah sie die Jugendlichen zum ersten Mal. Sie saßen auf der einzigen Grünfläche weit und breit. Hinter dem Reklameschild für teure Autos. Inmitten von leeren Flaschen und anderem Müll. Ohne sich darum zu scheren. Als Cathy sie lachen hörte, ertappte sie sich bei einem Grinsen, das sich verschämt auf ihrem Gesicht breitmachte. Cathy vergaß, zur Schule zu gehen. Sie hing mit ihren neuen Freunden im Indian Community Center ab und leerte selbst einige Flaschen unter dem Reklameschild.

Ihr Vater tobte. Ihre Mutter resignierte zum ersten Mal in ihrem Leben.

An ihrem sechzehnten Geburtstag, nach einem heftigen Streit mit ihrem Vater, in dessen Verlauf Mark in besinnungsloser Wut auf seine Tochter, die Indianerhure, einschlug, verließ Cathy ihre Familie und die Stadt Minneapolis. Sie wusste nicht viel über ihre Zukunft, aber sie würde es schaffen. Zuerst hatte sie daran gedacht, zurück nach South Dakota zu gehen. Ihre Freundin Sarah hätte sie sicherlich aufgenommen. Doch die Red Eagles hatten auch ohne eine minderjährige Ausreißerin, die im dritten Monat schwanger war, genug Probleme. Außerdem hätte sie sich dort praktisch nicht auf die Straße wagen können, da jeder sie kannte und ihre Eltern benachrichtigt hätte. Nein, sie würde in Chicago untertauchen. Vielleicht Sarah Bescheid geben, dass alles in Ordnung war. Ihren Highschool-Abschluss in Abendkursen machen. Weiter wollte sie nicht vorausdenken. Konnte sie nicht vorausplanen. Viel später, wenn sie mit sich selbst ins Reine gekommen wäre, würde sie zurückgehen. Zu ihren Eltern, zu Sarah, nach South Dakota. Vielleicht.

New York, General Hospital, Sommer 1987

Molly träumte.

Draußen, auf dem Flur der Intensivstation, sprach der Arzt mit ihrem Ehemann, den man nach dem schweren Autounfall seiner Frau im Büro verständigt hatte. Der Anrufer hatte Andrew Maclean nicht viel Hoffnung gemacht und auf dessen verzweifelte Fragen nur geantwortet, Mr Maclean solle so schnell wie möglich kommen.

„Es tut mir sehr leid“, sagte der Arzt gerade. „Ich fürchte, Ihre Frau wird nicht mehr aus dem Koma erwachen.“ Er legte mitfühlend eine Hand auf Andrews Schulter und fuhr vorsichtig fort.

„Die inneren Verletzungen sind zu schwer. Gibt es noch weitere Angehörige?“

Andrew schüttelte benommen den Kopf und sah den Arzt mit leeren Augen an.

„Nein. Doch, natürlich. Unseren Sohn. Lewis. Ich habe versucht ihn zu erreichen, dabei weiß ich gar nicht, wo er ist.“ Andrew legte beide Hände an die Glasscheibe, die ihn von seiner Frau trennte. „Vermutlich ist er jetzt bei seinen Leuten.“ Er klang erleichtert.

Der Arzt, der einer der wenigen Ärzte dieser Welt zu sein schien, die über Zeit verfügten, wartete geduldig. Mehr als der Tod, dem er so häufig begegnete, erschütterte ihn stets die Trauer der Hinterbliebenen. Viel zu selten fand er Gelegenheit, denen Trost zu spenden, die ihm so sehr am Herzen lagen. Er wandte sich dem Mann zu, dessen Leben mit dem Tod seiner Frau gerade jeden Sinn verlor. Keine Angehörigen. Nur ein unauffindbarer Sohn. Sanft drückte der Arzt Andrew auf einen Stuhl.

Molly träumte.

Sie war glücklich, als sie erkannte, wohin sie fuhr. Die Reifenspuren, die zu dem blauen Haus führten, waren kaum noch zu erkennen, doch sie hatte sie ohne Schwierigkeiten wiedergefunden. Sie saß im alten Pick-up ihres Vaters, der sicherlich nicht damit einverstanden war, dass sie John Left Hand besuchte, diesen Nichtsnutz und Herumtreiber. Seltsamerweise beschwingte Molly diese Vorstellung. Heiter und unbeschwert zockelte sie auf der staubigen Piste ihrem Ziel entgegen. Sie war lange unterwegs gewesen. Wo, das wusste sie nicht mehr so genau. Es war auch nicht wichtig. Vorhin, auf der Landstraße, hatte sie im Vorbeifahren ein bekanntes Gesicht gesehen. Das war ihr Sohn gewesen. Lewis. Er hatte sie erschrocken angeschaut, so dass sie ihm beruhigend zugewinkt hatte. Der Junge war viel zu ernst für sein Alter. Immerhin, er war hier. Schlauer Kopf. Wie sein Vater. Vor sich, in der schimmernden Ferne, konnte Molly schon die Pappeln erkennen, die das blaue Haus umgaben. Sie sah das Blau durch die Bäume blitzen. Blauer als der Himmel. Endlich! Molly trat das Gaspedal durch.

John fiel aus allen Wolken, als Molly aus dem Wagen stieg. Er blinzelte. Sie lachte ihm kokett ins Gesicht. Die Überraschung war ihr gelungen.

Johns Eltern waren auch da. Sie freuten sich, auch wenn Johns Mutter den leichten Dunst von Alkohol, der Molly umschwebte, missbilligte. Johns Vater kam ihr zu Hilfe und meinte, dass so was schon mal vorkommen könnte im Eifer des Gefechts. Seine Frau warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu, legte aber den Arm um Mollys Schultern und ging mit ihr ins Haus. Kaffeeduft empfing sie dort.

„Hier, trinken Sie das.“ Dr. Greenfield reichte Andrew einen Becher voll Kaffee. Andrew blinzelte und sah sich verwirrt um. Kannte er den Mann mit dem Kaffee? Träumte er?

„Was ist los?“ Eine Frage schien so sinnlos wie die andere.

„Sie stehen unter Schock. Kaffee hilft manchmal.“

„Dann war es kein Traum?“ Die Hoffnung in Andrews Augen erlosch und er sank kraftlos in sich zusammen.

„Nein, tut mir leid, kein Traum.“ Der Arzt klang traurig.

„Was ist eigentlich passiert? Was für ein Unfall war das?“ Andrew riss sich zusammen.

„Hm.“ Greenfield lehnte sich in seinem Stuhl zurück. „Hatte Ihre Frau irgendwelche Probleme? War sie depressiv?“

„Was wollen Sie damit sagen? Nein, Molly hatte keine Probleme!“

„Hatten Sie welche? Mit Ihrer Frau?“ Der Arzt nahm seine Brille ab und betrachtete sie nachdenklich, bevor er fortfuhr: „Sehen Sie, Mr Maclean, Ihre Frau war betrunken, als sie frontal gegen einen Baum fuhr.“ Pause. „Gegen den einzigen Baum weit und breit. Und zwar um acht Uhr morgens.“

„Was für ein Baum war es?“

„Wie bitte?“ Andrews Frage brachte Greenfield aus der Fassung. „Bestimmt war es eine Pappel. Und sie hat nicht die Kontrolle verloren. Nicht Molly.“ Andrews Gesicht leuchtete, während ihm die Tränen über das Gesicht liefen. Er schluchzte.

„Molly ist nach Hause gefahren.“

Molly schnalzte missbilligend mit der Zunge. Nicht nur außen am Haus blätterte die Farbe ab, sondern auch innen rollte sich die Tapete von den Wänden.

„John, wie konntest du das Haus so verkommen lassen?“

John, der alle Hände voll zu tun hatte, um für das Wohl der zahlreich erschienenen Gäste zu sorgen, warf Molly einen überraschten Blick zu und sah sich erstaunt um. Sie übertrieb wieder einmal maßlos. So schlimm war es doch gar nicht, gemessen an den allgemein herrschenden Lebensumständen im Reservat. Er beobachtete, wie sie angewidert mit dem Finger durch die dicke Staubschicht fuhr und eine tiefe Spur darin hinterließ. Nun ja, vermutlich war sie inzwischen Besseres gewohnt. Aber er selbst war schon ewig nicht mehr hier gewesen. Zwanzig Jahre. John schüttelte den Kopf. Abgesehen davon hatten sie ohnehin Wichtigeres zu tun.

Molly hatte ihm erzählt, dass ihr gemeinsamer Sohn hier war. Sie hatte ihn gesehen. Das war in Ordnung. Aber er hatte seine Mutter offenbar auch gesehen und das war gar nicht in Ordnung. Jemand musste dem Jungen sagen, dass er bei Seinesgleichen bleiben sollte. Das Leben lag schließlich noch vor ihm. Dieser Dummkopf.

Johns Mutter beruhigte ihn und meinte, dass ihr Enkel einfach nur Zeit brauchte. Er wäre zu lange weggewesen. Aber sie würden sich auf dem Powwow darum kümmern, dass alles wieder seine Richtigkeit haben würde.

„Und dann?“ Johns Frage hallte durch die leeren Räume, so dass die Umstehenden die Köpfe hoben und sich nach ihm umsahen. „Dann“, meinte seine Mutter schmunzelnd, „dann wird es Zeit, dass wir uns auf den Weg machen.“

Andrew Maclean versuchte sein Glück und wählte die Nummer der Auskunft. Auf die Frage, wie sie ihm helfen könnte, erklärte er der angenehmen Stimme am Telefon, dass er eine Nummer von South Dakota benötigte. Von einem Indianerreservat in South Dakota.

„Welches Reservat, Sir?“

„Äh, ich bin mir nicht sicher. Rosebud, glaube ich. Gibt’s das?“ Andrew war nervös.

„Sicher, Sir. Rosebud Reservation. Den Namen, bitte.“

„Mit dem Namen bin ich mir auch nicht sicher. Gibt es dort vielleicht ein Rathaus oder so?“

„Einen Augenblick bitte, Sir.“

Andrew wartete.

„Sir? Da wäre das Rosebud Tribal Office. Soll ich Sie verbinden oder möchten Sie die Nummer?“

Andrew zögerte. „Verbinden Sie mich, bitte.“ Sein Herz raste.

Kurz darauf meldete sich erneut eine weibliche Stimme: „Rosebud Tribal Office. Alma Yellow Hat am Apparat.“

„Ja, mein Name ist Andrew Maclean. Aus New York. Ich suche

jemanden. Meinen Sohn. Oder besser, den Sohn meiner Frau. Ich …“

Die Stimme am anderen Ende der Leitung schwieg und wartete. Andrew, der sich wie ein Idiot vorkam, riss sich zusammen und umfasste den Hörer fester. „Hören Sie, es ist wirklich wichtig. Meine Frau heißt … hieß Molly Walks Around The Water. Wir haben vor neunzehn Jahren geheiratet. Unser Sohn … ihr Sohn müsste sich derzeit im Reservat aufhalten. Er wollte dort nach seinem leiblichen Vater suchen. Jemand muss ihm sagen, dass seine Mutter gestorben ist.“

Andrew schwieg erschöpft. Dies hier war seine letzte Hoffnung, die einzige Verbindung, die ihm zu Lewis geblieben war, seit er vor gut einem Monat plötzlich verschwunden war. Molly hatte sich geheimnisvoll gegeben und geschwiegen. Vor zwei Tagen war sie gestorben. Ein Unfall. Andrew glaubte es besser zu wissen. Er musste Lewis finden.

„Mr Maclean?“ Die Stimme der Frau am anderen Ende seiner Welt rief ihn zurück in die Wirklichkeit. Zurück ins Hier und Jetzt. Andrew sog scharf die Luft ein.

„Ja? Kennen Sie den Namen? Wissen Sie etwas über die Familie? Was …?“

„Mr Maclean, wie heißt Ihr Sohn?“ Die Stimme blieb ruhig. „Lewis Alistair Left Hand Maclean.“

„Einen Moment, bitte.“

Andrew hörte, wie jemand eine Hand über die Sprechmuschel hielt und im Hintergrund mehrere Stimmen murmelten. Der Hörer wurde abgelegt und Andrew vermochte einzelne Stimmen zu unterscheiden, die sich jetzt aufgeregt miteinander unterhielten. Dann wurde der Hörer wieder aufgenommen und die dunkle Stimme eines Mannes war am Apparat.

„Hallo? Mr Maclean? Sagten Sie, der Name wäre Left Hand?“

„Ja, Left Hand. Zuerst dachte ich, Molly hätte den Namen als Vornamen gedacht, aber inzwischen vermute ich, dass es der Name von Lewis leiblichem Vater sein könnte. Liege ich damit richtig?“ Andrew wagte kaum zu atmen und bereute nicht zum ersten Mal in den letzten Tagen, dass er Mollys Verschwiegenheit in Bezug auf ihre Vergangenheit immer respektiert hatte.

„John Left Hand Junior?“, unterbrach die Stimme seinen Gedankengang. Nicht gerade erfreut, so schien es Andrew. Besorgt hakte er nach. „Und? Was ist mit dem Mann? Ist er Lewis’ Vater?“

„Nun“, meinte die Stimme bedächtig, „ zuerst einmal ist er tot. Und zwar seit fast zwanzig Jahren.“ Pause, dann: „Er starb, kurz nachdem Molly verschwunden war.“

„Oh Gott!“ Andrews schlimmste Befürchtungen bestätigten sich. „Wie ist er denn gestorben?“

„Wollen Sie die offizielle Version hören oder die Wahrheit?“ „Beides.“

Und so erfuhr Andrew Maclean von Bernard Little Horse was damals geschehen war. Am Ende der Geschichte war Andrew davon überzeugt, dass die offizielle Version eine haarsträubende Verharmlosung der herrschenden Zustände war. Im Übrigen ging er auch davon aus, dass Mr Little Horse ihm von der Wahrheit nicht einmal die Hälfte erzählt hatte. Andrew war lange genug mit Molly verheiratet gewesen, um hinter das Schweigen blicken zu können.

Als er Little Horse seine diesbezüglichen Überlegungen kundtat, meinte er ein verhaltenes Lachen am anderen Ende der Leitung zu hören.

„Mir wird klar, warum Molly ausgerechnet Sie ausgesucht hat.“ Andrew stutzte. Wollte er mehr über Molly und ihre Beweggründe ihn zu heiraten erfahren? Wollte er mehr über John Left Hand wissen? Würde er überhaupt Antworten auf seine Fragen erhalten? Wieder unterbrach die Stimme von Little Horse seine Gedanken.

„Hören Sie, Maclean, warum kommen Sie nicht einfach her? Am Wochenende findet unser alljährliches Powwow statt. Und wenn der Junge hier ist, kann es nicht schaden, wenn Sie gleich selbst mit ihm reden. Also?“

Das Angebot kam überraschend. Ebenso der Gedanke, die Sache selbst in die Hand zu nehmen und vielleicht Mollys Familie zu treffen. Gemeinsam mit Lewis etwas über dessen Herkunft in Erfahrung zu bringen. Was immer Powwow auch bedeuten mochte, es klang aufregend. Andrew sehnte sich nach Ablenkung. „Machen Sie sich keine Sorgen, man wird Sie mit offenen Armen empfangen. Und wenn nicht, dann bin ich auch noch da!“ Little Horse lachte verhalten. Vielleicht konnte der Mann ja seine Gedanken lesen, schoss es Andrew durch den Kopf und er musste grinsen. Er holte tief Luft und antwortete dem Unbekannten, der tausend oder mehr Meilen entfernt war und dessen Einladung so unverhofft in seine Trauer einbrach, mit angehaltenem Atem: „Ja. Ja, ich würde gern kommen.“ Er stieß die Luft geräuschvoll aus und wartete.

„Okay. Das Powwow beginnt morgen. Wir sehen uns dann!“

Das Freizeichen ertönte.

Prickelnde Aufregung und akuter Schlafmangel machten Andrew zu schaffen, als er am Freitag gegen ein Uhr mittags den kleinen Flugplatz von Pierre hinter sich ließ. Er saß in einem Mietwagen und fuhr, die ausgebreitete Straßenkarte von South Dakota neben sich auf dem Beifahrersitz, Richtung Süden. Nachdem Bernard Little Horse das gestrige Telefongespräch so abrupt beendet hatte, war Andrew nicht lange untätig geblieben, sondern hatte sich sofort nach einem Flug erkundigt. Mit viel Glück war es ihm gelungen, einen Sitzplatz in der kleinen Linienmaschine von Chicago nach Pierre zu ergattern. Der Nachtflug von New York nach Chicago war kein Problem gewesen. Nun war er hier.

Zuerst kam es ihm so vor, als wäre er auf dem Mond gelandet. Die Eintönigkeit der Felder, die sich links und rechts von der Straße scheinbar endlos bis zum Horizont erstreckten, war schlicht und ergreifend überwältigend. Er fragte sich, wie das Reservat wohl aussehen mochte, als die Landschaft plötzlich ihr Gesicht veränderte. Die Felder wurden abgelöst von Gras. Gras, soweit das Auge reichte. Es spannte sich als ockergelber Teppich über die weite Ebene und rollte in grüner Pracht über die Hügel. Dann wieder stand es spröde und ausgedörrt auf trockener Erde, gesprenkelt mit Tausenden kleiner wilder Sonnenblumen. Andrew Maclean war fasziniert.

Am Spätnachmittag erreichte er Rosebud.

In die großartige Szenerie der Landschaft hatte sich erst wieder Eintönigkeit und später dann Trostlosigkeit eingeschlichen. Das Reservat glich einer Ansammlung von armseligen Hütten, schlechten Straßen, ein paar müden Rindern und herzlich wenigen Menschen. Kein Wunder, dass Molly auf und davon gelaufen war.

Andrew hielt vor dem Tribal Office. Im Inneren des rötlichen Backsteingebäudes fragte er eine Frau, die gerade ihre Bürotür abschloss, nach Bernard Little Horse. Die Frau musterte ihn misstrauisch und Andrew wurde bewusst, dass er der einzige Weiße weit und breit war. Er lächelte nervös. Die Frau mochte Anfang Vierzig sein, hatte ein ausdrucksstarkes Gesicht und trug ein etwas enges, rotes T-Shirt mit dem Aufdruck 111th Annual Rosebud Sioux Tribal Fair. Andrew nannte seinen Namen und den Grund seines Hierseins. In den schwarzen Augen hinter den dicken Brillengläsern blitzte es kurz auf, dann kräuselte ein winziges Lächeln die Mundwinkel der Frau und schließlich streckte sie ihm ihre Hand entgegen, die er etwas zaghaft ergriff.

„Dann sind Sie also gekommen. Bernie wollte nicht so recht dran glauben. Kommen Sie, ich bringe Sie zu ihm.“ Sie lächelte ihn jetzt offen an und ergriff seinen Arm. „Sie haben Glück, Mr Maclean, ich wollte gerade gehen. Alle anderen sind schon auf dem Powwow. Bernie Little Horse auch. Mein Name ist übrigens Alma Yellow Hat. Wir haben telefoniert.“

Überwältigt von dem plötzlichen Redeschwall nickte Andrew automatisch mit dem Kopf und murmelte ein vages „Sehr erfreut“, als ihm die Hand auch schon wieder mit einem Ruck entzogen wurde und seine Gesprächspartnerin ihm den Rücken zukehrte.

„Fahren Sie mir einfach hinterher!“

Sie stieg in ihren alten Ford, schlug die Tür zu und wendete in einer gelben Staubwolke. Andrew sah sprachlos dem Geschehen zu, dann beeilte er sich, dem Befehl Folge zu leisten und preschte hinter Alma Yellow Hat her. Zumindest hoffte er, dass sich in der Staubwolke vor ihm noch immer Miss Yellow Hat befand, denn mittlerweile waren die Straßen des kleinen Ortes, die vorhin noch so menschenleer gewirkt hatten, mit einer Hundertschaft von Autos, Wohnmobilen und sogar Pferden bevölkert. Der Aufenthalt im Wilden Westen versprach aufregend zu werden.

Kurze Zeit später bogen sie auf einen Platz am Ortsrand ein, auf dem quirlige Betriebsamkeit herrschte. Auf dem Schild, unter dem sie hindurchfuhren, prangte derselbe Text wie auf dem zu engen T-Shirt von Miss Yellow Hat. Rosebud Sioux Tribal Fair. Der Staub legte sich. Andrew war am anderen Ende der Welt angekommen.

Rosebud Reservation, Powwow, August 1987

Es war eine berauschende Pracht von wirbelnden Federn, flatternden Fransen, glitzernden Perlen und schwingenden Gewändern in allen Farben des Regenbogens. die Kleiderordnung spannte dabei einen lockeren Bogen von den perlenbestickten, schweren Festtagsroben des ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts bis hin zur zwanglosen Jeansgeneration des ausgehenden zwanzigsten Jahrhunderts. Nur eines schien unverändert: Die Gesichter seiner Leute.

Dabei hatte Lewis eigentlich keine Ahnung. Was wusste er schon von seinen Leuten? Nichts, außer dem, was seine Mutter ihm erzählt hatte, und das war herzlich wenig gewesen. Ach ja, und natürlich die diversen Zeitungsartikel, die sie wie einen Schatz gehütet hatte und die er, Lewis, vor einigen Wochen zufällig entdeckt hatte.

Da war er losgefahren. Er war so wütend gewesen! Auf seine Mutter, die ihm alles und doch nichts erzählt hatte. Auf seinen Vater, der sicher über alles Bescheid wusste und der ihn trotzdem geliebt hatte wie seinen eigenen Sohn. Und was war ihm geblieben? Eine Mutter, die sich selbst belog. Ein Vater, den er sein ganzes Leben lang gekannt hatte, der aber nicht sein Vater war. Ein Unbekannter, dessen Namen er trug und der noch vor seiner Geburt gestorben war. Und, zu guter Letzt, ein fremdes Volk, das sein eigenes war.

Wenn Lewis etwas herausgefunden hatte in diesen vier Wochen, die er nun durch South Dakota fuhr, dann war das die ernüchternde Tatsache, dass er nicht hierher passte. Er war ein Beina- he-New-Yorker, der hier im Indianerland nach seinen Wurzeln suchte. Was für ein Witz! Alice im Wunderland. Nur schade, dass er nicht ihre blonden Locken und die himmelblauen Augen hatte! Lewis saß auf der Kühlerhaube seines alten Pontiac und suchte unter all den fremden Gesichtern das seiner Mutter. Er war sich sicher, dass er sie vorgestern gesehen hatte. Sie musste ihm nachgefahren sein. Seltsam war das gewesen. Nachträglich lief ihm ein Schauer über den Rücken, wenn er an diese Begegnung dachte. Lewis war auf der Suche nach dem blauen Haus von John Left Hand gewesen und musste wohl die Abzweigung verpasst haben, denn er hatte das Haus nirgends entdecken können. Da war plötzlich seine Mutter in einem Uraltwagen an ihm vorbeigefahren und hatte ihm zugewinkt. Weder sie noch das blaue Haus vermochte Lewis wiederzufinden.

Es war ein seltsames Land und seine Bewohner waren Lewis beinahe schon unheimlich, so dass er es bisher nicht gewagt hatte, irgendjemanden um Hilfe zu bitten. Nun noch diese komische Sache mit seiner Mutter. Lewis seufzte und trank den Rest Cola aus der Büchse, die er sich bereits vor einer Stunde an einer der Imbissbuden, die den Powwow Platz umringten, gekauft hatte. Die braune klebrige Flüssigkeit schmeckte schal, warm und abgestanden. Genau wie mein Leben, dachte Lewis grimmig und zerdrückte die leichte Aluminiumdose mit seiner linken Hand. Das brachte ihn zum Lachen.

Lewis rutschte von der Kühlerhaube, schmiss die Dose durch das geöffnete Fenster auf den Beifahrersitz und schlenderte langsam zum Tanzplatz. Dort stellte er sich neben eine der Trommlergruppen und bezog seinen schweigsamen Beobachtungsposten. So, wie er es auch bei den anderen Powwows getan hatte. Keiner störte ihn. Keiner sprach ihn an, obwohl die Leute durchaus nicht unfreundlich waren. Aber das war okay, auch wenn sich Lewis manchmal nach einem Zeichen sehnte, das ihm zu verstehen gegeben hätte, dass er dazugehörte. Auf den Gedanken, dass die Menschen lediglich seine abweisende Haltung respektierten, kam Lewis nicht. Er sah den Tänzern zu. Später würde er sich etwas zu Essen kaufen. Und dann? Er wusste es nicht.

Da war sie wieder! Dieses Mädchen, das ihm schon zweimal aufgefallen war. Zuerst beim Powwow im Lower Brulé Reservat. Dann, eine Woche später, in Crow Creek. Sie sah nicht wirklich aus wie eine Indianerin. Ihr Haar war eine Spur zu hell, die Haut lediglich von der Sonne gebräunt. Nur die Augen wirkten ebenso dunkel wie die der anderen. Natürlich konnte sie eines der vielen Mischlingsmädchen sein, aber das glaubte Lewis nicht. Er war ein guter Beobachter, der viel Zeit damit verbracht hatte, sich die Bewegungen und typischen Gesten der Reservatsbewohner und Powwow-Besucher einzuprägen und ihre Gewohnheiten zu studieren. Das Mädchen gehörte genauso wenig hierher wie er, dessen war sich Lewis sicher. Aber im Gegensatz zu ihm schien sie sich einigermaßen wohlzufühlen. Immerhin ließ sie kaum einen Tanz aus und gehörte offenbar zu einer kleinen Familiengruppe, die Lewis nun auch schon das dritte Mal beobachtete. Zwei kleine Mädchen waren ganz vernarrt in die Fremde, die Lewis in ihren Bann gezogen hatte. Er hätte gern mit ihr gesprochen, verwarf den Gedanken jedoch wieder und schalt sich einen Idioten.

Er ließ seinen Blick abermals wie ein Band durch die Menge gleiten, hielt da und dort auf einem Gesicht inne und versuchte, sein inneres Gleichgewicht wiederzufinden. Plötzlich riss es ihn förmlich herum: Dort drüben saß sein Vater! Das konnte doch nicht wahr sein. Lewis rieb sich die Augen und schüttelte den Kopf, aber das Bild, das er sah, wollte nicht verschwinden. Praktisch genau ihm gegenüber saß Andrew Maclean inmitten wichtig wirkender Männer und Frauen und wirkte dabei nicht im Mindesten fehl am Platze.

Wie im Traum trat Lewis zurück in den Schatten, den das Dach aus Zweigen rund um die Arena großzügig spendete, und fasste nach einem der Stützpfähle. Die Welt und seine Gedanken gerieten ins Taumeln. Er presste seine Stirn gegen das trockene, splitternde Holz auf der Suche nach Schmerz. Schmerz, der ihn erlösen und in die Wirklichkeit zurückbringen würde. Lewis krallte seine Finger um den Pfosten, als die trostlose Verlorenheit seines Lebens wieder nach ihm griff. Auf schwarzen Rabenflügeln glitt sie auf ihn zu, kreischend und kalt. Der Schweiß trat auf seine Stirn und er zitterte. Dort drüben war wieder seine Mutter. Sie stand neben einem Mann, den Lewis nicht kannte und doch zu kennen glaubte. Beide beobachteten ihn aufmerksam und besorgt. Lewis keuchte, als zwei spielende Kinder mitten durch seine Mutter und ihren Begleiter hindurchrannten. Das durfte doch nicht wahr sein! Halluzinationen. Die Hitze. Lewis würgte an seinem Speichel, der trocken und hart war wie Staub. Dann fühlte er eine Hand auf seiner Schulter und die Welt hörte auf, sich zu drehen. Von den Rabenvögeln in seinem Kopf blieb nichts als ein wirbelndes Häufchen schwarzer Federn. Molly und ihr Begleiter waren verschwunden.

Lewis drehte langsam den Kopf und erwartete das Gesicht eines Toten zu sehen. Stattdessen stand das Mädchen, das seit geraumer Zeit seine Aufmerksamkeit erregte, neben ihm. Schüchtern und besorgt musterte sie ihn.

„Alles in Ordnung?“ Ihre Stimme klang sonderbar.

„Ja.“ Lewis gelang ein verzerrtes Lächeln. Er ließ den Pfahl los, den er noch immer umklammert hatte und holte tief Luft. Verrückt war das. Das Mädchen nickte nur und wusste offenbar nichts weiter zu sagen. Sicher dachte sie, er wäre betrunken. Verdammt!

„Ich weiß nicht, was mit mir los war.“ Er schüttelte den Kopf und verscheuchte den letzten Rest Benommenheit. Seine Augen glitten an ihrem Körper entlang und er merkte, dass ihm das Blut in den Kopf schoss.

„Schon gut.“ Die Worte waren leise und hastig aus ihrem Mund geschlüpft und Lewis sah, dass sie rot geworden war. Er lächelte. Sie senkte rasch den Kopf, murmelte etwas und wollte an ihm vorbeigehen. Lewis griff nach ihrem Arm. Die ganze Zeit schon hatte er mit ihr sprechen wollen. Jetzt war die Gelegenheit da und sein Hirn machte Pause. Fieberhaft überlegte er, was er ihr sagen konnte. Noch immer hielt er ihren Arm. Sein Herz raste. „Schönes Kleid.“ Bescheuert, aber immerhin.

Sie drehte sich um und er glaubte, ein amüsiertes Glitzern in ihren Augen zu sehen, als sie ihn jetzt prüfend ansah.

„Gefärbtes Betttuch.“

Wollte sie sich über ihn lustig machen? Sie lachte, löste ihren Arm aus seinem Griff und ging weiter. Lewis starrte ihr nach, bis sie in der Menge verschwunden war. Komisch. Er fühlte sich besser. Froh irgendwie. Sein Herz beruhigte sich wieder.

Dann war sein Vater da! Auch darüber war Lewis froh. Sein Vater. Ob sie nun blutsverwandt waren oder nicht, sie waren beide hier. Nichts sonst zählte im Augenblick.

Andrew und Lewis hatten lange miteinander geredet. Andrew erzählte seinem Sohn Geschichten aus der Vergangenheit. Redete von Leben und Tod, von Liebe und Einsamkeit und wich der Wahrheit nicht mehr aus. Molly war tot. Sie war tot, weil sie es so gewollt hatte. Lewis nickte nur. Die Nachricht vom Tod seiner Mutter brachte die Dinge wieder ins Lot und zum milden Erstaunen seines Vaters schien Lewis eher heiter und gelöst auf die traurige Nachricht zu reagieren. Das machte es leichter für ihn zu sagen, was er zu sagen hatte:

„Lewis, das hier ist Bernard Little Horse. Er ist Stammesratsvorsitzender. Es gibt da etwas, das du wissen solltest.“ Andrew räusperte sich und schwieg.

Bernard Little Horse, ein imposant wirkender Mann um die Vierzig, schüttelte Lewis ohne erkennbaren Druck die Hand und meinte, er sollte sich keine Sorgen wegen der Leute machen. Sie würden ihn schon irgendwann mögen, sobald sie ihn erst besser kannten. Wenn nicht, würde er persönlich dafür Sorge tragen. Alle lachten. Dann wurde Bernard wieder ernst.

„Was die Familie deines Vaters anbelangt, da gibt es niemanden mehr, außer vielleicht einer Tante, aber niemand von uns weiß, was aus ihr geworden ist.“ Er sah in die Runde. „Aber das Haus gehört nun dir. Du bist Johns Sohn. Sonst ist niemand da. Es handelt sich um Stammesland und der Stamm hat es nur verwaltet, nicht weiterverpachtet. Sobald deine Herkunft und Stammeszugehörigkeit geklärt sind, kein Problem. Wenn du willst, dann bleib!“

Sie sahen ihn erwartungsvoll an und Lewis wusste nicht, was er sagen sollte. Zu schnell bewegten sich die Dinge plötzlich. Zu überraschend kamen die Angebote: Haus, Land, Volk. Hilfesuchend sah er sich nach seinem Vater um.

„Ich kann dir nicht sagen, was du tun sollst, aber ich kann dir einen Rat geben.“ Andrew holte tief Luft. „Bleib. Zumindest für eine Weile. Lass dir Zeit. Lerne deine Leute kennen.“ Er dachte an Molly und fuhr fort: „Lewis, deine Mutter und ich waren Suchende. Wir belogen uns selbst und einander, indem wir so taten, als wären wir glücklich.“ Andrew lächelte entschuldigend. „Wir haben uns geliebt, Lewis, aber das hat nicht genügt.“ Andrew hielt inne und berührte liebevoll Lewis Arm. Der Junge sah ihm starr in die Augen und Andrew hatte das Gefühl, dass er bereits ahnte, was nun kommen würde. Das machte den Abschied leichter. Andrew fasste sich ein Herz: „Lewis, ich gehe zurück nach Schottland. Ich habe schon vor Monaten damit begonnen, mich dort nach einer Arbeit umzusehen. Vielleicht hat Molly etwas gemerkt und …“

Lewis schüttelte lächelnd den Kopf. Er sah mit einem Mal ein blaues Haus in der Ferne und sich selbst, wie er darauf zufuhr und eine gelbe Staubwolke hinter sich herzog. Es gab keine Schuld und keine Schuldigen. Was geschehen war, war geschehen. Wichtig war das Hier und Heute, geboren aus der Vergangenheit. Andrew erwiderte das Lächeln erleichtert: „Wann immer du mich brauchst, werde ich da sein. Europa ist nicht aus der Welt, weißt du!“

Das Mädchen hatte Lewis nicht aus den Augen gelassen. Es war das dritte Mal, dass sie ihn gesehen hatte. Zuerst in Lower Brulé, dann Crow Creek und jetzt hier. Sie hatte sich den Hals verrenkt, um ihn beobachten zu können.

Auch dieses Mal hatte er nicht getanzt, sondern hatte mit stoischem Gesichtsausdruck und abweisender Haltung an einem der Pfähle gelehnt, um seinerseits die Menge zu betrachten und doch durch sie hindurchzusehen. Er war nicht von hier, das war ihr gleich aufgefallen. Sie hatte ihre Freundin nach ihm fragen wollen, unterließ es aber und sehnte sich doch danach, mit ihm zu sprechen. Als sich die Tänzer zwischen sie geschoben hatten, hatte sie ihn kurz aus den Augen verloren. Dann hatte sie ihn wieder entdeckt. Völlig verändert. Erschrocken hatte sie beobachtet, wie er entgeistert zuerst über die Arena und dann, als er sich in den Schatten der Zweige zurückzog, über den Platz mit den Imbissbuden gestarrt hatte. Sie war seinem Blick gefolgt.

Da waren eine Frau und ein Mann gestanden. Sie hatten sich dicht beieinander gehalten und hatten irgendwie schwerelos gewirkt. Wie Gedanken, schwer zu fassen. Beide hatten den jungen Mann besorgt gemustert. Ebenso wie das Mädchen, das daraufhin den Kreis der Tanzenden verlassen und sich dem Mann genähert hatte. Sie war außerstande gewesen, etwas dagegen zu tun. Es war inzwischen mehr als nur Neugier gewesen, die sie dazu trieb. Es war vielmehr eine Bitte gewesen, die in ihrem Inneren widerhallte. Das seltsame Paar hatte sie aufmunternd angelä- chelt und damit ihre Angst vertrieben.

Als das Mädchen den Mann erreicht hatte, umklammerte er krampfhaft den Pfahl. Sie hatte gesehen, wie er dabei zitterte. Also hatte sie die Hand ausgestreckt und ihn an der Schulter berührt, um ihm die Angst zu nehmen. Er war zusammengezuckt und herumgefahren. Aschfahl im Gesicht. Ungläubig hatte er sie angesehen und die dröhnende Stille war dem Dröhnen der Trommeln gewichen, als die Dinge wieder an ihren Platz gerückt waren.

Auf dem Festplatz drehten Molly und John eine letzte einsame Runde, bevor sie sich an den Händen fassten und mit den letzten Sonnenstrahlen hinaus über den Horizont tanzten.

Sturmgeflüster

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