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4 Das Forum Romanum. Und das Forum wurde römisch
ОглавлениеDas Forum vor dem Forum
Die Senke zu Füßen der neuen Urbs, welche die Stadt vom Hügel gegenüber trennte, war bislang nur eine große Freifläche ohne klare Begrenzung und Bestimmung. Im Norden gesäumt von den letzten Ausläufern von Esquilin, Oppius und Quirinal, erstreckte sich das Tal bis an den hoch aufragenden Saturnischen Berg, bevor es in seinem weiteren Verlauf zum Fluss hin abzweigte. Anders als lange geglaubt, bestand es nicht aus einem einzigen großen Sumpf, der jegliche Verbindung unmöglich machte.1 Tatsächlich sammelte sich an vereinzelten Orten häufig Wasser, etwa an der Stelle, die später unter dem Namen Lacus Curtius bekannt werden sollte, oder auf der anderen Palatinseite, kurz vor dem Fluss, beim sogenannten Velabrum. Anderswo jedoch leiteten tiefe Bäche im Lehmboden das von den umliegenden Hügeln herabfließende und aus den Quellen an ihren Hängen sprudelnde Wasser ab, sodass ein Großteil des Tales trocken lag. Allerdings wurde es so gut wie jedes Jahr von den ansteigenden Fluten des nahen Flusses überschwemmt, und diese Hochwasser, die in der glühenden Sonne zwar bald wieder verdunsteten, traten häufig auf und verhinderten, bis auf wenige Ausnahmen, eine dauerhafte Besiedelung der Niederungen. Höher war das Bodenniveau entlang der Hügel, wo die Erosion natürliche, stufenförmig ansteigende Terrassen in das Tuffgestein gegraben oder, wie am Fuß des Saturnischen Berges, größere Blöcke freigelegt hatte, die aus der Ebene herausragten. Diese Erhebungen waren vor Überschwemmungen sicher und wurden daher als Erste von Menschenhand gestaltet.
Noch aber war das künftige Forum ein peripherer Raum, den die Lebenden nur durchquerten und wo lediglich die Toten verweilten. Die vereinzelten Hüttenweiler, die sich dort in der Bronzezeit im Schutz der befestigten Siedlung hoch über dem Fluss gebildet hatten, waren inzwischen verschwunden. Seit dem Beginn der Latialkultur um das elfte Jahrhundert v. Chr. hatte eine Nekropole ihren Platz eingenommen und sich schließlich immer weiter bis an die unteren Hänge der Velia ausgebreitet.2 Entlang des größten Bachs der Senke verlief ein Weg zum Saturnischen Berg. Die Menschen, die ihn in jener Zeit benutzten, sprachen von ihm als via, woran sich auch nichts änderte, als der feuchte Lehm Jahrhunderte später dem Tag für Tag von Tausenden Passanten beschrittenen Pflaster aus Lavagestein gewichen und die gesamte Strecke von einer beinahe ununterbrochenen Abfolge von Gebäuden und Portiken aus Stein und Marmor gesäumt war. Sowohl zu Zeiten, da sie nur ein Weg zwischen Siedlungen war, als auch in der späteren Urbs galt diese via als ‚heilig‘. Auf ihr schritten Könige und Priester entlang, wenn sie sich im Prozessionszug auf den Saturnischen Berg begaben, um dort religiöse Zeremonien zu vollziehen. Und schon die Bewohner der palatinischen urbs hatten sie geheiligt, führte sie doch an der weitläufigen Nekropole entlang, die sie regelmäßig aufsuchten, um ihre Toten und jene Gottheiten zu ehren, die über sie wachten. Ein wenig später wurde am Hang des Palatins eine weitere ‚Straße‘ angelegt, welche die Tore der Stadtmauer auf dieser und der zum Velabrum weisenden Seite verband und der ebenfalls ein langes Dasein beschieden war: die ‚Neue Straße‘, Via Nova. Neu wurde sie ursprünglich genannt, weil sie erst nach der Via Sacra entstand, und an diesem Namen sollte sich vorerst nichts mehr ändern.
Doch diese beiden Wege, die das Becken lediglich durchquerten oder teilweise säumten, genügten offenbar nicht, um das Forumtal in die Stadt einzubeziehen, lag dieses doch, wie sein Name verrät, in der Mitte des achten Jahrhunderts vor unserer Zeitrechnung weiterhin außerhalb (foras) der Urbs und ihrer Tore (fores).3 Doch dieser Nicht-Ort, diese noch häufig überschwemmte Niederung, diese weite, leere Fläche inmitten von Anhöhen und Siedlungen, dieses Totental und Niemandsland, sollte innerhalb weniger Jahrzehnte zum Zentrum der neuen Stadt werden, zum Herzen dieses lebendigen und immer komplexeren Organismus, der sich allmählich zum Gravitationszentrum und Symbol jenes Geflechts aus religiösen Praktiken und profaner Repräsentation herausbildete, aus dem die neue Form des gemeinschaftlichen Zusammenlebens namens Rom mehr als ein Jahrtausend lang bestehen sollte.
Eine erste Transformation
Wie, wann und aus welchen Gründen vollzog sich diese entscheidende Metamorphose? Die moderne Forschung hat sich seit einem Jahrhundert umso mehr mit dieser Frage beschäftigt, als sie davon überzeugt war, den antiken Überlieferungen bezüglich der allerersten Furche um den Palatin keinerlei Glauben schenken zu dürfen. Stattdessen konzentrierte sich ihre Aufmerksamkeit auf die Umwandlung des Forumtals in einen öffentlichen Raum, der sich um emblematische Orte wie das Heiligtum der Vesta und das Comitium, den ‚Versammlungsplatz‘, entwickelte. Ihre in den 1960er-Jahren formulierte und seither maßgebliche Antwort lautet, diese Umgestaltung sei in jeder Hinsicht sukzessive, lange nur partiell und auch erst spät erfolgt. Aufgrund der Ergebnisse archäologischer Grabungen, deren letzte nunmehr sechzig Jahre zurückliegt, hat man den Zeitpunkt, da Rom dank der öffentlichen Gestaltung des Forumtals wahrhaftig zur Stadt geworden sei, auf die Mitte des siebten Jahrhunderts vor unserer Zeitrechnung datiert. Was logischerweise impliziert, dass es vorher keine Stadt gab. Rom habe, dieser Auffassung zufolge, ihre urbane Identität unmerklich und gleichsam ungewollt entwickelt, im Laufe eines langsamen, unsichtbaren und namenlosen Prozesses, für den es tieferreichende Gründe gebe als Ereignisse und Menschen. Selbst die Entdeckung einer Mauer um den Palatin aus dem achten Jahrhundert v. Chr. hat diese Überzeugung nicht wesentlich verändert. Es sei völlig unwesentlich, was sich auf dem Palatin ereignet haben mag, heißt es, denn das wahre Zentrum Roms, der Raum, in dem sich die Stadt zum ersten Mal ihrer selbst als Gemeinwesen bewusst wurde, sei schließlich das Forum gewesen! Und so schien es lange, als habe die Doktrin von einem Rom, das erst spät im Schlepptau der Griechen und Etrusker entstand, in der zögerlichen Entwicklung des zentralen Tales eine überzeugende Bestätigung gefunden. Doch die Wissenschaftsgeschichte hat gezeigt, dass bei epistemologischem Konsens grundsätzlich Vorsicht geboten ist. Oft genug verkommen die verdienstvollsten, treffendsten Thesen ihrer Zeit – wie es die Theorie, Rom sei im siebten und sechsten Jahrhundert v. Chr. auf dem Forum entstanden, bei ihrer Formulierung zwischen 1960 und 1980 gewesen sein mag – mit den Jahren zu banalen Gemeinplätzen. Als ersetze die Wiederholung für alle Zeiten den Beweis. Doch irgendwann kommt der Tag, an dem man feststellt, dass es neue Erkenntnisse und eine veränderte Sicht auf die Dinge erforderlich machen, alte Hypothesen zu verwerfen und sich anderen Lösungen zuzuwenden. Und es steht außer Zweifel, dass dieser Tag nun auch für das Forum Romanum gekommen ist, kommen doch aktuelle archäologische Forschungen zu einem neuen Schluss.
Zwar bleibt die Bühne dieselbe, doch die Handlungszeiträume und Akteure wechseln, und mit ihnen auch die tieferen Ursachen für die große urbane Verwandlung. Lässt sich herausfinden, wann im Forumtal das ewige Feuer der Vesta entzündet wurde, oder wann und an welchem Ort genau sich die Römer dort erstmals als konstituierte Bürgerschaft versammelten? Das sind sicher keine unwichtigen Fragen auf dem Weg zu einer präziseren Definition des frühesten Roms! Und in den letzten Jahren verändern sich die Antworten nicht nur signifikant, sondern sie erscheinen überhaupt erst möglich zu sein. Dasselbe Team,4 das vor fast dreißig Jahren die Überreste der ersten Mauer um den Palatin ans Tageslicht beförderte, hat in den vergangenen Jahren den Bereich unterhalb des Hügels erforscht, wo zu Zeiten der Republik der Tempel der Vesta, das Haus ihrer Priesterinnen und einige weitere Gebäude standen, darunter die sogenannte Regia, der Königspalast. Ein Stück davon entfernt wurden Ausgrabungen auf dem Comitium durchgeführt und gleichzeitig die Ergebnisse der archäologischen Studien des gesamten vergangenen Jahrhunderts noch einmal neu gesichtet. Die Ergebnisse dieser neuesten Untersuchungen sind überraschend, ja geradezu spektakulär, denn sie widersprechen allen gängigen Überzeugungen zur Entwicklung und zur möglichen Erforschung des Forums. Noch sind diese Ergebnisse nicht über den engen Zirkel hochspezialisierter Publikationen hinausgedrungen, aber sie müssen berücksichtigt werden, möchte man wirklich verstehen, was sich damals abgespielt hat. Denn anders als man bislang glauben mochte, blieb die Forumebene nicht ein Jahrhundert oder länger unberührt von den Vorgängen auf dem Palatin. Tatsächlich wurden bereits ab der Mitte des achten Jahrhunderts v. Chr. das Heiligtum der Vesta, die Via Sacra und eine öffentliche Versammlungsstätte erbaut beziehungsweise angelegt, mit anderen Worten genau zu der Zeit, als andere den Palatin entlang des Verlaufs der Urfurche mit einer Mauer umgaben. Was bedeutet, dass diese unterschiedlichen Initiativen hier wie dort demselben Zweck zu dienen, einem identischen Anliegen zu entspringen, zu einem gemeinsamen Projekt zu gehören scheinen.
Die Schlacht gegen die Sabiner
Doch was war das für ein Projekt? Möglicherweise kann eine Legende, die von der Wissenschaft lange negiert wurde, diese Frage teilweise beantworten. In ihr tritt ein Volk auf, das sich von den Latinern unterscheidet, die sogenannten Sabiner, bei denen heutige Experten ebenfalls eine indoeuropäische und italische Abstammung erkennen. Vettern also, deren Territorien in jener Zeit im Nordosten lagen, stromaufwärts der sieben Hügel, am linken Flussufer in einer waldreichen Bergregion. Was dann geschah, ist bekannt: Um seiner aus eingefleischten Junggesellen bestehenden Stadt eine Zukunft zu sichern, soll Romulus die Sabiner mit einer List nach Rom gelockt haben, indem er sie mitsamt ihren Familien – also auch Ehefrauen und Töchtern – zu Festspielen, in diesem Fall einem Reiterwettstreit, einlud. Während des Spektakels sollen die Römer die Sabinerinnen geraubt und die Sabiner vertrieben haben. Natürlich kehrten die verhöhnten Väter und Ehemänner bewaffnet zurück, und es kam zum Krieg. Dessen letzte Etappe spielte sich auf dem Forum ab, wo die Auseinandersetzung lange unentschieden blieb. Schließlich griffen die zu Römerinnen gewordenen Sabinerinnen ein, und es gelang ihnen, den Kampf zu beenden. Eine berühmte, durch Titus Livius unsterblich gewordene Szene, die der Maler Jacques-Louis David mehr als zweitausend Jahre später zu neuem Leben erweckte. Was wurde nicht alles über diese Schlacht auf dem Forum geschrieben, über die abschließende Versöhnung, welche die Tragödie im letzten Moment wider Erwarten in eine Komödie verwandelt! Und doch … Wie unwahrscheinlich, absurd, ja geradezu lächerlich diese Legende auch anmutet, vielleicht verrät sie uns etwas über die Geburt des Forums als öffentlicher Raum. Denn es hat ganz den Anschein, als habe sie für die Römer selbst die Erklärung, die Aitiologie, wie es in der Religionsgeschichte heißt, für diesen Ort und seine wichtigsten Flurnamen geliefert – vom alten Tor der Palatinmauer über die Via Sacra und den Lacus Curtius bis hin zum Comitium mit seinen Altären.5 Tatsächlich bietet die klassische historische Analyse keinen Zugang zu dieser Art von Erzählungen, die eher in das Reich des Mythos, wenn nicht gar der Folklore, zu gehören scheinen, als einen ausgeschmückten Bericht über punktuelle und datierbare Ereignisse zu liefern. Stattdessen müssen wir uns der Ethnologie zuwenden, um zu begreifen, was es mit solchen Legenden auf sich hat.6 Wiederholte Konflikte, die sich stets im selben, relativ eng begrenzten Bereich abspielen, eine geringe Zahl von Kämpfern und Getöteten, das Streben nach Zweikampf und individuellen Heldentaten, die Anwesenheit von Frauen als Beobachterinnen und als Gegenstand der Auseinandersetzungen, ein Zusammenhang zwischen Krieg und Heirat, zwischen Heirat und Festlichkeiten, der gemeinschaftliche Charakter dieser unterschiedlichen Sachverhalte: All das haben Forscher, die sich mit sogenannten primitiven Gesellschaften beschäftigen, in anderen Zeiten und anderen, sehr weit von Rom entfernten Regionen ebenfalls vorgefunden und beschrieben. Wie jedoch sollte ein Ort, der Schauplatz bewaffneter Kämpfe gewesen ist, zu einem Ort werden können, an dem sich Menschen friedlich versammelten? Das ist weniger ungewöhnlich, als es den Anschein hat, und eine wichtige Beobachtung der Ethnologie verdient in diesem Zusammenhang besondere Beachtung: Solche regelmäßig aufflammenden, beinahe schon ritualisierten Kämpfe werden stets an Orten ausgefochten, an denen sich Territorien einander gegenüberstehender Gruppen oder Gemeinschaften berühren. Ihr Ziel ist nicht die Vernichtung des Gegners, sondern lediglich dessen Schwächung, weshalb sie als eine Kontaktaufnahme gedeutet werden können. Und auch die Forumebene wies alle Charakteristika eines solchen Grenzgebiets auf: Palatin und Velia lagen hier dem Saturnischen Berg gegenüber, der, damals nur durch einen seichten Einschnitt getrennt, die Anhöhen des Quirinals zum Fluss hin verlängerte. Und während die erste dieser beiden Hügelgruppen ein direkter Ausläufer des latinischen Plateaus war, bildete die zweite das natürliche Ende der Anhöhen des Sabinerlands. Nun begreift man auch, weshalb weder der Saturnische Berg noch der Quirinal in der Liste des Septimontium auftauchen, während Palatin und Velia darin die vorrangigen Rollen einnehmen, eine Lücke, die umso mehr überrascht, als diese Hügel spätestens ab der zweiten Phase der Latialkultur besiedelt waren. Doch schon vor den Zeiten des Septimontium waren nach und nach, angelockt durch die Vorzüge der Hügel beim großen Strom, Sabiner aus ihren Bergen herabgekommen und hatten sich auf dem Quirinal und dem Saturnischen Berg niedergelassen. Der Mythos der Tarpeia, einer Römerin, die den Sabinern die kapitolinische Burg auslieferte und als Lohn statt der erhofften Armreife deren Schilde erhielt, unter denen die Sabiner sie begruben, maskiert nur oberflächlich den alten lokalen Kult einer Trophäengöttin:7 Bis in die Zeiten der Republik hinein huldigte man ihr durch Prozessionen zu einem heiligen Hain, in dem vermeintlich ihr Grab lag. Das Motiv des Verrats ermöglichte es dem kollektiven Gedächtnis der Römer, zum Vorteil der Urbs zu erklären, weshalb der Kapitolshügel sabinisch gewesen war und eine Zeit lang Tarpeius Mons geheißen hatte.
Das Forumtal war also zunächst ein Grenzgebiet zwischen zwei Gemeinschaften, deren teils gewaltsame, teils friedliche Kontakte immer intensiver wurden, da man sich zum Heiraten zwangsläufig außerhalb der eigenen Gruppe umschauen musste. Irgendwann kam der Moment, in dem die beiden rivalisierenden Nachbarvölker beschlossen, ihre Gegnerschaft beizulegen und eine – im wahrsten Sinne des Wortes – gemeinsame Basis zu finden: jenes Tal, das sie bislang voneinander trennte und in dem sie einander so oft bekämpft hatten. Damit wurde das bisherige Niemandsland zum gemeinsamen Raum, und der Streit der Worte ersetzte jenen mit Waffen. Das Anlegen des Forums war nichts anderes als die konkrete Umsetzung dieses gemeinsamen Willens zu Versöhnung und Einheit. Und die dank der jüngsten archäologischen Erkenntnisse möglich gewordene Rückdatierung dieser Maßnahme um ein Jahrhundert gibt dem Sabinermythos, diesem elementaren Bestandteil der Gründungssage in der römischen Überlieferung, ihre ganze Sinnhaftigkeit zurück.
Darüber hinaus wurden durch die religiösen Institutionen der Stadt noch weitere, seit Langem bekannte Indizien für die Rolle der Sabiner bewahrt. So existierten noch am Ende der Republik zwei Priesterschaften, die sich aus jeweils zwei Kollegien zusammensetzten, von denen das eine mit dem Palatin in Beziehung stand und das andere mit dem Quirinal: Die Luperci, jene Wolfsmänner, die wir am Fuß des Palatins rennen sahen, teilten sich in Quinctiales und Fabiani, während man bei den sogenannten Saliern jene des Palatins, die dem Gott Mars huldigten, von denen des Quirinals unterschied, die dem Quirinus dienten. Dass es sich bei diesen religiösen, von den Römern Sodalitas genannten Bruderschaften (von sodalis, Gefährte) um sehr alte Institutionen handelte, beweist unter anderem ihr Modus zur Aufnahme neuer Mitglieder, die bis in die Kaiserzeit durch Kooptation erfolgte, während diese Vorgehensweise bei allen anderen römischen Priesterschaften längst von einer Wahl durch die Volksversammlungen abgelöst worden war. Einen weiteren Hinweis auf die Sabiner liefert zudem die Tatsache, dass der Schutz der Urbs am Fuß der Palatinmauer, in der Nähe der Porta Romanula und des Heiligtums der Vesta, den Schützenden Laren (Lares Praestites) übertragen wurde – zwei Gottheiten für ein und dasselbe Heiligtum, als Sinnbild der beiden Gemeinschaften, die beschlossen hatten, ihre Geschicke zu verbinden. Von nun an war Rom eine dualistisch organisierte Gesellschaft, und folglich würden auch die ersten Könige abwechselnd latinischer und sabinischer Herkunft sein.
Vesta
Auf der Basis dieser grundlegenden Übereinkunft zwischen den beiden Anrainerbevölkerungen konnte nun die Umgestaltung der weitläufigen Senke beginnen. Die erste Maßnahme betraf die natürliche Terrasse, die sich gegenüber der Velia an der nordwestlichen Spitze des Palatins ins Tal vorzuschieben schien. Auf der nach Westen und dem Velabrum zugewandten Seite dieser Spitze fielen die Hänge stufenförmig ab und bildeten einen etwa einen Hektar großen, vier bis fünf Meter höher als das Forum gelegenen Vorsprung. Auf diesem natürlichen Balkon wurden die ersten Arbeiten durchgeführt, und exakt an jener Stelle, wo sich während der Republik und bis zum Ende der Kaiserzeit das Heiligtum der Vesta befinden würde, dessen ewiges Feuer Dauerhaftigkeit und Wohlstand Roms symbolisierte, entwickelte sich ein erstes kleines Zentrum der Macht und des Prestiges. Jüngste Ausgrabungen unter dem berühmten Rundtempel haben zugegebenermaßen nur indirekte und schwer zu interpretierende Hinweise ergeben.8 Aber die umfangreichen Baumaßnahmen, im Zuge derer das Heiligtum seit der Antike vielfach instand gesetzt, ja sogar vollständig neu errichtet wurde, mögen als Erklärung für das weitgehende Fehlen frühgeschichtlicher Überreste an dieser Stelle genügen. Es ginge zweifellos zu weit, daraus zu schließen, der Tempel habe erst ab der Kaiserzeit existiert, aus der die erhaltenen – und im vergangenen Jahrhundert erheblich restaurierten – Ruinen stammen! Denn nur wenige Meter davon entfernt wurden sehr alte Spuren gefunden: Im elften und zehnten Jahrhundert v. Chr. versammelten sich die Angehörigen der in der Nähe bestatteten Toten in diesem Bereich zu bescheidenen gemeinsamen Totenmählern. Um dieselbe Zeit jedoch, als die erste Befestigung um den Palatin errichtet wurde, scheint das Areal einer ganz neuen Nutzung zugedacht worden zu sein. Über mehrere Jahre hinweg wurde der Boden regelmäßig umgepflügt, bis in einem letzten Durchgang sorgfältig sämtliche Vegetationsreste entfernt wurden. Fast drei Jahrtausende später stießen Archäologen auf die Spuren dieser mithilfe des Pfluges durchgeführten Vorbereitungen.9 Ein Erdwall trennte die auf diese Weise freigelegte Parzelle ab, auf der mehrere Bauten entstanden, zunächst Hütten mit Holztragwerk und Wänden aus getrocknetem Lehm, später dann Häuser aus gebrannten Lehmquadern mit Ziegeldächern. Es waren immer noch recht fragile Konstruktionen, denen der Wind, die Winterkälte, die oft sintflutartigen Regenfälle des Frühjahrs und die sommerliche Hitze schwer zugesetzt haben müssen … Oft genügte eine Reparatur, ein simples Abdichten, doch nicht selten wurde auch ein vollständiger Neubau erforderlich, etwa wenn der Blitz eingeschlagen oder ein außergewöhnliches Hochwasser alles zerstört hatte. Mehrfach fanden Ausgräber die Trümmer der früheren Bauten, vor allem aber Überreste ihres Inventars – hauptsächlich Gefäße und Gerätschaften, die möglicherweise dort verwendet wurden –, in Bodengruben, wo sie bewusst gesammelt worden waren. Manchmal handelte es sich dabei um ehemalige Brunnenschächte, die bei ihrer Entdeckung bis zum Rand mit Tausenden von Scherben gefüllt waren. Ganz offensichtlich legten diejenigen, die neue Gebäude anstelle der alten errichteten, Wert darauf, dass einige Zeugnisse erhalten blieben, selbst wenn diese nicht länger sichtbar und zugänglich waren. Sie richteten sich also nicht an die Menschen, sondern an die Götter, und es war die Religion, die sie zu diesen eigentümlichen Vorsichtsmaßnahmen bewog – ein Glücksfall für die Archäologen, die solche Lagerstätten Votivdepots nennen: Dank der auf diese Weise bewahrten Überreste können relativ genaue Datierungen vorgenommen werden, sowohl für Gebäude, deren Spuren man noch im Boden findet, als auch für solche, auf die sonst nichts mehr hindeutet.
Bislang wurden die ältesten Fragmente, die man in zwei Schächten im Bereich des Vesta-Heiligtums gefunden hat, auf das sechste, allerfrühestens auf die zweite Hälfte des siebten Jahrhunderts vor unserer Zeitrechnung datiert, und darüber hinaus wurde ein dritter Schacht inzwischen identifiziert. Und diese Datierung hat in der zeitgenössischen Debatte um die Geburt Roms eine bedeutsame Rolle gespielt: Man kann ohne Übertreibung sagen, dass sie wesentlich für die noch heute weit verbreitete Überzeugung verantwortlich ist, die Anfänge der Urbs könnten nicht weiter zurückreichen als an den Beginn des sechsten oder das Ende des siebten Jahrhunderts. Denn die Existenz eines Vesta-Kultes wurde als entscheidender Hinweis gewertet, als explizites und unumstößliches Zeichen für den Aufstieg des römischen Gemeinwesens in den Status einer Stadt. Und die Einrichtung dieses Kultes war mithilfe der aus den Votivdepots des Heiligtums abgeleiteten Chronologie zu bestimmen. Einer solch strikten Argumentation ist unbedingt auch weiterhin zu folgen, allerdings sind inzwischen Fakten aufgetaucht, die es in diese logische Folgerung zu integrieren gilt. Denn neue Entdeckungen und jüngste Analysen haben ergeben, dass in diesen Depots Gegenstände aus der Mitte des achten Jahrhunderts vor unserer Zeitrechnung enthalten sind …10 Einige scheinen sogar aus noch früheren Jahrhunderten zu stammen: Als habe man den neuen Kult mit der Vergangenheit und mit Ereignissen an anderen Orten der Region verknüpfen wollen, denn diese Scherben sind latialen Ursprungs: möglicherweise aus Alba, wo die Göttin des gemeinschaftlichen Feuers einer hartnäckigen Überlieferung zufolge herkam?
So sprechen die gleichen Gründe, welche bisher für eine Entstehung der Stadt frühestens Ende des siebten Jahrhunderts gesprochen hatten, nun für eine Datierung in die zweite Hälfte des achten Jahrhunderts – was schon die Bestimmung der Palatinmauer und ein Blick in das kollektive Gedächtnis Roms ergeben hatten.
Ein königliches Viertel
Einige Meter vom Eingang des Rundtempels entfernt sind die Überreste einer rechteckigen Hütte zum Vorschein gekommen, die unmittelbar an einer aus derselben Zeit stammenden Begrenzungsmauer stand. Im Inneren der Hütte wurde in einer Art ebenerdigem Speicher ein Stück von einer griechischen Vase aus der sogenannten geometrischen Epoche entdeckt,11 ein damals seltenes und kostbares Gefäß, das die Bedeutung dieser Stätte hervorhebt. So alt und so nah beim Tempel der Vesta gelegen, was könnte dies anderes sein als ein den Priesterinnen vorbehaltenes Gebäude? Ist dieses Gefäß also ein Hinweis darauf, dass Vesta ebenfalls aus Griechenland stammt, wo eine Göttin namens Hestia verehrt wurde, die so viele Gemeinsamkeiten mit ihr aufweist?
Im Laufe der zweieinhalb Jahrhunderte währenden Königszeit wurde die Hütte neun Mal wieder aufgebaut, mithin einmal pro Generation. Jedes Mal wurde der Boden der gesamten heiligen Fläche, genau wie die Straße, die an ihr entlangführte, erneuert und mit Kies befestigt. Jenseits der Straße haben Ausgräber ein knappes Dutzend kleiner, aus jeweils einem einzigen Raum bestehender Hütten als Wirtschaftsgebäude des Heiligtums interpretiert. In diesen Anfangszeiten bildete das Personal, das hier den Kult der Göttin versah, sicher noch keine spezielle Priesterschaft. Und seit Langem vermuten Forscher, das Feuer der Vesta sei zunächst von den Frauen der wichtigsten Familie am Ort gehütet worden – von Frauen der Königfamilie.
Und tatsächlich kamen, ein Stück entfernt, aber immer noch auf jener Art Landzunge, auf der sich auch das Heiligtum befand, die Überreste einer Konstruktion zum Vorschein, die mehrere Bauphasen erlebt hat.12 Zunächst bestand sie aus einer nahezu quadratischen Hütte mit einer Art Einfriedung davor. Einige Jahre später wurde diese durch einen neuen Bau abgelöst, der aber offensichtlich an den ersten anknüpfte: Er enthielt einen großen, zentralen Raum, dessen Grundriss exakt den der früheren Hütte reproduzierte, als habe man die Erinnerung daran genauestens bewahren wollen. Für das Ende des achten Jahrhunderts v. Chr. war dieses Haus ausgesprochen luxuriös. In seiner unmittelbaren Umgebung wurde schon in der Mitte des 20. Jahrhunderts ein großes Gestell für ein Trinkgefäß entdeckt,13 und in den Überresten des Gebäudes finden sich unzählige Geschirrscherben. Bei diesem Raum handelte es sich also offenkundig um einen Bankettsaal. Es war die Zeit, in der die italischen Eliten mit wachsender Faszination die Erzeugnisse der griechischen Welt entdeckten, verzierte Vasen, Wein und Öl, und damit einen Lebensstil, den man als ‚Homeric way of life‘ bezeichnen könnte. Äquivalente zur heutigen Coca Cola, zu Kaugummi und Hollywood: im damaligen Fall epische Gedichte, in denen die sagenhaften Taten der Helden und großen Vorfahren besungen wurden. Mit seinem Bankettsaal, seinen Nebenräumen, seiner mit einer Portikus versehenen Fassade und seinem geschlossenen Innenhof könnte das Wohnhaus auf dem Areal der Vesta durchaus einer jener häufig in der Ilias und der Odyssee beschriebenen Paläste sein. Und wer mag das Recht gehabt haben, so dicht bei jenem Ort zu wohnen und zu schlemmen, der zu einem der wichtigsten Heiligtümer der Stadt werden sollte – vielleicht sogar dem symbolträchtigsten Heiligtum überhaupt –, wenn nicht das damalige Oberhaupt der römischen, oder vielmehr römisch-sabinischen Gemeinschaft, der erste oder einer der allerersten Könige Roms? Durch die Errichtung seiner Residenz unten im Tal machte er deutlich, dass er der König aller Römer war, nicht nur der Latiner auf dem Palatin, nicht nur der sabinischstämmigen Bewohner des Quirinals und des Tarpeius Mons.
Eine Großbaustelle
Die Senke wurde nun mehr und mehr zum Bindeglied zwischen den unterschiedlichen Anhöhen, und ab der Mitte des Jahrhunderts wurden die alten Wege erstmals systematisch angelegt: Sie folgten hauptsächlich den Wasserläufen, deren lehmige Ufer nun, so gut es ging, grob planiert und durch eine Kiesschicht befestigt wurden. Möglicherweise entwickelte sich eine der erhöhten Stellen am Fuß des Tarpejischen Berges schon in dieser Phase zu einer dem Gott Vulcanus geweihten Kultstätte: Davon könnten die ältesten Objekte aus einem Votivdepot zeugen, das beim sogenannten ‚Schwarzen Stein‘ am Comitium gefunden wurde. Wie die kürzlich erfolgte Entdeckung des ersten künstlichen Bodenbelags zeigt, fällt auch die ursprüngliche Anlage des Versammlungsplatzes, den auf der einen Seite das kleine Heiligtum, auf der anderen die Via Sacra begrenzte, bereits in die Anfangszeiten der Stadt.14 Darauf deutet auch eine weitere archäologische Entdeckung aus jüngerer Zeit hin: In der Nähe des späteren Carcer, des späteren Gefängnisses der Stadt, wurden die Skelette einer Frau, eines Kindes und eines Mannes gefunden, alle drei erschlagen und mit hinter dem Rücken gefesselten Händen begraben. Wir befinden uns hier zwischen Comitium und Tarpeius Mons – dem künftigen Kapitol –, unterhalb jener Steigung, die zweifellos noch nicht den Namen ‚Gemonische Treppe‘ trug, aber bereits im achten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung dieselbe Funktion gehabt zu haben scheint. Als sei der ‚Versammlungsplatz‘ schon damals jener Ort kollektiver Rechtsprechung gewesen, zu dem er in späteren Epochen werden sollte, als handelte es sich bei den Toten um Verurteilte, mit einem Knüppel erschlagen wie den Göttern geopferte Tiere, und anschließend vom Tarpejischen Felsen in die Tiefe geworfen!15
Etwa fünfzig Meter von dort entfernt sind die Spuren der städtischen Entwicklung in jener Zeit dank einer zu Beginn des 20. Jahrhunderts angelegten Sondage noch deutlicher zu erkennen.16 Denn am Fuß des Tarpeius Mons, an jenem strategischen Punkt, wo sich kurz vor dem Fluss die Via Sacra und das letzte Teilstück der Salzstraße kreuzten, waren namenlose, aber gewiss schon zahlreiche Hände damit beschäftigt, den Talboden des Velabrums aufzuschütten, indem sie große Mengen Erde und Aushub dorthin brachten. Das Ergebnis dieser Arbeiten wirft ein genaueres Licht auf die Ziele derjenigen, die sie angeordnet hatten. Es ging ihnen nicht darum, wie man lange geglaubt hat, den Boden für den Bau von Hütten vorzubereiten, denn diese Stelle lag im Überschwemmungsbereich des Flusses, und schon das erste Hochwasser hätte die fragilen Konstruktionen wieder mitgerissen. Doch durch das Anheben des Bodenniveaus schützte man diesen Ort zumindest vor dem regelmäßigen Einsickern des Wassers. Der Zweck der Maßnahme bestand also darin, eine leicht zugängliche Fläche unter freiem Himmel zu schaffen, wo sich Menschen aufhalten konnten, ohne dabei im Schlamm zu stehen – mit anderen Worten, den ersten öffentlichen Platz dieser neuen Stadt anzulegen, die damit zu einem organisierten Gemeinwesen wurde, welches sich gegen den Konflikt und für den Dialog entschieden hatte. Kurzum dieses Forum, das für alle Zeiten Romanum heißen sollte, weil ein Rom ohne Forum von diesem Tag an undenkbar war.
In welchen Zeitraum ist nun diese erste und entscheidende Anlage zu datieren? Der schwedische Experte Einar Gjerstad schlug nach der erneuten Öffnung und Untersuchung der Sondage des großen italienischen Archäologen Giacomo Boni das Jahr 575 v. Chr. vor.17 Nach langen Diskussionen einigte sich die Forschung schließlich auf den Zeitraum zwischen 650 und 635 v. Chr., eine Datierung, die mit dem vermeintlichen Alter der ältesten Funde aus den Depots im Bereich des Vestatempels übereinstimmt und in einem Großteil der wissenschaftlichen Literatur mittlerweile auch als die Entstehungszeit Roms gilt. Aus mehreren Gründen muss diese Datierung nun aber um mindestens ein halbes Jahrhundert früher angesetzt werden, denn in Wirklichkeit wurde bereits um das Jahr 700 vor unserer Zeitrechnung auf dem künstlich aufgeschütteten Boden eine erste ‚Pflasterung‘ in Gestalt einer sorgfältig verdichteten Split- und Kiesschicht verlegt. Diese Schicht wurde erst um das Jahr 1990 identifiziert, und was man bis dahin für den ersten künstlichen Boden gehalten hatte, erwies sich de facto als der zweite. Letzterer stammte tatsächlich aus der Zeit um 650 v. Chr., war aber angelegt worden, um einen zwei Generationen älteren und deutlich abgenutzten Belag zu ersetzen.
Die Verantwortlichen hinter den Bauarbeiten im ausgehenden achten oder beginnenden siebten Jahrhundert haben uns ein besonders eindrückliches Zeugnis für die große Bedeutung hinterlassen, die sie ihrem Unternehmen beimaßen. Im aufgeschütteten Boden unter der tatsächlich ersten Pflasterung haben Archäologen an der Wende zum 20. Jahrhundert mehrere, jeweils mit einem Kind zusammen begrabene Skelette geborgen, darunter auch ein Mann und eine Frau. Kürzlich vorgenommene Radiokarbonanalysen datieren diese sterblichen Überreste überraschenderweise in das Ende der Bronzezeit, genauer gesagt, in die Stufe Latial I.18 Bei der Erdbeschaffung, um die Talsohle anzuheben, waren die römischen Arbeiter vermutlich auf Gräber gestoßen, hatte diese Gegend doch lange als Begräbnisstätte gedient.19 Hatten sie aus Angst oder Respekt diese mehr als zwei Jahrhunderte alten Leichen in der aufgeschütteten Erde erneut bestattet? Diese Vorstellung ist zugegebenermaßen eher unwahrscheinlich. Mit Blick auf die zur selben Zeit andernorts feststellbaren Bräuche ist es vielleicht naheliegender, von einer Fehldatierung auszugehen. Denn tatsächlich genügt schon eine Kleinigkeit, um die Ergebnisse einer Radiokarbonanalyse zu verfälschen.
Bereits bei ihrer Entdeckung hielt man die Skelette der Frau und des Säuglings für die sterblichen Überreste einer Vestalin, die gegen ihr Keuschheitsgelübde verstoßen hatte und mit ihrem Kind zusammen begraben worden war. Bei dem Mann sollte es sich folglich um ihren Verführer gehandelt haben, der ebenfalls in diesem Bereich vor dem Palatin und somit außerhalb des Pomerium lebendig begraben worden sei. Die wahrscheinlichste Erklärung ist jedoch, dass es sich um die Überreste von Personen handelt, die zum Zeitpunkt der Erdarbeiten getötet wurden: Durch den unumkehrbarsten aller Akte, das Menschenopfer, unterstrichen die Römer die unwiderrufliche Natur ihres Handelns und die fundamentale Bedeutung dieses kollektiven Schritts, den ihr junges Gemeinwesen dadurch vollzog.20 Zweifellos wollten sie zugleich die lokalen Gottheiten besänftigen, die womöglich über die Aktivitäten der Menschen aufgebracht waren, und sich durch die Opferung junger Leben ihren künftigen Schutz sichern.
Auch an anderen Stellen diente der Tod dazu, die durch die urbane Umwandlung des zentralen Areals herbeigeführte symbolische Zäsur feierlicher zu gestalten, wenn auch nicht notwendigerweise jedes Mal durch Menschenopfer. So kann die Anwesenheit von Gegenständen, die ganz offensichtlich in Zusammenhang mit dem Grab eines kleinen Mädchens stehen, unterhalb der Schwelle eines der Tore in der ersten Mauer kein Zufall sein, und wenn doch, so zielten die Erbauer durch deren Erhaltung ganz unverkennbar darauf ab, die Bedeutung der neu geschaffenen Begrenzung zu unterstreichen und ihr sakralen Charakter zu verleihen, und zwar just an der Stelle einer Toröffnung. Schließlich sollte noch zwei weitere Male ein – zuvor geopfertes? – Kind bestattet werden, und zwar beide Male am selben Ort: Zunächst unter und danach innerhalb einer der tragenden Mauern der königlichen Residenz: das erste Mal bei ihrer ursprünglichen Errichtung und das zweite Mal, etwa zwanzig Jahre später, im Zuge einer Gebäudeerweiterung. Wie man sieht, handelte es sich dabei stets um Vorgänge – den Bau einer Stadtmauer und ihrer Tore, die Errichtung der königlichen Residenz, die Pflasterung eines Platzes –, welche die gesamte Bevölkerung betrafen und an exakt den Orten erfolgten, an denen diese ein gemeinsames Bewusstsein, eine gemeinsame Identität entwickelte.
Und tatsächlich erforderten die laufenden Arbeiten auf dem Forum die Mitwirkung aller. Wenn man davon ausgeht, dass dieser erste öffentliche Platz allenfalls ein wenig kleiner war als jener der archaischen Epoche, also eine Fläche von etwa 5700 Quadratmeter umfasste, mussten in zwei Etappen erst 3500 Kubikmeter und später noch einmal 1700 Kubikmeter Erde herbeigeschafft werden, um den Boden für die erste Pflasterung um mehr als zwei Meter und für die zweite Pflasterung um über einen Meter anzuheben. Insgesamt also eine Erhöhung des Bodens um drei Meter, während das Niveau in den fünf Jahrhunderten der Republik lediglich um zwei und während der vier Jahrhunderte währenden Kaiserzeit um einen weiteren Meter angehoben wurde.21 Eine wahrhaft herkulische Aufgabe, die unweigerlich einen nachhaltigen Eindruck im kollektiven Gedächtnis der Stadt hinterließ! Beinahe sieben Jahrhunderte später konnte der Grieche Dionysios von Halikarnassos, der nach Rom gekommen war, um die Geschichte der Stadt niederzuschreiben, über Romulus und Titus Tatius in einer alten Chronik lesen: „In der unterhalb des Kapitolion liegenden Ebene holzten sie den Baumbestand ab, und den See, der wegen der Senkung des Ortes durch die von den Bergen herabkommenden Wasserströme voll war, schütteten sie größtenteils zu und richteten dort ihren Marktplatz ein, den die Römer auch jetzt noch in Gebrauch haben.“22 Gestern noch wegen ihrer als unglaubwürdig erachteten Präzision verspottet, gewinnen diese Zeilen im Licht der hier beschriebenen neuen Entdeckungen eine erstaunliche Ausdruckskraft!
Drei Tribus
Eine Bevölkerung, die in der Lage war, kollektiv an der Gestaltung ihrer gemeinsamen Repräsentationsorte zu arbeiten, musste zwangsläufig sehr strukturiert und organisiert sein. Und tatsächlich schreibt die antike Überlieferung Romulus explizit ein System zu, mit dem er die Römer in drei Tribus und dreißig Kurien eingeteilt habe. Im Vertrauen auf einen – falsch verstandenen – Text des Gelehrten Varro hat man in der Forschung aus diesen Tribus eine etruskische Schöpfung gemacht und sie auf jenes Volk zurückgeführt, das ab dem Ende des siebten Jahrhunderts vor unserer Zeitrechnung einen entscheidenden Einfluss auf die Geschicke der Stadt nehmen sollte.23 Und das um ein Jahrhundert ältere Rom des Romulus wurde wieder einmal in das Reich der Mythen und Legenden verwiesen! Doch die moderne Linguistik belegt, dass die Namen dieser drei romuleischen Tribus, Ramnes, Tities und Luceres, keine etruskischen Wurzeln haben, selbst wenn Varro durch die Lektüre eines etruskischen Autors dazu bewogen wurde, sie aufzuzählen.24 Wir haben es hier vielmehr mit Ableitungen von Ortsbezeichnungen zu tun, die entweder in Rom selbst oder in unmittelbarer Umgebung der Stadt zu finden waren. Die antiken Autoren hingegen verwiesen bei der Erwähnung der drei alten Tribus der Stadt, zugegebenermaßen nicht eindeutig, auf die Latiner, die Sabiner und die Etrusker.25 Wie gelähmt durch die entsetzlichen Verbrechen, zu denen die Verwendung des Begriffs ‚Rasse‘ Mitte des 20. Jahrhunderts geführt hat, lehnt es ein Großteil der zeitgenössischen Forschung seither jedoch strikt ab, diese Dreiteilung ethnisch zu interpretieren. Ohne sie vollständig zu verwerfen, hat man ihre Bedeutung abgeschwächt, indem man ihr Entstehen entweder deutlich später ansiedelte oder die ihr innewohnende Logik aufbrach: Das ursprüngliche System habe gar nicht drei Tribus umfasst, wurde behauptet, sondern zwei oder aber vier. Dabei verweist bereits der Name ‚Tribus‘, der die Zahl Drei im Wortstamm trägt, auf den dreigliedrigen Charakter dieser Struktur. Was genau könnte ihr zugrunde gelegen haben? Wenn es keine ethnische Differenzierung war, dann vielleicht eine räumliche? Tatsächlich stellen diese beiden Aspekte für eine Epoche wie das achte Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung keine Gegensätze dar. Die antiken Autoren, und mit ihnen zahlreiche moderne Forscher, haben denn auch den Namen der Tribus Tities mit Titus Tatius in Verbindung gebracht, dem legendären sabinischen Rivalen des Romulus und schließlich Mitherrscher über Rom, während die Tribus Ramnes auf ein Rom zurückging, das sich zunächst nur auf dem Palatin erstreckte, und die Tribus Luceres wiederum entweder auf einen Eigennamen oder eine Ortsbezeichnung, in jedem Fall auf einen eher südwestlich der Stadt gelegenen Bereich.
Warum also behaupteten die Römer, ihr ‚Volk‘ sei in den Anfängen der Stadtgeschichte in drei ‚Stämme‘ aufgeteilt gewesen? Diese Frage ist umso irritierender, als nachgewiesen werden konnte, dass die beiden Begriffe populus und tribus in den übrigen italischen Gesellschaften jener Zeit synonym verwendet wurden. Doch die Formulierung des Problems enthält schon dessen Lösung. Denn was sollte eine Gemeinschaft dazu bewegen, eine solche Differenzierung in der Verwendung zweier Synonyme einzuführen, die ursprünglich auf dasselbe ethnische Konzept verwiesen, wenn nicht die Tatsache, dass ihre Einheit eben gerade aus der Verbindung mehrerer Bevölkerungsgruppen resultierte, die zuvor getrennt gewesen waren?26 Rom war zu Beginn seiner städtischen Existenz nichts anderes als eine aus drei Völkern entstandene Einheit. Denn obwohl die Konfrontation von Latinern und Sabinern beim Forum die entscheidende Rolle gespielt hat, reicht sie zu einer vollständigen Definition nicht aus. Anderswo, bis hin zu den großen Salinen an der Küste, waren auch die in der Villanovakultur archäologisch greifbaren Etrusker sehr präsent. Die Logik der Örtlichkeiten führte somit dazu, dass die aus den Albaner Bergen eingewanderten Latiner sich auf dem Palatin und der Velia niederließen, die Sabiner auf den Anhöhen von Quirinal und Kapitol und die Etrusker aufseiten der Küstenebene. In diesem Stadium fallen ethnische und räumliche Aufteilung in eins, und die drei angeblich von Romulus geschaffenen Tribus repräsentieren die drei wesentlichen Völker, die in jener Zeit um die Vorherrschaft am Unterlauf des Tibers stritten.
Dreißig Kurien
Jede dieser drei Tribus bestand wiederum aus zehn Untereinheiten, insgesamt also dreißig an der Zahl. Diese Einheiten wurden ‚Kurien‘ genannt, ein Begriff, der sowohl einen Zusammenschluss von Menschen bezeichnete, als auch deren Versammlungsgebäude und deren Wohnviertel.27 Wie die Etymologie des Begriffs verrät, war die Curia eine Gemeinschaft von uiri (Männern), das heißt, in ihr waren nach familiärer Herkunft und Wohnort alle erwachsenen Männer eines Bezirks zusammengefasst. Ohne Unterschied vereinte sie Mächtige und Schwache, die Oberhäupter eines ganzen Klans ebenso wie diejenigen, die sich unter den Schutz eines anderen gestellt hatten. Einer klassischen, wenn auch umstrittenen Theorie zufolge soll dieselbe Etymologie auch einer eigentümlichen Bezeichnung zugrunde liegen, die schon bald einen weihevollen und altertümlichen Klang annahm, auf welche die römischen Stadtbürger jedoch bis ans Ende ihrer Geschichte ganz besonders stolz waren: ‚Quiriten‘. Diesen Namen pflegten sie sich bei feierlichen kollektiven Anlässen zu geben, und ihn findet man auch in der offiziellen Formel ‚römisches Volk der Quiriten‘ wieder, populus Romanus Quiritium. In ihrer Eigenschaft als Mitglieder der Kurien waren die Quiriten jene Individuen, aus denen sich das römische Volk zusammensetzte und die auch bereit waren, zu den Waffen zu greifen und ihre Stadt zu verteidigen. Natürlich könnte man aus heutiger Perspektive schockiert sein über eine solche Definition, die gleichermaßen Frauen wie Fremde aus der Gesellschaft ausschloss. Aber das wäre eine anachronistische und somit ideologische Sichtweise. Zielführender ist es, mit dem zu vergleichen, was zur selben Zeit an anderen Orten üblich war, und dann stellt man immerhin fest, dass die neue Stadt ihre Bevölkerung zum einen nicht auf ein einziges Volk beschränkte und zum anderen jeden ohne Ansehen von Reichtum oder Geburt aufnahm. In dieser zweifachen, sowohl ethnischen wie sozialen Offenheit, symbolisiert durch die Tradition des Asyls, das Romulus angeblich auf dem Kapitol begründet hatte, lag zweifellos das Geheimnis der außerordentlichen Expansion, die dieses neue Gemeinwesen namens Rom bald erleben sollte.
Die Gemeinschaft der Quiriten
Aus diesem Grund verehrten die Römer neben Jupiter, dem Schutzgott ihrer kollektiven Souveränität, und Mars, der ihnen die Überlegenheit im Kampf sicherte, als drittes Mitglied einer Göttertrias, die sie bei wichtigen Gelegenheiten anriefen, Quirinus: schon seinem Namen nach der Gott der Gemeinschaft des römischen Volkes der Quiriten, die sich in dreißig Kurien zusammengeschlossen hatten.28 Es ist also vollkommen logisch, dass Romulus in Quirinus vergöttlicht wurde, aber brachten die Alten selbst den Namen des Gottes nicht eher mit der Metropole Cures im Sabinerland in Verbindung? Auch dieser Widerspruch löst sich auf, da der Name der Stadt auf dieselbe etymologische Wurzel zurückzuführen ist.29
Das Hauptheiligtum des Gottes stand auf dem Gipfel jenes römischen Hügels, der seinen Namen trug: dem Quirinal. Denn dort, gegenüber dem Palatin, der durch das Ritual der allerersten Furche bereits sakralen Status genoss, hatten sich die Neuankömmlinge aus dem Sabinerland als Erste angesiedelt und sich, bestrebt, Teil der römischen Gesellschaft zu werden, der Jurisdiktion des Kurien-Gottes unterstellt. Im Inneren garantierte Quirinus allen ins Kurien-System integrierten Römern gemeinschaftlichen Zusammenhalt bei privaten Rechtsstreitigkeiten – das auf dem Comitium geltend gemachte ‚Recht der Quiriten‘ –, während er nach außen hin durch seinen wachsamen Schutz einen wehrhaften Frieden sicherte, der stets Rom zum Vorteil gereichte. Damit war Quirinus keineswegs, wie der Komparatist Georges Dumézil behauptete, eine agrarische Gottheit, die Wohlstand und Überfluss verkörperte, sondern vielmehr der eminent städtische und römische Gott der Gemeinschaft der Kurien.30 Und dass es davon ausgerechnet dreißig gab, war natürlich kein Zufall! Diese Struktur war nicht das ungeplante Ergebnis einer kaum merklichen Entwicklung, sondern zum einen Ausdruck des expliziten Willens, den alten, aus dreißig Stämmen bestehenden Latinerbund nachzuahmen, und damit zum anderen die Folge einer bewussten Entscheidung des oder der Anführer der neuen Gemeinschaft31 – eine Entscheidung, deren konkrete Umsetzung im städtischen Raum sich in der Errichtung des Heiligtums der Vesta sowie in der Gestaltung des Comitium und später eines öffentlichen Platzes auf dem Forum äußerte. Natürlich fiel diese Umsetzung nicht mit der Entscheidung zusammen, sie wird vielmehr eine gewisse Zeit erfordert haben und nicht in allen Einzelheiten von Anfang an geplant gewesen sein. Die Anhebung der Talsohle und die erste Pflasterung des Bodens wurden, wie wir gesehen haben, erst eine, wenn nicht gar zwei Generationen nach der sakralen Begrenzung der palatinischen Urbs und der ursprünglichen Anlage des Comitium fertiggestellt. Und womöglich spiegelte das kollektive Gedächtnis der Römer diesen Umstand wider: Zwar datierte es die Gründung der Urbs in die Mitte des achten Jahrhunderts vor unserer Zeitrechnung, doch es existierte auch eine abweichende Überlieferung, die sie eine Generation später ansetzte, was mit der Eröffnung des ersten Platzes auf dem Forum Romanum zusammenfallen könnte.32
Wie viele Einwohner zählte die neue Stadt zu diesem Zeitpunkt? Zweifellos kaum mehr als einige Tausend. Obwohl eine Schätzung nahezu unmöglich ist, könnte man, wenn man aufgrund einiger recht überzeugender Indizien davon ausgeht, dass die Armee dieses ersten Roms eine Truppenstärke von 3000 Fußsoldaten und weiteren 300 in der Reiterei aufwies, auf eine Gesamtbevölkerung, Frauen und Kinder inbegriffen, von mindestens 10.000 Personen schließen.33 Diese Schätzung ist umso ungewisser, als die Situation nicht gefestigt war, sondern sich sehr schnell entwickelte. Trotzdem liegt sie, in Anbetracht der künftigen Geschichte der Urbs, recht niedrig, wenngleich sie einigen modernen Kommentatoren immer noch zu hoch gegriffen erscheint … Aber würde man schlussfolgern, nur weil ein Kind noch nicht seine endgültige Größe erreicht hat, es könne kein menschliches Wesen sein?
Im achten Jahrhundert v. Chr. im Heiligtum der Vesta entzündet, brannte die Flamme der städtischen Einheit Roms von nun an in der zentralen Senke, wo sie, bis auf sehr wenige Ausnahmen, nicht mehr verlöschen sollte. Burg und Heiligtümer, öffentlicher Platz, Königspalast, ewiges Feuer: Ja, dieses erste Rom wies bereits alle Merkmale einer städtischen Identität auf. Sehen wir nun, wie diese Stadt lebte und gedieh.