Читать книгу Prinzessin Mymra: Novellen und Träume - Alexei Remisow - Страница 6

2

Оглавление

Inhaltsverzeichnis

Großmutter hatte niemand außer Petka. Petka ist ihr Großneffe, der Sohn ihres Neffen, aber sie nennt ihn Enkel. Der Neffe ist gänzlich heruntergekommen: er war früher einmal Parkettwichser gewesen, hatte sich etwas zuschulden kommen lassen, trieb sich lange Zeit arbeitslos in Moskau herum, bekam endlich eine Anstellung in einer Bierhalle, blieb dort nur einen Winter lang, gab diese Stellung auf und wurde Arbeiter in den Goujon-Werken; er verließ auch diese Stellung und geriet schließlich unter das lichtscheue Gesindel, das den Chitrowka-Markt bevölkert. Er besuchte, wenn auch nur selten und meistens betrunken, die Großmutter, um sie um Geld zu bitten. Großmutter hatte vor dem Neffen große Angst und nannte ihn ›den Räuber‹.

Petka wohnt mit der Großmutter in einer Kellerstube auf dem Semljanoj-Wall, in der Nähe der Kirche des heiligen Nikola Kobylski. Als Großmutter noch bei Kräften gewesen war, hatte sie nie müßig dagesessen und über nichts zu klagen gehabt; die Nachbarn sagten, sie brauche sich nie ohne Weißbrot zu Tisch zu setzen. Nun aber sind ihre Augen schwach, und sie kann nicht mehr arbeiten. Großmutter ist auch schon bei Jahren: sie war sechs Jahre alt, als man die Leiche des Kaisers Alexander Pawlowitsch aus Taganrog über Moskau überführte: so alt ist sie also schon! Gute Menschen unterstützen sie ab und zu, und sie bekam auch einen monatlichen Zuschuß von der Armenpflege; ihr Petka aber wurde in eine Städtische Schule aufgenommen. Auf dem Semljanoj-Wall kennt jedermann die Großmutter Iljinischna Sundukow; auch auf dem Woronzow-Feld und in den Syromjatniki ist sie gut bekannt. Mit Mühe und Not schlägt sie sich mit ihrem Petka durch.

Ihre Kellerstube ist sehr klein. Vor ihr wohnten zwei alte Frauen darin, mit Namen Smetanin, die ebenso gottesfürchtig waren wie die Großmutter. Als die Smetanins starben, mietete Großmutter mit Petka die Kellerstube. Großmutter hat früher ein anderes, größeres Zimmer gehabt, in dem jetzt Stubenmaler wohnen.

Großmutters Zimmer ist vollgepfropft. Es steht eine Kommode darin, die vor Alter eine Art Geheimkommode geworden ist: die mittlere Schublade läßt sich nicht mehr ganz herausziehen: man kann sie nur von rechts und auch nur einen Fingerbreit herausschieben. In dieser Schublade — davon weiß aber nur die Großmutter allein — sind ein silberner Teeglasuntersatz mit Weintraubenmuster und zwei silberne Löffel mit Blumengravierung und schwarzem Email an den Stielen verwahrt: das alles ist Petkas Eigentum, das er nach Großmutters Tode erben wird. Großmutter hat auch einen Kleiderschrank, gleichfalls mit einem geheimen Trick: du kannst die Tür zwar aufmachen, hast aber gleich die ganze Bescherung, denn die Tür fällt sofort ganz heraus: nur Großmutter allein versteht es, in ein bestimmtes Loch einen Stift hineinzustecken, so daß die Tür auf den richtigen Platz kommt und der Schrank sich wieder schließen läßt. Großmutter besitzt auch noch einen kleinen eichenen eisenbeschlagenen Koffer, in dem sie ein Hemd, ein Leichentuch, ein Paar Pantoffeln ohne Absätze und ein Stück Leinwand verwahrt: das alles bleibt für ihre Leiche aufgespart. Als man einmal im Herbst auf dem Hof Kraut schnitt, stopfte Petka in diese Truhe Kohlstrünke hinein: der Schlingel glaubte, es würde Großmutter Freude machen, wenn sie im Jenseits von den Kohlstrünken naschen könnte. Ein kleines Sofa steht auch noch da: von außen betrachtet, ist es noch ganz anständig, wenn man sich aber ungeschickt draufsetzt, so stößt man sich an einer Holzleiste. Im Winkel steht ein Heiligenschrein mit drei Abteilungen. Zuoberst hängen mehrere geweihte Bildchen von den Wallfahrtsorten und noch allerlei andere Bildchen und Messingkreuze. Darunter steht die Ikone ›Die Moskauer Wundertäter‹: Maxim der Selige, Wassili der Selige und Johannes der Narr in Christo stehen nebeneinander — Wassili nackt, Maxim mit einem Schurz und Johannes in einem weißen Gewand —, die Arme im Gebet ausgestreckt, vor dem Moskauer Kreml; über dem Kreml ist die heilige Dreifaltigkeit dargestellt, und über den Heiligen ein dunkler Wald, die ›Mutter-Einöde‹ mit zerklüfteten Bergen, Bergen, die wie Zungen aussehen: Petka hält sie für Feuerberge. Es ist eine uralte Ikone. Daneben steht eine zweite auf Goldgrund gemalte Ikone: ›Die vier Marienfeste‹. Sie stellt die vier Muttergottesfeste dar: Maria Schutz und Fürbitte, Aller Leidenden Freude, Mariä Erscheinung und die Muttergottes von Achtyrka. Das Bild fällt fast auseinander, so alt ist es. Unter dem Heiligenschrein liegen drei Knäuel: ein Knäuel Stricke, ein Knäuel Bindfaden und ein Knäuel bunter Schnüre: während vieler Jahre hat Großmutter sie aufgespart. Schließlich existiert noch eine Truthenne — das ist ihre ganze Habe.

Großmutter gibt Petka sein Essen und denkt auch an die Truthenne. Die Truthenne wohnt auf dem Hof in einem kleinen Schuppen, der Schuppen steht neben dem Kuhstall; die Truthenne stirbt langsam dahin und ist schon so alt wie die Großmutter. Großmutters ›Herr Jesus‹ kann sie zwar nicht nachsprechen, versteht aber anscheinend sonst alles: in ihrem langen Leben hat sie alles gelernt, alles erfaßt.

Als Petka klein war, hatte er vor der Truthenne Angst; aber mit den Jahren gewöhnte er sich an sie und liebte es, sie anzuschauen: er pflegte sich im Schuppen vor ihr hinzukauern und sie zu betrachten; ihn interessierte ihr Kopf, der ganz rosa und mit vielen kleinen rosa Warzen besät war. Die Truthenne stand vor ihm, blies sich auf und kauerte sich hin. Und so kauerten sie beide: Petka und die Truthenne.

Die Hühner des Diakons haben Hähnchen, die Katze Puschok hat Kätzchen, aber die Truthenne hat nichts — wie kommt das? fragte sich Petka mehr als einmal.

Auch die Großmutter sagte manchmal nachdenklich vor sich hin:

»Wenn Gott der Truthenne ein Ei schenken wollte, so gäbe es Hähnchen!«

›Alles kommt vom Ei, wenn Gott der Truthenne ein Ei schenkt, so gibt es Hähnchen!‹ sagte sich auch Petka.

»Großmutter, und wenn Gott der Truthenne wirklich ein Ei schenkt?«

»Gott geb’s!«

»Was geschieht dann weiter?« prüfte der kluge Petka die Großmutter.

»Dann setzt sie sich hin.«

»Wie setzt sie sich hin, Großmutter?«

»Auf das Ei setzt sie sich, Petuschok. So macht sie das.« Großmutter kauerte hin wie die Truthenne. »Einundzwanzig Tage, das sind genau drei Wochen, sitzt sie darauf; nur wenn sie fressen muß, steht sie auf und das auch nur jeden zweiten oder dritten Tag. Und dann kommt ein Truthähnchen heraus.«

»Großmutter, wo werden wir das Hähnchen hintun?«

»Es wird bei uns wohnen.«

»Großmutter, wir werden es in einen Käfig tun, und es wird wie eine Nachtigall singen, ja, Großmutter?«

»Ja, Petuschok, es wird ein kleines Hähnchen sein, ganz gelb, mit einem Schöpfchen.«

»Großmutter, wir werden uns einen Luftballon machen und fliegen. Ja, Großmutter?«

»Was fällt dir ein, Petuschok!«

»Wir werden fliegen, Großmutter, wir werden mit dem Hähnchen in dem Luftballon wohnen. Ja?«

Großmutter schwieg eine lange Weile. Petka glotzte aber über die Großmutter hinweg und sah wohl bereits im Geiste den Luftballon, in dem sie wohnen würden: er, das Hähnchen und die Großmutter.

»Ich bin damit nicht einverstanden«, sagte die Großmutter. »Ich will hier unten sterben, auf dem Luftballon mag ich nicht sterben.«

»Großmutter«, Petka dachte nur an seine Sachen und hörte die Großmutter nicht. »Alles kommt doch vom Ei?«

»Möge Gott ihr doch eins schenken!« Großmutter wollte so schrecklich gern, daß die Truthenne legte, und sie dachte an das Hähnchen mit derselben Sehnsucht wie Petka.

Petka hatte das Geldstück vom Eliastage vergessen und machte der Kuh keine Vorwürfe mehr, weil sie es gefressen hatte; er brauchte kein Geldstück mehr, er brauchte nur das kalikutische Hähnchen. Aber wo sollte er ein Ei hernehmen, wie könnte er es einrichten, daß Gott der Truthenne ein Ei schenkt, aus dem alles kommt, aus dem auch ein Truthähnchen kommt?

›Ich könnte ja ein Ei vom Diakon nehmen und es unter die Truthenne legen‹, überlegte sich Petka. ›Der Diakon hat viele Hühner, und seine Hühner legen viele Eier . . . Und man braucht ja doch nur ein einziges Ei! Wenn er es aber merkt? Seine Eier sind ja alle gezeichnet!‹ Petka hatte schon in des Diakons Kiste hineingeschaut. ›Datum und Monat sind auf jedem Ei verzeichnet, man wird es merken, und dann stehe ich als Dieb da. Und als Dieb werde ich auf den Chitrowka-Markt gehen müssen. Und Großmutter? Wie wird sie ohne mich leben?‹ — ›Ich lebe nur für dich, Petuschok, sonst wäre es für mich längst Zeit zu sterben!‹ — pflegt Großmutter zu sagen. ›Nein, vom Diakon will ich nichts nehmen. Aber wie kann ich mir ein Ei verschaffen? Ich brauche ja nur ein einziges!‹

Ein Zufall kam Petka zu Hilfe. Großmutter wollte einmal ihrem Petuschok eine Freude machen und ihn mit Spiegeleiern traktieren. Und sie schickte Petka zum Kaufmann, um drei Eier zu kaufen. Petka brachte bloß zwei Eier mit: das dritte versteckte er und sagte der Großmutter, er habe es zerbrochen.

»Da hast du es, Petuschok: die Kuh hat dir das Geldstück gefressen, und das Ei hast du zerbrochen!« Das zerbrochene Ei tat der Großmutter furchtbar leid.

Petka hätte wohl sonst die Eierspeise vor Ärger gar nicht angerührt; aber jetzt, wo er in seiner Tasche das Ei liegen hatte, aus dem alles kommt, aus dem auch ein Hähnchen kommen konnte, machte er sich nicht viel daraus: soll nur Großmutter sagen, was sie will. Er verzehrte schnell sein Spiegelei, wischte sich nicht einmal den Mund ab und lief in den Schuppen zu der Truthenne. Er legte ihr das Ei unter den Schwanz und wartete der Dinge, die da kommen sollten. Die Truthenne sah aber gar nicht hin, als wenn da gar kein Ei läge, und dachte gar nicht daran, sich draufzusetzen.

Was ist denn das? Und wenn sie sich nicht hinsetzt?

»Setz dich, Truthenne, setz dich, bitte!« Petka kauerte hin, starrte auf die rosa Warzen der Truthenne und verharrte so, ohne zu atmen, ohne sich zu regen, von dem einen hartnäckigen Gedanken, dem einen heißen Wunsch, der einen Bitte beseelt: »Setz dich doch, Truthenne, setz dich, bitte!«

Die Truthenne blies sich auf und setzte sich auf das Ei, ja, ganz genau auf das Ei.

Und Petka kauerte noch lange vor ihr, wandte keinen Blick von der Truthenne, von dem einen hartnäckigen Gedanken, von dem einen heißen Wunsch beseelt . . .

Die Truthenne saß ruhig und fest auf dem Hühnerei.

Petka erhob sich leise, ging aus dem Schuppen und lief von hinten herum zu einem Spalt in der Wand. Er blieb am Spalt kleben: die Truthenne saß ruhig und fest auf dem Hühnerei.

Sollte er es der Großmutter sagen? Nein, Großmutter wird es schon selber sehen. Wie wird sie sich freuen, wenn sie die Truthenne auf dem Ei sitzen sieht!

Petka stand den ganzen Tag Wache am Spalt: er paßte auf die Truthenne auf und wartete auf die Großmutter. Großmutter kam in den Schuppen, um der Truthenne ihr Futter zu geben.

»Gepriesen sei der Schöpfer!« flüsterte die Alte. Sie bekreuzigte sich, sie trippelte aufgeregt umher, sie traute ihren Augen nicht, sie konnte es einfach nicht begreifen: die Truthenne hatte ein Ei gelegt, die Truthenne saß auf einem Ei!

Am Abend nach diesem langen, wundervollen Tage legte sich Petka schlafen, auch Großmutter ging zu Bett. Petka drehte sich hin und her und konnte nicht einschlafen: er wartete immer, daß Großmutter etwas von der Truthenne sagen werde. Auch Großmutter wälzte sich immer von der einen Seite auf die andere: sie hatte große Lust, von der Neuigkeit zu sprechen, fürchtete aber, das Glück zu berufen.

Lange beherrschte sich die Alte, hielt es aber schließlich doch nicht aus. »Petuschok!« rief die Großmutter.

»Großmutter!« Der Schlingel begriff sofort, um was es sich handelte. Er tat aber so, als ob er ihr aus dem Schlafe antwortete.

»Du schläfst noch nicht, Petuschok?«

»Was willst du, Großmutter?«

»Der liebe Gott hat uns seine Gnade erwiesen!« Großmutter fing sogar zu lachen an und keuchte vor Freude. »Ein Ei! Die Truthenne sitzt . . .«

»Sie sitzt, Großmutter?«

»Ja, Petuschok, sie sitzt . . .« Großmutter sagte es mit schwacher Stimme und bekam einen Hustenanfall.

»O Großmutter, wir werden jetzt einen Truthahn haben, ein Hähnchen?«

»Ein Truthähnchen, ein kalikutisches Hähnchen«, flüsterte die Großmutter, als ob im kalikutischen Hähnchen das ganze Geheimnis, das ganze Glück von ihrem und Petkas Leben läge.

»Wird es bei uns wohnen?«

»Gewiß, Petuschok, wo denn sonst?«

»Wir werden es doch nicht aufessen, Großmutter?«

Großmutter antwortete nicht mehr, Großmutter war schon eingeschlafen, beglückt und erfreut durch die göttliche Gnade, durch den Gedanken an das kalikutische Hähnchen, das nach einundzwanzig Tagen aus dem Hühnerei kommen sollte.

Das Öllämpchen flackerte leise vor den Bildchen und Kreuzchen, vor den ›Vier Marienfesten‹: Maria Schutz und Fürbitte, Aller Leidenden Freude, der Muttergottes von Achtyrka und Mariä Erscheinung — und vor den ›Moskauer Wundertätern‹: Maxim dem Seligen, Wassili dem Seligen und Johannes dem Narren in Christo. Die Berge der ›Mutter-Einöde‹ glühten im Lichte der Nachtlampen rot und schnitten sich wie mit Flammenzungen in den Moskauer Kreml hinein.

»Großmutter, ich werde das Hähnchen lieben!« Petka-Petuschok, Großmutters Hähnchen, schlief mit diesen Worten ein.

Jeden Tag, ganz gleich, ob es nötig war oder nicht, schaute Großmutter in den Schuppen nach der Truthenne; sie dankte jedesmal Gott für die ihr erwiesene Gnade und zählte die Tage. Auch Petka zählte die Tage und war nicht weniger aufgeregt als die Großmutter; er ließ seinen Drachen nicht mehr steigen, dachte nicht mehr an seine Schlangenklapper und vergaß, daß er das Ei selbst unter die Truthenne gelegt hatte: er glaubte an das Hühnerei, als ob es ein echtes, von der Truthenne selbst gelegtes Ei wäre. Die Truthenne, die sich gegen jede Truthennensitte so unzeitgemäß auf das Ei gesetzt hatte, saß auf dem Hühnerei ruhig und fest und dachte gar nicht daran, aufzustehen und im Schuppen spazierenzugehen. Kam es daher, daß sie, seit sie auf der Welt war, bis in ihr tiefes Alter hinein, noch niemals gelegt und keine Ahnung von Eiern, weder von eigenen noch von Hühnereiern hatte? Oder daher, daß Petka durch seinen Willen wirkte oder Großmutters Gebet Gehör gefunden hatte — jedenfalls entbrannte in ihr die Brutlust wie bei einer richtigen Glucke, und die rosa Warzen auf ihrem Kopfe wurden immer blasser.

Und so vergingen zwanzig Tage und ein Tag.

Petka konnte nicht mehr schlafen: »Und wenn kein Hähnchen herauskommt, wenn es ein taubes Ei ist?« Wie konnte er auch schlafen? Jeden Morgen, sobald es tagte, lief er in den Schuppen, nach der Truthenne zu sehen.

»Petuschok kommt gegangen, hat die Sonne eingefangen!« sang Petka, auf einem Beine hüpfend. Draußen im Schuppen und auch in Großmutters Stube hauchte er das Hähnchen mit seinem warmen Atem an, als ob im Hähnchen das ganze Geheimnis, das ganze Glück von seinem und Großmutters Leben läge.

»Gelobet seist du, Herr! Gepriesen sei dein Langmut!« Großmutter konnte sich vor Freude kaum auf den Beinen halten.

Prinzessin Mymra: Novellen und Träume

Подняться наверх