Читать книгу Die Gesichter der Steine - Alexandra Walczyk - Страница 9

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Frank Stands Alone

„Was ist los?!“

Verwirrt richtete James sich im Bett auf und sah sich um. Es war stockfinster, aber etwas hatte ihn geweckt. Stimmen. Und es brannte Licht nebenan. Plötzlich hellwach sprang er aus dem Bett und ging durch den schmalen Gang des Trailers hinüber in die Küche, die zugleich als Wohnraum diente. Sarah war dort. Fix und fertig angezogen stand sie mitten im Zimmer. Auf dem Sofa saß eine blonde Frau, die James vage bekannt vorkam. Genau, das war Pat, eine Freundin von Sarah. Er war ihr bei seinem Besuch an der Uni vorgestellt worden. Sie grinste ihn an.

„Hi, Jamie. Siehst müde aus.“

„Wie spät ist es denn?“ Die Frage purzelte aus seinem Mund.

„Zwei Uhr morgens.“ Sie griff nach einer Zigarette.

Sarah schob sich in James Gesichtsfeld und erklärte: „Wir fahren nach Minneapolis. Frank holen. Und das Auto. Mein Auto.“ Sie sagte das ohne Zorn, ganz nebenbei und reichte ihm eine Tasse frisch gebrühten Kaffee. Er nickte geistesabwesend und merkte plötzlich, dass sie auf etwas zu warten schienen. Sollte er etwas sagen?

„Frank ist in Minneapolis?“ Blöde Frage.

Sarah griff bereits nach ihrer Jacke und nickte nur, aber Pat fühlte sich zu weiteren Erklärungen verpflichtet.

„Ja, ist er. Bei irgendwelchen Freunden untergekrochen, die er von früher kennt.“ Sie schnitt eine verächtliche Grimasse und warf einen Blick auf Sarah. „Schlechte Gesellschaft.“

„Willst du mitkommen?“ Sarahs Frage traf James unvorbereitet. Jetzt? Mitten in der Nacht? Aber es klang nach Abenteuer. James sah sich im Halbdunkel des Zimmers um und wusste mit absoluter Sicherheit, dass ihn keine zehn Pferde davon abhalten würden mitzufahren. Das überraschte ihn. Bevor die anderen etwas von seiner Begeisterung merkten, trank er rasch seinen Kaffee aus und eilte in sein Zimmer.

„Ich zieh mir was an. Werden wir lange weg sein?“

„Ich habe keine Ahnung. Kommt darauf an, ob wir Frank und das Auto gleich finden und ob es Probleme geben wird, die beiden zur Rückkehr zu überreden.“

Pat ging hinaus. Sarah weckte die Kinder und meinte:

„Nehmt einfach ein paar Sachen mit. Vielleicht fahren wir ja ins Reservat, sobald wir das Auto haben.“

Frank erwähnte sie nicht und James wagte nicht zu fragen. Er hatte inzwischen mitbekommen, dass Neugierde als schlechtes Benehmen galt und dass er auf direkte Fragen selten eine direkte Antwort erhalten würde. Er warf hastig eine Jeans, Unterwäsche und T-Shirts in seinen Rucksack, stopfte das Handy in seine Jackentasche und warf einen letzten Blick in die Runde. Das Ganze war total verrückt, aber irgendwie war er richtig aufgekratzt. Lebendig. Er knipste das Licht aus. Kurz darauf saß er mit der vierjährigen Christine auf dem Rücksitz. Baby Dawn schlief im Arm ihrer Mutter. Komisch war das. Er hatte zwei Schwestern. Ob seine Eltern davon gewusst hatten? Catherine hatte jedenfalls oft versucht, ihm etwas von seiner Lakota Familie zu erzählen, aber er hatte stets abgeblockt. Das einzige, das er wusste, war, dass seine leibliche Mutter gestorben war. Man hatte ihm einen Brief geschickt. Er hatte ihn geöffnet, nicht ahnend, was der Absender zu bedeuten hatte. Verblüfft hatte er auf das amtliche Schreiben und das Foto einer toten Frau gestarrt, bis ihm seine Mom beides aus der Hand genommen hatte. Damals hatten seine Eltern lange mit ihm geredet. Über seine andere Mutter und seinen Vater, über den sie so gut wie nichts wussten. Aber er hatte es immer gewusst. Sein Vater hatte sich nichts aus ihm gemacht und seine Mutter hatte ihn einfach weggegeben. Was scherte es ihn, dass sie unter erbärmlichen Umständen gestorben war? Oder was sein Vater gerade trieb, wenn er nicht im Knast saß? Das war vor zwei Jahren gewesen. Von da an wollte er nur noch James Powell sein.

Und jetzt saß er im Auto der wasserstoffblonden Freundin von Sarah Stands Alone, der zweiten Frau von Frank und Mutter seiner beiden Kinder, um einen untergetauchten, kriminellen Sioux, der zufällig auch sein biologischer Vater war, in den Weiten der Großstadt Minneapolis zu suchen! James konnte gar nicht anders. Er musste lachen! Christine grinste ihn an und Sarah lächelte ihm im Rückspiegel zu. Pat stieß einen wilden Schrei aus und trat aufs Gaspedal.

Sie lieferten die Kinder bei Ellen und Duane ab, die gar nicht erstaunt über die Störung so früh am Morgen wirkten. Auch die Kinder freuten sich bei Oma und Opa zu sein und verabschiedeten sich ohne Tränen von ihrer Mutter. Nicht so ein Geschrei, wie weiße Kinder es machen würden!

Als sie schließlich Richtung Osten aufbrachen, waren sie zu viert. Helen Two Steps stammte aus Pine Ridge und war eine Vollblut Oglala. Sie war die Schwester von Frank Stands Alone und damit James Tante. Sie quetschte ihren massigen Körper neben James auf den Rücksitz und zwinkerte ihm zu. Er mochte sie auf Anhieb und schenkte ihr ein breites Grinsen.

Während der sechsstündigen Fahrt, bei der James die meiste Zeit vor sich hin döste, erhielt er plötzlich unaufgefordert Informationen über Frank Stands Alone. Anfangs traute James seinen Ohren nicht, als Helen irgendwann begann über Franks plötzliches Verschwinden zu reden. Frank Stands Alone, der vor ungefähr drei Wochen einen Autounfall verschuldet hatte. Aus Angst vor einer erneuten Haftstrafe war er in Panik untergetaucht.

Nur seine Schwester wusste, wo er sich befand. Von seinem damaligen Versteck aus hatte er sich in regelmäßigen Abständen gemeldet. Ihn selbst konnte man jedoch nicht erreichen. Dann war er plötzlich vollständig von der Bildfläche verschwunden. Bis jetzt.

Für James waren dies Geschichten aus einer anderen Welt. Wo konnte denn jemand verschwinden, ohne dass FBI oder Polizei ihn aufspürten? War sein Vater tatsächlich ein Krimineller? Und warum hatte man ihn hierher reisen lassen? Wusste seine Adoptivfamilie nichts davon?

Langsam gefiel ihm die Reise. Anstelle einer langweiligen Familienzusammenführung bekam er Abenteuer pur! Was wohl seine Mutter dazu sagen würde?

„Wo ist denn mein Vater jetzt?“, fragte er gespannt.

Gerüchte machten offenbar schnell die Runde und Sarah hatte in Erfahrung gebracht, dass Frank inzwischen in einer üblen Gegend hauste. Alle machten sich Sorgen. Nicht nur das. Mittlerweile waren sie auch ziemlich wütend auf Frank, weil er sein Versprechen gegenüber seinem Sohn nicht eingehalten hatte. Diese Frauen waren zornig! „Er hätte hier sein sollen, um dich zu sehen!“, meinten sie vorwurfsvoll. An dieser Stelle wusste James nicht, wohin er schauen sollte. Zwei dunkle Augenpaare waren auf ihn gerichtet und ein blaues Augenpaar starrte ihn aus dem Rückspiegel an. Er schluckte und brachte keinen Ton heraus. Danach war es für eine ganze Weile sehr still im Wagen. Nur das zischende Geräusch der Reifen war zu hören und das gleichmäßige Summen des Motors.

Helen schien kurz eingenickt zu sein. Sarah sah aus dem Fenster und Pat konzentrierte sich auf die Straße. James lehnte sich zurück und gestattete sich zum ersten Mal in seinem Leben über Frank Stands Alone nachzudenken. Und über seine tote Mutter. Als der Morgen graute, erreichten sie die ersten Vororte von Minneapolis. Helen wachte auf und kniff James übermütig in die Seite. Sie sagte etwas auf Lakota, woraufhin sie und Sarah in lautes Gelächter ausbrachen. Pat schmunzelte in den Rückspiegel und hob die Schultern. James schüttelte nur den Kopf, aber das Lachen störte ihn nicht. Sie alle waren müde und aufgeregt.

James dehnte die Schultern. Sie waren sich näher gekommen auf dieser Reise durch die Nacht. Es war nichts Greifbares, aber James fühlte sich so wohl wie schon lange nicht mehr. Er brauchte eine Weile, bis er erkannte, woran das lag. Er war kein Fremder mehr. Er gehörte nicht wirklich dazu, aber das war bedeutungslos. Irgendwann, als sie johlend durch die morgendlichen Straßen von Minneapolis fuhren, fühlte er sein altes Selbst zurückbleiben. Die alte Unsicherheit und Angst lösten sich von ihm und flatterten davon. Er sah ihnen nach und lachte.

Sie hatten Probleme die Adresse zu finden, wo Frank sich angeblich aufhalten sollte. Die Gegend war nicht gerade das, was man als sicher und gepflegt hätte bezeichnen können. James jedenfalls wäre niemals auf die Idee gekommen, durch ein derartiges Viertel von Chicago mit dem Auto zu fahren. Geschweige denn anzuhalten und auszusteigen.

„Hey, Sarah, da hinten steht dein Auto!“

Pat stieg auf die Bremse und alle starrten angestrengt in die Richtung, in die Helens Finger wies. James sah nichts weiter als einen alten, verrosteten Thunderbird mit eingeschlagenem Beifahrerfenster.

Sarah dagegen strahlte. Sie schnappte sich ihre Jacke und stieg aus. Helen folgte und baute sich neben ihrer Freundin auf, die im Vergleich zu ihr geradezu winzig aussah. James warf einen misstrauischen Blick in die Runde, ehe er zögernd seinen Gurt löste und die Tür öffnete. Dann standen sie da und begutachteten den Wagen. Er sah ziemlich mitgenommen aus, fand James. Die rechte Seite war völlig demoliert und das Fenster der Beifahrertür fehlte. Die Tür selbst war hoffnungslos verklemmt. James warf einen unsicheren Blick auf Sarah.

„Sind wir etwa deswegen den weiten Weg gekommen?“

Sie blieb ihm wieder einmal die Antwort schuldig, aber ihre Augen waren nur noch schmale Schlitze. Entschlossen wandte sie sich ab und marschierte in Richtung Haus. Rücksichtslos donnerte sie mit ihrer Faust gegen die Tür. Betreten stand James neben Helen im Hinterhof, die vielsagend das Gesicht verzog. Kurz schoss James der Gedanke durch den Kopf, ob vielleicht jemand auf sie schießen könnte. Er fühlte sich wie in einem der Gangsterfilme mit James Cagney.

„Mach dir keine Sorgen, Kleiner, Sarah weiß, was sie tut.“

„Tatsächlich?“

„Klar doch. Und falls nicht, wartet Pat ja im Wagen. Wir brauchen nur reinzuhüpfen und abzuhauen.“ Sie zeigte ihm grinsend ihre Zahnlücke und er musste sich beherrschen, um nicht laut loszulachen. Pat hupte.

„Was ist denn los?“

„Nichts, Pat. Wir kommen gleich.“

Inzwischen hagelte es heftige Proteste von wegen Randale und Ruhestörung aus der Nachbarschaft. Endlich öffnete sich die Tür und eine Frau im Morgenmantel sprach mit Sarah. Sie deutete auf zwei leuchtend rote Sofas unter einigen mickrigen Bäumen im Hof und knallte die Tür wieder zu. Sarah drehte sich um, nickte in Richtung der Sofas und ging zielstrebig darauf zu.

„Na los, Kleiner. Wir gehen besser mit.“

Dann standen sie vor den Sofas und James schaute mit offenem Mund auf die Gestalt, die unter einem Haufen alter Decken auf einem der zerfledderten Polster lag. War das Frank? Sollte dieser

Typ tatsächlich sein Vater sein? James riss seinen Blick los und klappte den Mund zu, als Helen sanft an seinem Arm zupfte und ihn mit sich zog.

Der Typ rappelte sich ächzend hoch, warf einen orientierungslosen Blick in die Runde und wankte schwerfällig in Richtung. Haus. Als er an James vorbeikam warf er ihm ein halbverhungertes „Hi, James“ zu und verschwand mit seiner Frau in dem Gebäude.

James stand nur da. Seine Zähne schlugen aufeinander, als er plötzlich die morgendliche Kälte spürte, die durch seine Jacke in seinen ganzen Körper drang. Die Hochstimmung hatte sich verflogen. Geblieben war ein schales Gefühl vertrauter Enttäuschung. James reagierte nicht auf Helens Späße, doch sie ignorierte seinen Stimmungswandel und legte ihm gut gelaunt einen Arm um die Schultern. Er hasste diese Berührung! Wieder fühlte er diese Wut in sich hochsteigen.

„Mach dir nichts draus, James. Wir alle haben manchmal einen schlechten Tag. Frank hatte es nicht leicht in letzter Zeit.“

„In letzter Zeit? Dass ich nicht lache! Der hatte doch noch nie einen guten Tag!“

James versuchte sich aus Helens Umarmung zu befreien, aber sie hielt fest. Ließ nicht locker.

„Doch, James, den hatte er, du kennst ihn nur nicht.“

„Genau. Und ich will ihn auch nicht kennen!“

„Hey, James, ganz ruhig, okay?! Komm, wir setzen uns zu Pat ins Auto, bevor uns hier der Hintern abfriert.“

Helens Scherz versickerte, aber James ließ es zu, dass sie ihn zum Wagen brachte. Er zitterte am ganzen Körper und die Wut fraß sich tief in ihn hinein. Wieso hatte sein Vater ihn eingeladen, wenn er ihn gar nicht sehen wollte. Oder war das alles nur eine blöde Idee von seiner Mutter gewesen?

Sarah und Frank ließen sich Zeit. Schließlich entdeckten Pat und Helen auf der anderen Straßenseite einen Laden, der neben Kaffee auch einen Toilettenraum mit Waschbecken im Angebot hatte.

James verließ den Waschraum und überlegte, ob er sich nicht besser gleich wieder ins Auto setzen sollte. Sein Handy klingelte und James war fast erleichtert darüber, dass ihm jemand die Entscheidung abgenommen hatte. Mit einem entschuldigenden Nicken fischte er das Handy aus der Jackentasche, stieß die Ladentür auf und verschwand nach draußen. Helen und Pat blieb nichts anderes übrig, als sich vielsagend anzusehen und darauf zu warten, dass James sich entscheiden würde, ob er bleiben wollte oder nicht.

„James, Schatz, wie geht es dir?! Catherines Stimme klang weit entfernt.

James holte tief Luft und musterte angestrengt die gegenüberliegende Straßenseite. „Hey, Mom. Wo seid ihr?“

„New York! Stell dir vor, die Wohnung ist herrlich. Wir werden im fünften Stock wohnen. Ruhige Gegend. Dein Dad ist ganz aus dem Häuschen …“ Catherine redete und redete.

James starrte auf die andere Straßenseite und hörte nicht mehr zu. Irgendwann verstummte die Stimme seiner Mutter und seine Hand schloss sich fester um das Handy.

„James? Bist du noch dran?“

James konnte die Unsicherheit förmlich spüren. Dort, weit weg in New York. Catherine stand bestimmt in der leeren, frisch gestrichenen Diele und umklammerte den Telefonhörer. Er stellte sich vor, wie Michael ihren besorgten Tonfall hörte und beim Streichen innehielt. Immer diese Besorgnis! Als ob Catherine besonderen Schutz brauchte. Die heile Welt und die heile Familie. „James? Sag doch was! Möchtest du das Experiment abbrechen? Das ist kein Problem, hörst du?! James?!“

James stand noch immer da und bewegte sich nicht. Aber er hatte die Worte seiner Mutter gehört. Sollte es tatsächlich so einfach sein? Drei Tage Verbannung und nun war er erlöst? Als er zum Haus mit den roten Sofas hinüberblickte, öffnete sich die Tür und Sarah kam heraus. Dicht gefolgt von Frank, der einen nervösen Blick in die Runde warf.

James musterte diesen Mann, der sein Vater war, und den er noch nie gesehen hatte. Nur auf Fotos. Die hatten einen jungen Mann in den Zwanzigern gezeigt. Groß, schlank und mit langen Haaren. Das lange Haar war geblieben. Aber Gesicht und Körper wirkten jetzt aufgedunsen, außer Form geraten. Frank war im Gefängnis gewesen. Was sonst noch? Andererseits hatte Frank Sarah zur Frau und er hatte zwei kleine Töchter, die eigentlich ganz niedlich waren. Warum tat er seiner Familie das an?

James senkte den Blick und betrachtete eingehend seine Schuhe. Das Handy war immer noch an sein Ohr gepresst, aber Catherine hatte inzwischen aufgehört zu sprechen. Stattdessen hörte er ihren Atem. Ein und aus. Ein und aus. Sein eigener Atemrhythmus glich sich dem ihren an und gemeinsam atmeten sie ein und aus. Sie in einem fünften Stock in New York. Er auf den Straßen der Slums von Minneapolis. James hob den Blick und beobachtete, wie Frank und Sarah auf ihn zukamen. Er wusste, dass sein Dad, sein Adoptivvater, in diesem Augenblick neben seiner Mom stand und darauf wartete, dass sie wusste, was zu tun war. James lächelte.

„Mom, es geht mir gut.“

Er fühlte, wie sie ruckartig die Luft anhielt und bestimmt seinem Dad zunickte. Trotzdem klang ihre Stimme gepresst.

„Ist das wahr, James? Du weißt, dass …“

Er schnitt ihr das Wort ab. Wischte das unausgesprochene Angebot vom Tisch und fasste das Handy fester.

„Ich weiß, Mom. Danke. Ich muss jetzt Schluss machen.“

„Warte noch! James, wie geht es dir wirklich?“

Er warf noch einen Blick auf Frank und Sarah, die jetzt auf der anderen Straßenseite standen. Er dachte an Helen und Pat, die ebenfalls auf ihn warteten.

„Eine Menge Leute kümmern sich um mich. Macht euch keine Sorgen. Mir geht‘s wirklich gut.“

Als Catherine antwortete, konnte er endlich Erleichterung in ihrer Stimme hören. Gut. Er würde mit Sicherheit nichts von irgendwelchen Slums und roten Sofas erzählen. Jetzt jedenfalls noch nicht. „Mach‘s gut, Mom. Und hey, es könnte sein, dass ich in den nächsten Tagen keinen Empfang haben werde. Du weißt schon, Reservat und so …“

Ihr Lachen tat ihm gut. James wechselte noch einige Worte mit Michael, dann verabschiedeten sie sich. Er schaltete das Handy aus und steckte es zurück in seine Jacke.

Frank Stands Alone stand plötzlich direkt vor ihm. Riesengroß. Seine Augen bohrten sich in James Augen. Schwarz und unendlich tief. James schluckte schwer und wusste nicht, was er tun sollte. Da streckte ihm Frank die Hand entgegen und James griff danach als wäre sie sein Rettungsanker auf hoher See.

Frank hatte sich entschieden. Er würde mit ihnen gehen, trotz der noch immer bestehenden Gefahr verhaftet zu werden.

Sie gingen zurück in den Laden und tranken einen weiteren Kaffee. James saß gegenüber von Frank und beobachtete ihn. Alle waren still. James wartete auf irgendeine Entschuldigung oder irgendetwas, aber es kam nichts. Frank schlürfte seinen Kaffee und manchmal warf er seinen Sohn einen verstohlenen Blick zu. Irgendwann nickte er kurz und meinte: Washté! Es ist gut, dass du da bist!“ Sonst nichts. Pat und Helen lachten angespannt und stupsten James verschwörerisch in die Seite.

Nachdem alle einen Kaffee getrunken hatten, inspizierten sie das Auto und stellten eine grobe Schadensbilanz auf. Was James nie für möglich gehalten hatte, war Tatsache: Der Unfallwagen funktionierte noch! Und dann hieß es auch schon Abschied nehmen. Pat und Helen boten James einen Platz in Pats Wagen an, aber er schüttelte nur lächelnd den Kopf. Pat grinste ihn schelmisch an und meinte, dass er mittlerweile ganz gut zu ihrer Truppe passte. James war sich nicht sicher, ob das als Kompliment gedacht war, aber er freute sich. Dann trennten sie sich.

Während James einen letzten Blick auf den rasch kleiner werdenden Toyota warf, hatten Frank und Sarah die Platzkarten für die ramponierte Rostlaube verteilt. Sie mussten alle auf der Fahrerseite einsteigen. James verkrümelte sich auf den Rücksitz. Sarah setzte sich ans Steuer. Es zog mörderisch durch das fehlende Fenster und James hatte das Gefühl, dass der Wind ihn jederzeit nach draußen ziehen könnte. Es war kalt. Aber Frank hatte offenbar bemerkt, was los war und gab ihm wortlos seine beiden Decken. Sie sahen sich kurz an und er meinte achselzuckend:

„Du hättest mit den anderen fahren sollen.“

In seiner Stimme lag kein Vorwurf. Resignation vielleicht.

„Nein, ist schon okay.“

James kuschelte sich tief in die Decken. Um nichts in der Welt hätte er zugegeben, dass er genau da war, wo er sein wollte.

Danach wurde nichts mehr gesprochen.

In einem Vorort hielt Sarah schließlich vor einem mittelgroßen Haus mit Garten. Obwohl alles ein wenig ungepflegt auf James wirkte, war es doch ein himmelweiter Unterschied zu den heruntergekommenen Slumvierteln, die sie hinter sich gelassen hatten. „Wo sind wir?“ James blinzelte.

„Das ist das Haus von Franks Schwester.“ Sarah zog den Zündschlüssel ab und wandte sich nach hinten.

„Wir müssen schlafen. Und essen.“ Sie lächelte. Unwillkürlich lächelte James zurück. Sarah erinnerte ihn in mancher Hinsicht an Catherine.

Dankbar registrierte James wenig später, dass das Haus innen warm und gemütlich war. Er war nämlich ein wandelnder Eisblock.

Außerdem musste er feststellen, dass er diesmal nicht der einzige Fremde war. Sarah war offensichtlich auch das erste Mal hier und kannte keinen der Anwesenden. Beide standen einfach da, während um sie herum alles in Bewegung war. James beschlich ein seltsames Gefühl der Vertrautheit. Eine Menge Leute, die bestens Bescheid wussten, und er, der keine Ahnung hatte. Aber noch bevor er diesen Gedanken zu Ende denken konnte, drückte man ihn und Sarah auf ein paar Stühle um den Küchentisch und eine Minute später wurden Eier mit Speck und Tassen voll dampfenden Kaffees vor sie hingestellt. Damit wurden sie im Handumdrehen Teil der Familie.

Das Chaos löste sich auf und James war ein weiteres Mal verblüfft, wie schnell er akzeptiert wurde, sobald sein Name fiel und Frank etwas in seiner Sprache hinzufügte, das er nicht verstand. Nach dem Essen verschwanden Frank und Sarah zu einem keinen Mittagsschlaf in einem der Schlafzimmer. Auch James lag in einem frisch bezogenen Bett und versuchte vergeblich, Schlaf zu finden. Er war viel zu aufgedreht. Schließlich gab er es auf und ging wieder nach unten in die Küche, die sich inzwischen geleert hatte. Bis auf ein kleines Mädchen, das ihn neugierig anstarrte.

„Hey, ich bin Danielle.“ Sie zeigte ihm ihre Zahnlücken.

„James.“ Er nickte und kam sich blöd vor. Mit Kindern wusste er nichts anzufangen. Das schien Danielle nicht weiter zu stören, denn sie griff beherzt nach seiner Hand und wenig später fand sich James zu seiner größten Verblüffung auf dem Rasen vor dem Haus wieder und lachte sich halbtot über Danielles übergeschnappten Hamster, der die verrücktesten Kunststücke vollbrachte, während Danielle verzückt auf ihn einplapperte und großzügig ihre Kartoffelchips mit ihm teilte. Als der Hamster erschöpft einschlief, schleppte Danielle zwei Fahrräder an und die beiden drehten lachend ihre Runden um das Haus. Irgendwann stand Sarah in der Tür und winkte.

„James?! Zeit zum Aufbruch!“

Keuchend brachte er das Rad vor ihren Füßen zum Stehen und grinste zu ihr hinauf. Er war todmüde. Das war die einzige plausible Erklärung für seinen Zustand.

„Fühlst du dich wohl?“

Er nickte. Das tat er wirklich. Als ihm das bewusst wurde, wurde er schlagartig ernst. Sarah reichte ihm eine Tasse Kaffee und fuhr ihm zaghaft mit der Hand durch sein kurzes, dichtes Haar.

Er ließ es zu und trank einen Schluck.

„Das ist gut.“

„Ja.“

„Na, dann komm rein. Ich mache Frank noch schnell sein Haar, dann fahren wir los.“

Kaffee trinkend sah James kurz darauf zu, wie Sarah Franks langes Haar kämmte und zu einem dicken Zopf flocht, der weit über seinen Rücken hinabfiel.

Zwei Stunden später sorgte dieser Zopf für regen Gesprächsstoff in einem Fast Food Restaurant, bei dem sie anhielten, um sich ein schnelles, billiges Abendessen zu gönnen. James, der noch immer darüber nachgrübelte, warum ihn plötzlich dieses Gefühl der Zugehörigkeit so glücklich machte, stellte erstaunt fest, dass er wirklich dazugehörte. Für die anderen Gäste waren Sarah, Frank und er offensichtlich eine typische indianische Familie auf ihrem Ausflug in die Großstadt. Sein Magen zog sich augenblicklich schmerzhaft zusammen. Alte, längst vergessen geglaubte Gefühle und Erinnerungen kamen wieder hoch. Das Flüstern der neuen Klassenkameraden in der Schule. Die Blicke der Mädchen. Abschätzend. Kalkulierend. Unwillkürlich zog James die Schultern hoch. Wie oft hatte er den Drang verspürt, einfach davonlaufen zu wollen. An einen Ort, wo alle so wären wie er. Letztendlich hatte er sich damit abgefunden, dass es einen solchen Ort nicht gab. Seitdem versuchte er so zu sein wie die anderen. Mist! Was hatte er sich bloß dabei gedacht? Dass sich sein Aussehen verändern würde? Verdammt! James straffte die Schultern und hob den Kopf. Er zwang den Burger hinunter, auch wenn ihm jeder Bissen beinahe im Hals stecken blieb. Das erste Mal in seinem Leben benutzte er die Wut in seinem Innern als Waffe gegen die Welt und nicht gegen sich selbst.

Sarah und Frank schienen von all dem nichts zu bemerken.

Sie aßen mit sichtlichem Vergnügen und James kam zu dem Schluss, dass Indianersein wohl Übungssache war.

Es wurde bereits dunkel, als sie das Restaurant verließen. Diesmal saß Frank am Steuer. James war fest in eine blaue Decke gewickelt, aber es gelang ihm nicht, warm zu bleiben. Der Wind blies kalt und stetig ins Auto und entzog ihm bald jede Wärme. James krümmte sich um sich selbst und schlief irgendwann ein.

Kurz vor zwei Uhr morgens weckte ihn Frank. Waren sie etwa schon da? Nein, aber in der Ferne ging ein heftiges Gewitter nieder und der Anblick der herabzuckenden Blitze über der weiten Ebene war atemberaubend. Dann erreichte das Unwetter das Auto und durch das kaputte Fenster prasselte der Regen. Es regnete hier nicht oft, aber jetzt schien sich der Himmel gegen die Familie verschworen zu haben oder schien genau zu wissen, dass auf der Rückbank ein frierender Junge saß.

Klatschnass erreichten sie schließlich den Trailer von Frank und Sarah in Vermillion und parkten das Auto außer Sichtweite hinter dem Haus. Frank warf eine schmutzige Plane darüber, doch James war sich ziemlich sicher, dass sich bereits alles Wasser des Himmels im Inneren des Fahrzeuges befand. Im Haus verzogen sich alle in ihre Zimmer und schlüpften aus den nassen Kleidern. Die Stimmung war auf dem Tiefpunkt angelangt, wenn das überhaupt noch möglich war. James kletterte in das Bett und kuschelte sich unter die Decken. Gut, dass Catherine ihn nicht sehen konnte! Sie würde als überbehütende Mutter sonst bestimmt sofort vorbeikommen und ihm irgendwelche Vitamine verabreichen. Er empfand fast so etwas wie Schadenfreude. Es war ja nicht seine Idee gewesen, hierher zu kommen!

Sie schliefen lange, standen auf, aßen etwas, legten sich wieder hin. James hörte Musik. Hauptsächlich deshalb, damit ihm die Decke nicht auf dem Kopf fiel. Das Hochgefühl des gestrigen Tages war verflogen und mit ihm das Gefühl der Zugehörigkeit. James wusste nicht, was er sagen sollte. Die Leere in seinem Kopf war grässlich.

Dies war der erste Tag, an dem er und Frank mehr oder weniger zusammen waren, und es sah nicht gut aus. James hatte keine Ahnung, wie er sich verhalten sollte. Frank übrigens auch nicht. Irgendwie war es so, als würden sie bei dem Versuch sich gegenseitig auszukundschaften, ständig über ihre eigenen Füße stolpern. Und Sarah hielt sich aus allem heraus. Sie kochte, räumte auf, gab James eine Aspirin gegen seine Kopfschmerzen und telefonierte mit den Kindern.

Frank und James schwiegen sich aus. Keiner stellte dem anderen Fragen. Worüber auch? Sie kannten sich ja nicht. Normale Gespräche über Filme, Hobbys oder Lieblingsmusik schienen hier nicht möglich zu sein. Sah so der große Überdruss aus?

Die Gesichter der Steine

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