Читать книгу Prinzessin Mymra: Novellen und Träume - Alexei Remisow - Страница 7
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ОглавлениеDer Herbst fiel in jenem Jahre trocken und warm aus. Die Sonne schien zwar nur wenige Stunden am Tage, befiederte aber doch das kalikutische Hähnchen: es wuchs heran, krähte mit heiserer Stimme, tat sehr vornehm, fiel über die im Frühjahr zur Welt gekommenen Hähne des Diakons her und raufte mit ihnen wie ein richtiger Hahn. Alle Anzeichen sprachen dafür, daß es einen spitzen, hellroten Kamm, kräftige Sporen und eine laute Stimme haben würde: es war eben ein echtes kalikutisches Hähnchen!
Nicht die Truthenne — wie sollte sie auch? — die Truthenne starb langsam dahin —, sondern die Großmutter pflegte das Hähnchen, und als die warmen Tage von kalten abgelöst wurden, nahm sie es aus dem Schuppen in die Stube. Großmutter wird Petkas Glück wohl bewachen, sie wird das Hähnchen großziehen, so wie sie Petka großgezogen und sich ihr Glück für ihre alten Tage erhalten hat.
Zugleich mit der Kälte und der Oktobernässe brach eine unruhige Zeit an, die denkwürdigen Tage der Volksopfer und der Freiheit.
Daß auf den Hauptstraßen das elektrische Licht nicht mehr brannte und ganz in der Nähe auf dem Kursker Bahnhof die blank geputzten Lokomotiven unbeweglich dastanden und froren; daß die schrecklichen roten Schlote der Goujon-Werke in der Pokrowka-Vorstadt nicht mehr qualmten und am Himmel hinter dem Androni-Kloster kein Feuerschein bebte — das alles hätte doch, könnte man meinen, auf Großmutter in ihrer Kellerstube nicht den geringsten Eindruck machen sollen: Großmutter brauchte kein elektrisches Licht, sie ging abends nie aus, beabsichtigte nicht zu verreisen und hatte auch mit den Goujon-Werken nicht das geringste zu schaffen. Großmutter wohnte aber in ihrem Keller nicht allein: ihre Nachbarn, lauter einfache Arbeiter, waren mit einer festen Kette an die roten Schlote der Goujon-Werke wie auch an die blanken Kursker Lokomotiven gebunden; der Umstand, daß die Schlote nicht mehr qualmten und die Lokomotiven stillstanden, hatte sie aus ihrer Arbeitsbahn geschleudert, ihr ganzes arbeitsvolles Leben auf den Kopf gestellt, die Erde erschüttert und ihre Tage zu Tagen des jüngsten Gerichts gemacht. Das Gefühl, das die Straßen ergriffen hatte und in das Leben und die Gedanken des Alltags als ein Weltuntergang eingedrungen war, das sich von Vorstadt zu Vorstadt, von Straße zu Straße, von Gäßchen zu Gäßchen, von Sackgasse zu Sackgasse, von Fabrik zu Fabrik, von Keller zu Keller als die dunkle Vorahnung einer schweren Not fortpflanzte, hatte auch die greise Seele der Großmutter an der Schwelle ihres Todes erfaßt.
Der auf dem Chitrowka-Markt fast gänzlich verschollene Neffe der Großmutter, der ›Räuber‹, erschien eines Tages wieder in Großmutters Kellerwohnung bei der Kirche des heiligen Nikola Kobylski.
Sein von Rheumatismus gekrümmter Arm, seine Nase, die wie drei Nasen übereinander aussah — (es kam von der Elephantiasis), der schwarze abgetragene Überzieher, unter dem er nichts als die ganz zerfetzte, ungewaschene, vor Schmutz steife Wäsche hatte — all das jagte der Großmutter Angst und Schrecken ein. Großmutter fürchtete gar nicht, daß er von ihr Geld verlangen und ihr das Messer an die Kehle setzen würde: sie würde ihm das letzte Geld geben, obwohl sie es gar nicht leicht haben und nachher mit Petka viele Tage würde hungern müssen; es überfiel sie die schreckliche Vorahnung, daß der Neffe, Petkas Vater, der ›Räuber‹, ihrem Petka etwas antun würde. Was er ihm aber antun würde und was er Petka überhaupt antun könnte, darüber vermochte sie sich keine Rechenschaft zu geben. Doch in der Tiefe ihrer greisen Seele fühlte sie ganz deutlich, daß Petka eine Gefahr drohte, daß das Unglück bereits aus seinem schrecklichen knöchernen Reiche herausgekrochen war und immer näher heranrückte, daß es schonungslos, unerbittlich und grausam an Petuschoks kindliches, kleines Herz heranschlich.
Der Neffe hatte Durst und Hunger. Großmutter richtete für ihn den Samowar. Petka kam aus der Schule, und sie setzten sich alle an den Tisch, Tee trinken.
Petka hatte von den Pilgern, mit denen er auf seinen Wallfahrten zusammengekommen war, viele Heiligengeschichten gehört und wußte, wie die Heiligen ihre Kronen erworben hatten: und nun sehnte er sich danach, einmal Räuber zu werden, sich eine schwere Sünde auf die Seele zu laden, dann Buße zu tun, in ein Kloster zu gehen und in einer Höhle zu leben. Nun saß er aber an einem Tisch mit einem Räuber, trank mit ihm aus demselben Samowar Tee, und dieser Räuber, Großmutters Neffe, war sein leiblicher Vater. Petka wandte keinen Blick vom Vater und starrte seine dreistufige Nase mit derselben verzehrenden Neugier an, mit der er einst im Schuppen die rosa Warzen der Truthenne betrachtet hatte. Und da er nicht wußte, wie er dem Vater gefällig sein und dem Räuber seine Kühnheit zeigen konnte, sprang er plötzlich von Stuhl, packte das Hähnchen, das sich unter das Sofa verkrochen hatte, an den Flügeln und schleppte es herbei.
»Schau dir das Hähnchen an«, sagte Petka, »ein kalikutisches ist es!«
»Petka und ich haben nur einen Wunsch, daß dem Hähnchen nichts geschieht; sonst brauchen wir nichts!« sagte Großmutter, als ob sie sich rechtfertigen müsse; ihre Hände zitterten, und ihr Kopf wackelte hin und her.
Der Räuber blinzelte dem Hähnchen zu — ein feines Hähnchen! Der Räuber aß mit großer Hast und entschädigte sich für alle die Hungertage, derentwegen ihm der Magen knurrte. Nachdem er Petkas und Großmutters Mittagsessen verzehrt hatte, machte er sich über den Tee her. Das heiße Getränk erwärmte ihn, machte ihn schlaff und löste ihm die Zunge. Und er begann ganz wirres Zeug zu reden, wobei er über Petka und die Großmutter hinwegsah, genauso wie Petka über die Großmutter hinweggesehen, als er ihr vom Luftballon erzählt hatte, auf dem sie einst wohnen würden: er, das Hähnchen und die Großmutter. Aus den Worten des Räubers folgte, daß nun fast alles erlaubt sei, daß es keine Gesetze mehr gebe, daß alle Gesetze abgeschafft seien und daß heute oder morgen alle Gelder in seine Hände übergehen würden; und da würde die blutige Abrechnung beginnen.
»Die gebildeten Schichten . . . Revolution . . .« Der Räuber gebrauchte lauter unverständliche und schwierige Worte und machte mit dem Finger die Gebärde des Halsabschneidens. »Eine Gräfin werde ich mir zur Frau nehmen!«
Und je wärmer es dem Räuber wurde, um so verworrener und unwahrscheinlicher klangen seine Worte. Petka hörte dem Vater mit offenem Munde zu und starrte auf seine dreistufige Nase. Großmutter schüttelte den Kopf.
»Petka und ich haben nur den einen Wunsch, daß dem Hähnchen nichts geschieht. Sonst brauchen wir nichts«, flüsterte Großmutter, als müßte sie Petka und sich rechtfertigen.
Der Räuber trank die letzte Tasse Tee aus und ging mit Großmutters letztem Kleingeld in der Hand fort. Großmutter blieb mit Petka und dem kalikutischen Hähnchen allein. Sie räumten alles auf, stellten den Samowar weg, spülten die Tassen ab und fegten mit einem Flederwisch die Brotkrumen in einen Beutel; Petka machte seine Schulaufgaben, dann saßen sie noch eine Weile beisammen, gähnten, schwiegen und schlugen so den Abend tot. Nachdem sie das Abendgebet gesprochen hatten, sahen sie unter das Sofa nach dem Hähnchen: ob es schon schlafe oder nicht. Das Hähnchen schlief schon längst. Nun gingen sie selbst auch zu Bett.
Petka wälzte sich hin und her und konnte nicht einschlafen. Auch Großmutter drehte sich immer von der einen Seite auf die andere: sie fühlte Unruhe und Angst.
»Petuschok!« rief Großmutter, als sie ihre Angst nicht länger bemeistern konnte.
Petka warf sich im Bette mit offenen Augen hin und her: er sah sich schon als Räuber und baute sich aus den unverständlichen Räuberworten, die er vom Vater gehört hatte, Räubertaten und ein Räuberleben auf.
»Petuschok, du, Petuschok!« rief Großmutter noch leiser, noch freundlicher.
»Was ist denn, Großmutter?« Petka sprang auf: es war ihm, als hätte er Großmutters Stimme gehört.
»Ich bin es, Petuschok, fürchte dich nicht.« Großmutter konnte vor Angst kaum sprechen. »Geh nicht fort, Petuschok . . .«
»Unter die Räuber will ich gehen, Großmutter«, antwortete Petka augenblicklich. »Als Räuber will ich leben! Und auch du, Großmutter, sollst unter die Räuber gehen . . .«
»Geh nicht fort, Petuschok!« piepste Großmutter so leise, daß Petka sie gar nicht hörte. Dann lag sie wie starr in unheimlicher Angst da: jeder Ton, jedes Rascheln schien ihr unheilverkündend, das Hundegebell erschreckte sie, und es war ihr, als schleiche sich schon jemand an ihre Kellertür heran, ein Dieb, ein böser Mensch, um ihr ihren Petka, ihren Petuschok zu nehmen.
Petka lag mit offenen Augen da; er war aber nicht mehr Petka, sondern ein echter Räuber mit schwarzem, wie beim Morosowschen Kutscher mit Butter eingefettetem Haar, mit einer dreistufigen Nase und einem gekrümmten Arm; er wird Großmutter und das kalikutische Hähnchen abholen, sie werden zu dritt in einem Luftballon nach dem Chitrowka-Markt fliegen und dort als Räuber leben; und dann beginnt die blutige Abrechnung.
Das Öllämpchen flackerte leise vor den Bildchen und Kreuzchen, vor den ›Vier Marienfesten‹: Maria Schutz und Fürbitte, Aller Leidenden Freude, der Muttergottes von Achtyrka und Mariä Erscheinung — und vor den ›Moskauer Wundertätern‹: Maxim dem Seligen, Wassili dem Seligen und Johannes dem Narren in Christo. Die Berge der ›Mutter-Einöde‹ glühten im Scheine der Nachtlampe rot und schnitten sich wie mit Flammenzungen in den Moskauer Kreml hinein.
»Ich bin unter die Räuber gegangen, Großmutter«, murmelte Petka im Schlafe.
Der unruhige Herbst war zu Ende, der Winter brach an. Großmutters Unruhe hatte sich nicht gelegt, und Petka war nicht mehr zu bändigen: wenn der Schlingel das Schlucken bekam, begann er, statt ein Vaterunser zu beten — früher betete er in solchen Fällen ein Vaterunser, das wirklich half —, ganz sinnlose Abzählreime aufzusagen. Großmutter hatte sich nicht beruhigt, in den Straßen war es nicht stiller geworden, der grimmige Frost hatte Moskau nicht abgekühlt, und das Leben war nicht zum Alltag mit seiner Arbeit und Sorge zurückgekehrt. Auf unbekannten, ungeahnten Wegen nahte und rückte an das russische Volk die schwere Not heran, die unbarmherzige, unerbittliche, grausame Not; sie trieb es in ferne Länder fort, zu einem fremden Volke, und zerstreute es dort in Spott und Schande; sie brachte es an die Gestade eines fremden Ozeans und ertränkte es darin, schrecklicher als ein Sturm und ein Ungewitter; nun schlich sie dunkel und unersättlich aus dem fremden gelben Lande dicht an den Moskwa-Fluß heran und bedrohte das Herz unseres unglückseligen, verbitterten Landes. Ob unserer großen Sünden wegen, wie Großmutter sagte, oder allen Einfaltigen zur Belehrung, wie der barfüßige Mäßigkeitsapostel aus der Teestube an der Sazepa behauptete, ob als Strafe für das wahnsinnige Schweigen der ganzen Welt — jedenfalls wurde das stumme, sprachlose, noch geschwächte, doch immer und immer wieder bestrafte russische Volk, nachdem es drei Plagen überstanden, wieder der schweren Not preisgegeben.
Und gleich den feurigen Bergen auf dem Bilde der Moskauer Wundertäter schnitten sich auch in Wirklichkeit feurige Berge wie mit Flammenzungen in den Moskauer Kreml hinein, und ein rauchender Feuerschein ergoß sich über die Stadt.
Am Samstag nach dem Nikolatage setzte sich Großmutter mit Petka um die Mittagszeit an den Tisch; sie wollten irgend etwas essen — in diesen Tagen kümmerte sich kein Mensch um die Großmutter, man hatte sie vergessen, und die beiden saßen oft wochenlang ohne einen Bissen.
»Großmutter«, Petka sprang auf, »hörst du es?«
Großmutter legte den Löffel weg und knabberte an einer Brotrinde.
»Großmutter . . .« Petka sah zum Klappfenster hinaus.
Großmutter rührte sich nicht. Sie schüttelte den Kopf wie beim Besuch des Räubers.
»Großmutter, man schießt!« und mit diesen Worten lief Petka zur Tür hinaus.
Es wurde irgendwo ganz weit auf der Twerskaja geschossen, und das dumpfe Dröhnen klang auf dem Semljanoj-Wall wie von unter der Erde. Die Fensterscheiben erklirrten.
Großmutter hatte noch nichts gemerkt, Petka hatte es aber sofort gehört. Und nun hörte es auch die Großmutter; sie bekreuzigte sich wie bei einem Donnerschlag.
Es begann eine unruhige Zeit. Das Unglück stand an jeder Ecke, an jeder Straßenkreuzung; es lauerte unersättlich, dunkel, strafend bei Tag und bei Nacht, wo viele Menschen versammelt waren und auch, wo es gar keine Menschen gab.
Großmutter hatte Angst, Petka von ihrer Seite zu lassen. Wie leicht konnte ihm etwas zustoßen: Großmutter sah in den Leuten, die die Fabrikarbeiter zum Streik ermunterten, in den Freischärlern, in den Kosaken und Dragonern, die die Sadowaja zum Kursker Bahnhof passierten, lauter Räuber. Und es wurde immerfort geschossen: irgendwo in Kudrino, und auf der Presnja, und gleich in nächster Nähe, auf der Mestschanskaja; in einem fort wurde geschossen, und das Gedröhn drang immer lauter in die Kellerstube hinein; es klang, als ob man mit Peitschen knallte oder trockene Äste abbräche.