Читать книгу Prinzessin Mymra: Novellen und Träume - Alexei Remisow - Страница 5

1

Оглавление

Inhaltsverzeichnis

Eine Kuh fraß am Eliastage dem Petka ein Fünfzehnkopekenstück auf.

Als die Großmutter von der Abendmesse heimgekommen war, hatte sie vor dem Schlafengehen dem Knaben eine silberne Münze, ein Fünfzehnkopekenstück, zum Vernaschen geschenkt.

Am Tage des heiligen Elias schreitet eine Prozession aus dem Kreml zur Eliaskirche auf dem Woronzow-Felde, eine lange Prozession mit uralten Kreuzen, von vielen Gendarmen zu Pferde begleitet. Nach der Messe findet im Garten und auf dem Platz vor der Kirche unter den Kirchenfahnen ein Volksfest statt; es werden dabei Kwaß, Spielzeug, Stachelbeeren, Birnen und Eis feilgeboten. Petka war ein großer Liebhaber von Stachelbeeren und aß leidenschaftlich gern Eis; seine Freude über das Fünfzehnkopekenstück war also wirklich groß. Während der ganzen Nacht behielt er die Münze in der Hand.

Als die Großmutter aus der Kirche des heiligen Nikola Kobylski heimkehrte, war Petka schon auf: er hatte den Samowar instand gesetzt, seine Schuhe gewichst und sich fein herausgeputzt; fertig zum Ausgehen, stand er da. Und wie oft hatte der unruhige Geist schon in Erwartung der Großmutter die Mütze aufprobiert! Petka hatte eine Mütze mit lackledernem Schirm; früher hatte er einen Strohhut getragen, als er aber Schüler einer Städtischen Schule geworden war, hatte ihm die Großmutter diese Mütze gekauft. Er hat seinen Gürtel, der ebenfalls aus Lackleder ist, ins letzte Loch geschnallt und sich seine schwarze Tuchbluse mit den beiden Silberknöpfen am Kragen zurechtgezupft; bloß mit der Hose ist es nicht weit her: die Drillichhose ist zwar rein gewaschen — Großmutter selbst hat sie gewaschen und gebügelt —, aber sie ist zu kurz: von den Waden ist ein etwa zwei Finger breites Stück zu sehen; Petka wächst aber noch, und die Hose ist in der Wäsche eingelaufen.

»Ich habe dir den Samowar in einem Nu zurechtgemacht, Großmutter!« begrüßt Petka die Großmutter, auf einem Bein hüpfend.

»Du bist ein gescheiter Junge, Petuschok!« Großmutter ist nach dem Gottesdienst müde und freut sich auf den Tee.

Wenn die Großmutter selbst den Samowar instand setzte, brauchte sie immer furchtbar viel Zeit dazu — so kam es Petka wenigstens vor. Sie pflegte erst die Asche auszuschütten, dann ein wenig Kohle hineinzutun, auf die Kohle einige Holzspäne zu streuen und, wenn die Kohle zu knistern anfing, noch einige Kohlen nachzulegen; das machte sie wohl zweimal. Petka schüttete aber nie die Asche aus, sondern stopfte den Samowar gleich mit Kohle voll, zündete einige Späne an, legte noch etwas Kohle auf, und der Samowar begann sofort, so schien es ihm wenigstens, zu summen.

»Du bist ein gescheiter Junge!« wiederholte die Großmutter. Sie freute sich, daß der Samowar auf dem Tisch stand und summte und daß sie jetzt in aller Ruhe ihren Tee trinken und vor der Prozession noch etwas ausruhen konnte.

Großmutter war gottesfürchtig und eine eifrige Kirchgängerin; sie versäumte keinen einzigen Gottesdienst, und wenn es beim Nikola Kobylski eine Leiche gab, so ging sie hin und wohnte auch mit einer Kerze in der Hand der Totenmesse bei; sie ging auch mit Petka bei allen Prozessionen mit.

Großmutter setzte sich an den Teetisch, aber ehe sie noch ein Stückchen geweihtes Brot zerkauen konnte, fing Petka schon zu drängen an: sie wollten sofort aufbrechen, um der Prozession entgegenzugehen.

Aber es sei noch viel zu früh! Die Prozession habe gewiß noch nicht den Kreml verlassen; die Leute sammelten sich wohl erst; die Hausmeister ständen noch gar nicht am Morosowschen Gitterzaun, sie säßen wohl noch in der warmen Stube und tränken Tee.

Großmutter und Petka pflegten die Prozession in der Wedenskaja-Gasse, auf dem Morosowschen Zaune stehend, zu erwarten. Sie machten es sehr einfach: zuerst kletterte Petka hinauf und dann die Großmutter; der Alten fiel es zwar recht schwer, auf den Zaun hinaufzuklettern, aber sie konnte von dort aus besser sehen und lief auch nicht Gefahr, zertreten zu werden.

»Wenn du nicht gehst, geh ich allein!« Petka setzte seine Mütze mit dem Lacklederschirm auf und stand schon an der Tür.

Großmutter hatte Angst, Petka allein gehen zu lassen; sie meinte, man könne ihn im Gedränge leicht zertreten.

»Man wird dich zertreten, Petuschok.«

»Nein, Großmutter, man wird mich nicht zertreten. Mir hat im vorigen Jahr das Pferd eines Gendarmen mit dem Huf auf eine Zehe getreten, das hat schrecklich weh getan! Und doch hat es mir nichts geschadet. Großmutter, jetzt gehe ich!«

Großmutter hat Angst und ist zugleich gekränkt: sie gingen doch jedes Jahr zusammen hin — Petka voraus und hinter ihm die Großmutter in ihrem alten Umhang, mit dem Sonnenschirm in der Hand; Großmutter spannte ihren Schirm niemals in der Sonne auf und hielt ihn nicht am Griff, sondern stets an der Spitze, so daß der Griff die Erde berührte. Sie will Petka nicht allein gehen lassen; und sie will noch etwas ausruhen und gemächlich ihren Tee trinken!

Was ist da zu machen? Der Junge läßt sich nicht halten!

Petka geht allein fort.

Der Morgen ist schön kühl, der Tag wird nicht so heiß werden. Ob Petka vom lieben Gott einen so herrlichen Tag erfleht oder der heilige Prophet Elias, dem das Fest gilt, seinen Segen gegeben hat — die Leute werden es in der Prozession gut haben, die goldgestickten Kirchenfahnen werden funkeln, die Priester werden leichten und trockenen Fußes gehen, und auch die Chorsänger werden es angenehm haben.

Petka ging, sein Fünfzehnkopekenstück fest in der Faust haltend, auf den Flur hinaus; viel Stachelbeeren, rote, behaarte Stachelbeeren wollte er sich dafür kaufen und außerdem für fünf Kopeken Schokoladeneis verspeisen. Petka lauschte; irgendwo läuteten die Glocken, aber es war noch sehr weit. Die Prozession hatte wohl eben erst den Kreml verlassen, und man läutete in den Kirchen, an denen sie vorüberzog.

›Man läutet erst in der Iljinka oder in der Marossejka bei Nikola — es ist ein schönes Läuten!‹ dachte Petka. Und da erblickte er plötzlich eine Kuh.

Auf dem Hofe spazierte die Kuh des Diakons, eine schöne, wohlgenährte, rote Kuh.

Petka freute sich jedesmal, wenn er die Milchkuh des Diakons sah, das ›Braunchen‹, wie Großmutter sie zu nennen pflegte.

»Guten Tag, Braunchen!« Petka kam hüpfend näher und streckte seine Hand aus, um die Kuh zu streicheln . . . Das Geldstück funkelte in der Sonne, das Fünfzehnkopekenstück fiel ihm aus der Hand, die Kuh leckte es mit der Zunge auf, stieß einmal auf und verschluckte es.

Kurz und gut — weg war es.

Petka suchte auf dem Rasen und zwischen den Steinchen, ging einige Male um die Kuh herum, stand einen Augenblick still und wartete, ob die Münze nicht wieder zum Vorschein käme . . . Nein, verschwunden war sein silbernes Geldstück, das Braunchen hatte es gefressen, es hatte ihm das Fünfzehnkopekenstück, das er zum Eliastage bekommen, weggenommen.

Mit leeren Händen ging nun Petka zur Eliaskirche.

Sollte er umkehren und der Großmutter alles erzählen? Großmutter würde wohl sagen: »Wolltest mir nicht folgen, bist allein gegangen, darum hat es dir die Kuh gefressen!« Und sie würde ihm nie wieder eine Silbermünze schenken. Sie würde noch sagen: »Was soll man auch so einem Schlingel Geld schenken? Das frißt ja doch die Kuh!« Nein, es ist doch besser, der Großmutter nichts zu sagen. Und die Stachelbeeren und das Schokoladeneis? Nun, er wird sich eben ohne Stachelbeeren und ohne Eis behelfen müssen. Und wenn Großmutter etwas merkt? Sie wird eben nichts merken. Er wird der Großmutter sagen, daß er einen ganzen Zentner Stachelbeeren und hundert Portionen Eis gegessen hat . . . Und wenn Großmutter es nicht glaubt? Sie wird es wohl glauben müssen! Die Stachelbeeren sind ja billig — spottbillig sind sie, sagt Großmutter selbst. Und was ist auch dabei? Er hat eben einen ganzen Zentner Stachelbeeren gekauft und aufgegessen: er hat Geld genug gehabt, es sind ja nicht fünf, sondern fünfzehn Kopeken gewesen! Aber er hat kein Fünfzehnkopekenstück mehr: die Kuh hat es aufgefressen!

»Was bist du für eine Kuh!« sagte Petka vorwurfsvoll zu seinem geliebten Braunchen. »Warum hast du das Geld gefressen? Die Stachelbeeren sind so schön rot und behaart, und das Schokoladeneis schmeckt so herrlich . . . hundert Portionen!«

Petka dachte im Gehen immer an sein Fünfzehnkopekenstück, das unwiederbringlich verloren war. Es gab nur noch eine Möglichkeit: Großmutter alles zu gestehen. Sie wird ihm dann vielleicht ein neues geben. Aber wo sollte Großmutter eines hernehmen? Das Geld wächst nicht auf der Straße, pflegt Großmutter zu sagen. Sie hat ja auch nur ein paar Silbermünzen; Kopekenstücke hat sie genug . . . Petka ging am Kursker Bahnhof und an dem verwahrlosten Rjabowschen Hause, wo, wie er glaubte, die goldenen Zimmer immer leer und unbewohnt standen, vorbei. Er ging zur Eliaskirche auf dem Woronzow-Feld.

Die ganze Wedenskaja-Gasse war mit Gras belegt, das ganze Pflaster mit frischgemähtem Gras bestreut. Da war Gras von den Chludows dabei, und von den Naidjonows und von Myslin, und wie alle die reichen Gemeindemitglieder sonst noch hießen. Die Füße glitten im Grase aus, und Petka brachte es fertig, sich ein paar grüne Grasflecke auf seine Hose zu machen. Im Gras lagen auch vereinzelte Blumen, und die Blumen dufteten nach Wiesen und brachten ihm die Wallfahrten in Erinnerung. Petka unternahm jeden Sommer mit seiner Großmutter Wallfahrten. Petka dachte nicht mehr an das aufgefressene Fünfzehnkopekenstück und schloß die Augen: ganz klar, ganz deutlich fühlte er die Erde und das Gras unter seinen Füßen; er fühlte sich plötzlich in die Gegend von Swenigorod versetzt, auf einen Feldweg, wo Glockenblumen blühen, auf einen Waldweg, wo der Kuckuck ruft, zum Sawwa-Kloster zum Nikola-Ugrjescha, und vom Nikola-Ugrjescha zum Troiza-Sergius-Kloster.

Die Leute eilten schon zur Kirche; andere blieben auf dem Bürgersteig und suchten sich ein Plätzchen, wo sie bequem stehen und zusehen konnten. Das Läuten klang immer näher, es schien schon aus der nächsten Nähe, von der Troiza-Grjasi-Kirche zu kommen. Nein, Petka hatte sich getäuscht, es war noch sehr weit: man läutete erst bei Kosmas und Damian.

Auf dem Morosowschen Zaun stand noch niemand. Vor dem Tore waren nur die Hausmeister versammelt, unter ihnen der Morosowsche Kutscher in einer Plüschweste, das schwarze Haar mit Butter eingefettet. Auch Petka wird sich einmal, wenn er groß ist, das Haar mit Butter einfetten, und es wird dann ebenso schön schwarz sein wie das Haar des Morosowschen Kutschers; jetzt aber benetzte es ihm Großmutter, wenn er aus der Badestube heimkommt, mit Kwaß.

Petka kletterte auf den Zaun hinauf und hielt Ausschau nach der Prozession und der Großmutter.

›Es wird sich schon irgendwo auf dem Hofe finden‹, dachte er ab und zu an sein unglückseliges Geldstück. ›Es kann gar nicht verlorengehen!‹

Vom Geld kamen seine Gedanken wieder auf die Prozession, und er horchte, in welcher Kirche gerade geläutet wurde; von der Prozession kamen sie auf den Morosowschen Kutscher, vom Kutscher auf das Gras und die Wallfahrten; so schweiften die flüchtigen Gedanken des kleinen Petka, des Petuschok,1) wie Großmutter den Jungen zu nennen pflegte.

Nun kam auch Großmutter mit ihrem Sonnenschirm an; sie kletterte auf den Zaun hinauf, die Glocken der Kirche zur Mariä Opferung in den Baraschi begannen zu läuten, die Prozession kam immer näher, die schweren Kirchenfahnen erstrahlten in goldenem Glanz, dann läutete es in der Eliaskirche, und Petka war vollkommen getröstet.

›Großmutter wird mir ein anderes Geldstück schenken, und wenn sie mir keines schenkt, so werde ich auch ohne Eis und Stachelbeeren satt werden.‹

Prinzessin Mymra: Novellen und Träume

Подняться наверх