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Eisenbahn-und Posträuber in Nordamerika

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Inhaltsverzeichnis

Am 25. Oktober 1886 dampfte in später Abendstunde der fahrplanmäßige Eilzug der Saint Louis und San Francisco verbindenden Eisenbahn von Saint Louis nach dem Westen ab. Zum erstenmal wurde an der Station Pazifik-Kreuzung, sechsunddreißig englische Meilen, also etwa achtundfünfzig Kilometer von Saint Louis entfernt, gehalten. Die Stationsbeamten bemerkten, daß die Tür des Postwagens, der der Adams-Erpreß-Company gehörte, offenstand. Sie begaben sich hinein in den Wagen und fanden darin die eisernen Kassenschränke geöffnet und ihres kostbaren Inhalts beraubt. Die Wertpapiere, eine Anzahl von Diamanten und zweiundachtzigtausend Dollar in barem Gelde waren verschwunden.

Der diensttuende Postbeamte David S. Fotheringham lag in einer Ecke des Wagens am Boden, an Händen und Fußen gebunden und einen Knebel im Munde, so daß er sich nicht rühren und keinen Laut von sich geben konnte. Als man die Stricke zerschnitten und ihn befreit hatte, erzählte er, unmittelbar vor der Abfahrt des Zuges von Saint Louis habe sich ein ihm völlig unbekannter Mensch eingefunden und ihm eine schriftliche Weisung seines unmittelbaren Vorgesetzten, des Streckenaufsehers Mr. Barnett, übergeben, die dahin lautete, der Überbringer sei ein neuer Beamter der Adams-Expreß-Company, der lU den Manipulationsdienst lernen solle, und Mr. Fotheringham habe ihm den Zutritt in den Postwagen zu gestatten und ihn mit den dienstlichen Einrichtungen und den geschäftlichen Verrichtungen bekannt zu machen.

Das plötzliche Erscheinen eines neuen Kollegen sei ihm allerdings merkwürdig vorgekommen, aber er habe sich für verpflichtet gehalten, dem ganz bestimmten schriftlichen Befehle nachzukommen, und er habe dem Unbekannten sogar noch beim Einsteigen geholfen. Der Mann habe dann, bald nachdem der Zug die Bahnhofshalle in Saint Louis verlassen hätte, einen Revolver gezogen und ihn mit dem Tode bedroht. Er sei in höchstem Grade erschrocken gewesen, von dem sehr kräftigen Manne zu Boden geworfen, gebunden und geknebelt worden. Der Räuber habe dann seine Taschen durchsucht, Sie Schlüssel herausgenommen und die Kassenschränke geöffnet und beraubt. Als der Lokomotivführer dann gebremst habe und der Zug langsam gefahren sei, sei der Mensch noch vor der Einfahrt in die Station abgesprungen und vermutlich sehr rasch in der Dunkelheit verschwunden.

Der mit so großer Unverschämtheit und Verwegenheit verübte Raubanfall erregte selbst unter der an derartige Verbrechen ziemlich gewöhnten Bevölkerung von Saint Louis allgemeines Aufsehen.

Die Adams-Expreß-Company, die in den Vereinigten Staaten von Nordamerika den postalischen Verkehr von Wertsendungen vermittelte, war den Absendern gegenüber verantwortlich für den entstandenen Schaden und leistete vollen Ersatz. Sie hatte wegen des großen Verlustes, den sie erlitt, ein starkes Interesse daran, den oder die Verbrecher zu entdecken und ihnen womöglich die Beute wieder abzunehmen, und beschloß deshalb, auf ihre Kosten eine Untersuchung einleiten zu lassen.

Verschiedene Detektivgesellschaften bewarben sich um die Ehre, mit der Entdeckung und Verhaftung der Räuber beauftragt zu werden. Die Wahl fiel auf die Pinkerton -National-Detektiv-Agentur in Chikago. Diese vorzüglich organisierte Agentur sollte das in sie gesetzte Vertrauen vollkommen rechtfertigen. In der Zeit von ungefähr zwei Monaten hatte sie die fünf Teilnehmer an dem Eisenbahnraub ermittelt, die zu ihrer Überführung erforderlichen Beweise gesammelt, sie alle miteinander festgenommen und sogar den größten Teil des Raubes wieder herbeigeschafft.

Der erste Verdacht hatte sich gegen den Postbeamten Fotheringham selbst gerichtet, dessen Bericht über den Vorgang mit begreiflichem Mißtrauen aufgenommen worden war. Man hatte ihn des Einverständnisses mit dem Räuber bezichtigt, und er war unmittelbar nach der Tat verhaftet worden.

Nun setzte die Aufgabe der Detektivs ein. Sie begannen ihre Tätigkeit damit, daß sie alle Eisenbahnlinien, die in die Pazifik-Kreuzung einmünden, begingen und Nachfrage hielten, ob ein Mensch gesehen worden wäre, der nach der übrigens sehr unbestimmten Personalbeschreibung, die Fotheringham gegeben hatte, mit dem Räuber identisch sein könnte. Diese Nachforschungen führten zu keinem Resultat, es mußte ein anderer Weg eingeschlagen werden, um zum Ziel zu gelangen.

Nach der Art und Weise, wie der Raub ausgeführt worden war, mußte man annehmen, daß der oder die Räuber genaue Kenntnis von dem Postdienst auf dieser Eisenbahnstrecke hatten. Die Detektivs fragten daher zunächst bei der Expreß-Company an, ob einer von den Postbeamten in der letzten Zeit aus dem Dienst entlassen worden sei. Sie erfuhren, daß die Company den Vorgänger Fotheringhams auf der betreffenden Strecke, einen gewissen William Haight, neun Monate vor dem räuberischen Überfall wegen des Verdachtes einer Veruntreuung Knall und Fall weggeschickt habe.

Fotheringham und Haight waren persönlich miteinander bekannt gewesen, hatten aber nicht in einem näheren oder gar freundschaftlichen Verhältnis zueinander gestanden. Man schloß daraus, daß William Haight vielleicht den Raub geplant, aber, weil Fotheringham ihn sofort hätte erkennen müssen, nicht selbst ausgeführt habe.

Niemand wußte, was aus William Haight geworden war und wohin er sich gewendet hatte. Aber die Detektivs fanden seine Spur und brachten heraus, daß er in Chikago wohne. Haight diente dort als Kutscher bei einem Landsmann mit Namen Friedrich Witrock, der wie er aus Leavenworth in Kansas stammte und in Chikago einen Kohlenhandel betrieb.

Dann wurde festgestellt, daß William Haight zur Zeit des Raubanfalles in Chikago gewesen war. Damit war also erwiesen, daß er selbst das Verbrechen nicht verübt haben konnte.

Während dieses Beweismaterial mit großer Mühe zusammengebracht wurde, trat ein Zwischenfall ein, der Zeugnis ablegte von der höhnischen Dreistigkeit des Räubers.

Die Zeitungen brachten täglich Berichte über den Raubanfall und die mutmaßlichen Räuber, für deren Entdeckung sich jedermann interessierte. Da fand sich auch einer von den Verbrechern selbst, der literarische Neigungen besaß, veranlaßt, in den Tagesblättern als Mitarbeiter aufzutreten. An mehrere hervorragende Journale von Saint Louis gelangten in kurzen Zwischenräumen mehr oder minder ausführliche mit »Jim-Cummings« unterzeichnete Briefe, in denen versichert wurde, daß der Postbeamte Fotheringham ganz unschuldig und der wirkliche Dieb an einem sicheren Orte geborgen sei, wo er die Früchte seines Raubes ungestört genieße. »Jim-Cummings« war der typisch gewordene Name eines Freibeuters, der durch seine Verbrechen etliche Jahre vorher eine bekannte volkstümliche Persönlichkeit gewesen war, sich aber später gebessert und zur Ruhe gesetzt hatte.

Diese literarische Tätigkeit wurde für den Räuber verhängnisvoll. Es gelang den Detektivs, den ungenannten Schriftsteller zu entlarven.

Am 31. Oktober, sechs Tage nach dem Raube, gelangte der erste »Jim-Cummings-Brief« an den »Globe Democrat« in Saint Louis. Der Brief trug den Poststempel von Saint Joseph, einer kleinen Stadt an der westlichen Grenze des Staates Missouri, unweit Kansas-City. Der Brief versicherte, Fotheringham sei nicht beteiligt an dem Verbrechen, der Briefschreiber sei der Dieb und rühme sich der Tat nicht etwa bloß aus Großmannssucht. Zu seiner Legitimation führte er an, er habe im Wartesaal der Station der Union-Eisenbahngesellschaft in Saint Louis ein Paket mit Effekten zurückgelassen, das man in einem genau angegebenen Verstecke finden werde. Das Paket lag wirklich an dem bezeichneten Orte, es enthielt Hemden und andere Wäschestücke, einige Lieder im Manuskript, aber von anderer Hand geschrieben als der Brief, und eine gedruckte Ballade. Auf der Rückseite der Ballade waren in der Ecke mit Bleistift geschriebene Schriftzüge bemerkbar, die jedoch mit freiem Auge nicht entziffert werden konnten. Mit Hilfe eines starken Vergrößerungsglases ergab sich indessen die Adresse des Hauses Nr. 2108 in der Kastanienallee zu Saint Louis. Die Schrift schien von der Hand des Schreibers des »Jim-Cumming-Briefes« herzurühren.

Unverzüglich begaben sich einige Detektivs in das betreffende Haus. Eine ältere Frau mit scharfgeschnittenen Zügen und klugen Augen öffnete die Tür und redete die Polizeibeamten, ohne ihre Fragen abzuwarten, mit den Worten an: »Ach, ich kann mir schon denken, was Sie wollen. Sie kommen, um sich nach zwei Männern zu erkundigen, die hier gewohnt haben. Mir waren sie gleich verdächtig.« Die Detektivs erwiderten, ihre Vermutung sei ganz richtig, und baten um eine genaue Personalbeschreibung. Mrs. Berry, die Hauswirtin, entsprach dieser Aufforderung sofort und erzählte: »Am 18. Oktober mieteten sich zwei Männer ein, am 22. Oktober reiste der eine ab mit der von Saint Louis nach San Francisco gehenden Eisenbahn, angeblich nach Kansas-City. Der andere, der sich Williams nannte, blieb noch da. Er sagte, er erwarte noch wichtige Briefe. In der Tat kam auch ein Brief, Williams las ihn und teilte mir mit, daß er sofort nach Kansas-City abfahren müsse. Am 25. Oktober – dem in Frage kommenden Tage – verließ er abends das Haus. Er führte einen Reisesack bei sich.«

Nun wurde das Zimmer, in dem die beiden Männer gewohnt hatten, genau durchsucht. Es war leer, aber man fand eine leere Medizinflasche mit der Firma eines benachbarten Apothekers und die Visitenkarte eines bekannten Arztes in Saint Louis darin. Der Apotheker und der Arzt konnten sich des Mannes, dem die Arznei verschrieben worden war, noch genau erinnern, ihre Angaben über Größe, Kleidung und Aussehen des Fremden stimmten mit denen der Frau Berry überein.

Ein Lokomotivführer der Saint-Louis- und San-Francisco -Eisenbahngesellschaft, Johnson, dessen Lokomotive am Abend des 25. Oktober vor der Abfahrt des Eilzuges in der Halle des Stationsgebäudes von Saint Louis gegenüber dem unter der Obhut Fotheringhams stehenden Postwagen auf einem Nebengleise gehalten hatte, meldete sich freiwillig zu einer Aussage. Er gab an: »Unmittelbar vor der Abfahrt des Eilzuges kam von der Seite her, auf der die Fahrgäste nicht einstiegen, ein Mann in größter Eile herbeigelaufen, warf einen Reisesack in den Postwagen der Erpreß-Company und schwang sich mit Hilfe des Postbeamten noch hinein, als der Zug sich schon in Bewegung gesetzt hatte. Ich hatte der Sache anfänglich keine weitere Bedeutung beigelegt und dachte erst dann wieder daran, als ich den Jim-Cummings-Brief in der Zeitung las. Ich hielt mich für verpflichtet, meine Wahrnehmung mitzuteilen, weil aus ihr hervorgeht, daß der Postbeamte bei der Abfahrt des Zuges nicht allein in seinem Wagen gewesen ist.«

Johnson beschrieb den Reisesack des Fremden, und es ergab sich daraus, daß es der Reisesack gewesen war, den der Bewohner des Hauses Nr. 2108 bei sich getragen hatte, als er sich zur Eisenbahn begeben hatte.

Die Detektivs nahmen nochmals eine gründliche Untersuchung des Zimmers vor, in dem Williams und sein Genosse gewohnt hatten.

Als der Stubenteppich aufgehoben wurde, fand man unter ihm den abgerissenen Fetzen einer Begleitadresse für ein Eilfrachtstück, auf dem ein kleines Siegel auf grünem Lack aufgedrückt war, und dieses Siegel glich auf ein Haar dem Siegel, das den »Jim-Cummings-Brief« an den »Globe Democrat« verschlossen hatte. Eine sorgfältige Besichtigung des Adressenfragmentes bewies, daß es von einer Eilfrachtsendung herrührte, die wenige Tage vorher von Saint-Charles am Missouri über die Pazifik-Kreuzung nach Saint Louis abgegangen war.

Die Bücher und Register der Expreß-Company wurden aufmerksam durchgesehen; sie bewiesen, daß die Begleitadresse an zwei Reisesäcken befestigt gewesen war, die offenbar von den in dem Hause der Kastanienallee zu Saint Louis wohnenden beiden Männern aufgegeben worden waren.

Die Detektivs zogen aus diesen Tatsachen den Schluß, daß der eine von den beiden verdächtigen unbekannten Männern, der am 22. Oktober das Haus verlassen hatte, den Eilzug nach San Francisco nur ein StÜck habe begleiten wollen, um das Terrain zu sondieren, und seinen Genossen dann brieflich von seinen Beobachtungen und der Lage der Dinge in Kenntnis gesetzt habe, worauf dieser am 25. Oktober abgereist sei und den Überfall ausgeführt habe.

Andere Detektivs hatten inzwischen das Tun und Treiben des entlassenen Postbeamten Haight unablässig überwacht und ausgekundschaftet, daß es ihm recht schlecht gegangen war und er in den dürftigsten Verhältnissen gelebt hatte. Erst einen oder zwei Tage nach dem Raube hatte sich plötzlich seine Lage geändert. Er hatte einige dringende kleine Schulden bezahlt, war am 27. Oktober von Chikago nach dem Süden zu, wie er sagte, nach Florida, abgereist, und auch seine Frau hatte bald darauf die Stadt verlassen.

Friedrich Witrock, der Kohlenhändler, befand sich während der Zeit, als diese Nachforschungen im Gange waren, nicht in der Stadt. Er war am 12. Oktober von Chikago abgereist und zugleich mit ihm sein Nachbar, der Wäscher Thomas Neaver, mit dem er befreundet war.

Jeder von beiden hatte einen Reisesack und eine Jagdflinte mitgenommen, um, wie sie sagten, in Arkansas zu jagen.

Weaver kehrte am 23. Oktober nach Chikago allein zurück. Man erkundigte sich nun nach Witrock. Sein Signalement machte es wahrscheinlich, daß er mit dem Mieter Williams in Saint Louis identisch sein könne.

Die Detektivs verschafften sich Proben von Witrocks Handschrift, und die Redaktion des »Globe Democrat« stellte ihnen die ihr zugegangenen »Jim-Cummings-Briefe« zur Verfügung, und dieses Material wurde vereidigten Sachverständigen übergeben, die beauftragt wurden, eine Vergleichung der Handschriften vorzunehmen.

In dem letzten jener Briefe, dessen Zweck wiederum war, Fotheringhams Unschuld nachzuweisen, prahlte der Schreiber damit, daß er über alle näheren Umstände des Raubes genau Bescheid wisse. Es hieß dann weiter, in dem im Wartesaal des Stationsgebäudes von Saint Louis versteckt gewesenen Paket befinde sich ein unbeschriebener Briefbogen mit der vorgedruckten Firma der Adams-Expreß-Company. Dieser Briefbogen müsse doch der Polizei die Augen öffnen, denn auf einen gleichen Bogen sei die gefälschte Ordre geschrieben gewesen, die der Räuber dem Postbeamten vorgezeigt habe, um Autritt zu dem Postwagen zu erhalten. Der Räuber habe sich nach vollbrachter Tat von der Pazifik-Kreuzung an die Ufer des Missouri begeben und sei in der Nähe von Saint-Charles in einem bereitgehaltenen Kahn stromaufwärts gerudert.

Um die Richtigkeit dieser Angaben zu prüfen, verfügten sich die Detektivs nach Saint-Charles, und es gelang ihnen, folgende Tatsachen festzustellen:

Am 14. Oktober waren in der genannten Stadt zwei unbekannte Männer eingetroffen, deren Signalement auf Witrock und Weaver paßte; sie hatten einen Nachen und einen Vorrat von Lebensmitteln für mehrere Tage eingekauft und waren sodann stromaufwärts wieder weggefahren. Bei der Ankunft in Saint-Charles hatten sie zwei Reisesäcke mit sich geführt, die sie nicht mit in den Kahn genommen, sondern durch die Bahn über die Pazifik-Kreuzung nach Saint Louis gesandt hatten. Der Nachen war etliche Wochen nach dem Raube, halb vergraben im Sande, in einem Abflußloch des Missouri wiedergefunden worden.

Um diese verschiedenen Fäden zu verknüpfen und Klarheit zu gewinnen, wurden Thomas Weaver und die Kohlenniederlage Witrocks, die während seiner Abwesenheit sein Schwager Eduard Kinney verwaltete, von Detektivs beobachtet.

Andere Detektivs begaben sich nach Leavenworth, um in der Heimat von William Haight und Friedrich Witrock Nachforschungen anzustellen. Die Mutter und die Schwester Witrocks lebten schon seit langer Zeit dort und erfreuten sich des besten Rufs. Vor kurzem hatte sich die Frau des Haight mit ihrem Kinde ebenfalls dort niedergelassen. Sie stand mit ihrem Manne in Briefwechsel. Man erfuhr dadurch seinen Aufenthalt und seine Adresse. Er lebte in Nashville im Staate Tennessee und betrieb dort das Gewerbe eines Dachdeckers. Auch Haight wurde nun unter die Aufsicht von Detektivs gestellt.

Frau Berry in der Kastanienallee von Saint Louis, bei der die zwei Männer, vermutlich Witrock und Weaver, vom 18. bis 25. Oktober zur Miete gewohnt hatten, hatte einen Sohn und eine Tochter. Diese reisten in Begleitung von Detektiven nach Chikago und erhielten Gelegenheit, den Wäscher Thomas Weaver zu sehen. Sie erklärten beide mit völliger Bestimmtheit, daß er der eine von jenen beiden Männern wäre, und zwar derjenige, der zuerst, nämlich am 22. Oktober, mit dem nach San Francisco gehenden Zuge abgereist sei.

Das war ein entscheidendes Zeugnis. Das Einverständnis zwischen Haight, Witrock, Weaoer und vielleicht auch Kinney und ihre Beteiligung an dem Verbrechen schien so ziemlich bewiesen zu sein.

Dagegen waren sich die Detektivs nicht klar darüber, ob Fotheringham die Hand mit im Spiele gehabt hatte. Er war noch immer in Untersuchungshaft, Haight, Weaver und Kinney standen unter der polizeilichen Aufsicht der Detektivs, und der Prozeß vor Gericht hätte jeden Augenblick beginnen können, aber der Hauptschuldige Witrock war noch immer von Chikago abwesend, und man kannte seinen Aufenthaltsort nicht, auch von dem gestohlenen Gut hatte man noch nichts entdeckt, deshalb wurde beschlossen, die Rückkehr Witrocks abzuwarten. Er sollte von selbst ins Garn laufen, dann erst wollte man die Falle schließen und gerichtlich einschreiten.

Inzwischen arbeiteten die Polizeibeamten weiter, um Witrocks Spur aufzufinden. Er hatte, wie man erfuhr, einen vertrauten Jugendfreund namens Oskar Cook, der ebenfalls aus Leavenworth stammte, jetzt in Kansas-City wohnte und dort das Gewerbe eines Küfers betrieb. Cook lebte in ziemlich bescheidenen Verhältnissen, schien aber plötzlich zu Gelde gekommen zu sein. Es verbreitete sich das Gerücht, daß er in der Lotterie gewonnen habe. Die Detektivs schöpften Verdacht und beobachteten sein Tun und Treiben. Dabei fiel ihnen auf, daß er oft kleine Reisen unternahm und immer, wenn er sich von Kansas entfernt hatte, ein »Jim-Cumming-Brief« bei einer Zeitung in Saint Louis einging. Von ihm selbst rührten die Briefe, wie eine Vergleichung der Handschrift ergab, nicht her. Aber vielleicht stand er in persönlicher Verbindung mit Witrock und besorgte die Briefe, die dieser geschrieben hatte.

Ein Detektiv suchte und machte seine Bekanntschaft, er schloß sogar Freundschaft mit Cook und brachte gelegentlich auch das Gespräch auf Witrock. Aber Cook verriet nichts; der Versuch, durch ihn von Witrock Näheres zu erfahren, mißlang also.

Eine Unvorsichtigkeit kam da den Detektiven zu Hilfe. Eduard Kinney, der Schwager und geschäftliche Repräsentant Witrocks, machte eine kurze Geschäftsreise von Chikago nach Ouincy in Illinois. Ein Detektiv folgte ihm dahin. In Quincy erhielt er ein Telegramm, das ihn in eine gewisse Aufregung versetzte. Der Detektiv ging sofort in das Telegraphenamt und verlangte, nachdem er sich als Polizeibeamter ausgewiesen hatte, die Mitteilung des Telegramms. Es war in Chikago aufgegeben und lautete:

»Komme gleich. Friedrich zurück.

Rosa.«

Kinneys Schwester, Rosa Witrock, rief ihn also nach Chikago, weil ihr Mann nach Chikago zurückgekehrt war,

Witrocks Haus war unablässig überwacht worden, und man hatte gesehen, daß eines Abends im Halbdunkel ein hochgewachsener Mann hineingegangen und im Hause geblieben war.

Kinney fuhr eilig heim. Detektivs bemerkten, daß er und Weaver sich vorsichtig in Witrocks Haus schlichen. Dichte Vorhänge, die fortwährend zugezogen waren, machten es den Beobachtern unmöglich, von außen die Personen und die Vorgänge innerhalb der bewohnten Räume zu beobachten. Aber abends, wenn Licht angebrannt war, bewegten sich Schatten von Menschen hinter den Vorhängen.

Am Weihnachtsabend endlich, als die Straße völlig menschenleer war, traten drei Männer, es waren Witrock, Weaver und Kinney, mißtrauisch um sich spähend aus dem Hause und begaben sich in eine nahe gelegene Weinstube.

Jetzt war die Frucht reif. Die Polizei wurde verständigt. Sie besetzte die Ausgänge, ein Polizeioffizier trat in Begleitung mehrerer Beamter ein und kündigte den drei Männern an, daß sie verhaftet seien. Sie setzten sich zur Wehr. Revolver wurden gezogen, Schüsse krachten, aber es ging ohne schwere Verletzungen ab. Die Bande wurde überwältigt und festgenommen. Man unterwarf alle drei einer genauen körperlichen Untersuchung. Witrock trug nur hundertundzehn Dollar, Weaver eine ganz geringe Barschaft bei sich. Kinney hatte in seiner Brusttasche tausend Dollar und in einer Geldtasche um den Leib geschnallt viertausend Dollar in Gold.

Das Haus Witrocks wurde durchsucht, aber es war zunächst nichts Verdächtiges zu entdecken. Auch Frau Witrock mußte sich trotz ihres Einspruchs untersuchen lassen. Man fand in ihren Unterrock eingenäht zweitausend Dollar, in ihrem Korsett vierhundertundfünfzig Dollar und in dem Kissen, das sie als Turnüre trug, die aus dem Postwagen geraubten kostbaren Diamanten.

In der Waschküche, die zu Weavers Haus gehörten, waren in ausgeleerten Marmeladentöpfen dreitausend Dollar in Gold versteckt.

Auf telegraphische Ordre hin wurden nun auch Haight in Nashville und Cook in Kansas-City verhaftet. Die Räuber waren dingfest gemacht.

Die Vernehmung der Angeschuldigten bestätigte die Vermutungen der Detektivs in allen Teilen. William Haight, der als früherer Postbeamter auf jener Strecke mit dem Dienste genau bekannt war, hatte den verbrecherischen Plan entworfen. Der Hergang war folgender gewesen.

Zunächst hatte Haight nach einem Wege gesucht, die Unterschrift des Mr. John B. Barnett, des Oberbeamten der Adams-Expreß-Company, zu erhalten. Er hatte deshalb an ihn geschrieben und ihm den Ankauf einer Erfindung angetragen, die er gemacht haben wollte. Mr. Barnett hatte höflich abgelehnt und die Antwort, die auf einen Briefbogen mit der vorgedruckten Firma Adams-Expreß-Company geschrieben war, eigenhändig unterzeichnet. Haight hatte diese Bogen als Muster benutzt und in Chikago gleichartiges Briefpapier, das ebenfalls mit dem Vordruck der Firma versehen war, anfertigen lassen. Der Lithograph, der diesen Auftrag ausgeführt hatte, erkannte in William Haight den Mann, der die Bestellung gemacht hatte, bestimmt wieder. Auf einen solchen Briefbogen nun hatte Haight die angebliche Ordre geschrieben, durch die sich der Räuber den Zutritt zum Postwagen verschaffen sollte, und hatte die Unterschrift des Mr. Barnett, die das Schreiben enthalten mußte, gefälscht.

Da er das Verbrechen nicht selbst vollbringen konnte, weil er dem Postbeamtenpersonal bekannt war, hatte er den Kohlenhändler Witrock ins Vertrauen gezogen, und dieser war der eigentliche Täter. Witrock war mit seinem Nachbar und Freunde Weaver nach Saint Louis abgereist, beide hatten sich dort bei Frau Berry eingemietet, und Weaver hatte von dort aus die Strecke von Saint Louis bis Pazifik-Kreuzung allein befahren, um zu kontrollieren, ob die Angaben Haights zuverlässig seien und der Raub wirklich ausgeführt werden könne. Er hatte dann seinen Komplizen Witrock brieflich davon benachrichtigt, daß Haights Mitteilungen sich in allen Stücken bestätigt hätten, und nun war Witrock ans Werk gegangen. Mit Hilfe der falschen Ordre hatte er sich in den Postwagen eingeschmuggelt und dort, nachdem er den Postbeamten überfallen und geknebelt hatte, den Raub verübt. Bei der Station Pazifik-Kreuzung war Witrock abgesprungen und nach Kansas-City zu seinem Freunde Cook geeilt, der ihn eine Zeitlang in seinem Hause verborgen hatte. Später hatte er sich nach dem Süden gewandt. Nach Verlauf von zwei Monaten hatte er sich für sicher gehalten und war nach Chikago zurückgekehrt. Witrock hatte von Kansas-City aus die »Jim-Cummings-Briefe« geschrieben; ob ihn dazu lediglich die Langeweile oder der Übermut getrieben hatten, wissen wir nicht. Er hatte diese Briefe dann durch seinen Jugendfreund Cook zur Post befördern lassen. Sein Schwager Kinney hatte ebenso wie Cook an dem Verbrechen nicht unmittelbar teilgenommen, sondern nur den Verkehr zwischen Haight, Witrock und Weaver vermittelt.

Wie die Beute geteilt wurde, ist nicht genau ermittelt worden. Was feststeht, ist folgendes:

Haight, der geistige Urheber des Verbrechens, hatte eine sehr ansehnliche Summe des geraubten Geldes empfangen, er weigerte sich indes hartnäckig, darüber irgend etwas auszusagen. Es ist auch nicht gelungen, das Geld wieder herbeizuschaffen.

Bei Witrock und seiner Frau wurden, wie wir wissen, über zweitausendfünfhundert Dollar und die entwendeten Diamanten gefunden. Später gestand Witrock ein, im Hause seiner Mutter in Leavenworth noch zweitausend Dollar in Gold versteckt zu haben. Sie waren in einem Kistchen im Gewächshaus des Gartens an einem bestimmten Art, den er genau bezeichnete, vergraben. Seine Mutter, eine brave Frau, war außer sich, als sie von der Verhaftung ihres Sohnes Kenntnis erhielt, und teilte der Adams-Expreß-Company brieflich folgendes mit: »Ende Oktober 1886 kam Oskar Cook zu mir und erzählte, mein Sohn habe sich in Chikago in eine Getreidespekulation eingelassen und dabei eine Menge Geld verdient, sei aber leider mit einem betrügerischen Agenten in Streit gekommen und habe diesen dabei durch einen Schuß getötet. Er sei flüchtig geworden und lasse mich bitten, ihm eine größere Geldsumme einstweilen aufzuheben. Cook übergab mir das Geld, und einige Zeit herauf erschien mein Sohn selbst einmal bei Nacht und Nebel in meinem Hause, bestätigte, was mir Cook mitgeteilt hatte, und händigte mir wiederum Geld ein, das ich auch wieder in Verwahrung nehmen sollte. Da ich nun weiß, woher das Geld rührt, beeile ich mich, die gesamte Summe von neunzehntausend Dollar, die mir von Cook und meinem Sohne zugestellt worden ist, der Adams-Expreß-Company zurückzusenden.«

Ob Fotheringham wirklich durch diese gefälschte Ordre Witrocks getäuscht und von diesem überfallen, oder ob der Raub mit seiner Zustimmung verübt und er nachher nur zum Schein niedergeworfen und gebunden worden war, blieb zweifelhaft.

Als die Verurteilten nach der Verhandlung in das Gefängnis zurückgeführt wurden, ereignete sich ein Zwischenfall, der für amerikanischen Verbrecherhumor charakteristisch ist. Im Gange, den sie passieren mußten, kamen sie an einem schlanken jungen Mann vorbei, der in eifriger Unterhaltung mit zwei jungen Damen begriffen war. Haight stieß Witrock an und flüsterte ihm zu: »Hier steht Fotheringham.« Witrock fixierte den Genannten einige Augenblicke, schritt dann auf ihn zu, reichte ihm die Hand und sagte: »Fotheringham, alter Junge, ich freue mich, Sie zu treffen. Ich habe Ihnen vor über zwei Monaten einen bösen Streich gespielt, aber ich will hoffen, daß Sie es mir nicht nachtragen werden.« »Gewiß nicht,« lautete die Erwiderung Fotheringhams, »wenn Sie mich auch gehörig überrumpelt haben, als wir uns das erstemal trafen.« Die beiden Leute hielten ein eingehendes Gespräch über die Untersuchung, während die Gefängniswärter ruhig dabeistanden und nur gespannten Ohres lauschten, ob sie etwas erfahren würden, was zu einer weiteren Verhandlung führen könnte. »Sie schieden als gute Freunde«, schließt der amerikanische Berichterstatter, dem wir diese Mitteilung verdanken, seine Darstellung.

Die Detektivs, die unter der persönlichen Leitung des Herrn Robert A. Pinkerton gearbeitet hatten, hatten ein Meisterstück geliefert. Es war ihnen gelungen, die einzelnen zerstreuten Fäden zu verbinden und einen Strick aus ihnen zu drehen, mit dem sie schließlich die ganze Bande gefangen hatten. Von den geraubten siebenundfünfzigtausend Dollar waren einundfünfzigtausend und die Diamanten wieder in den Besitz der Adams-Expreß- Company gekommen. Es ist nur fraglich, was größere Anerkennung verdient: ihr Scharfsinn oder ihre Geduld. Die Kosten der Untersuchung durch die Detektivs hatten gegen sechseinhalbtausend Dollar betragen.

Der gerichtliche Prozeß verlief sehr einfach, denn Witrock namentlich hatte ein sehr umfassendes Geständnis abgelegt. Am 4. Januar 1887 wurden die Angeklagten vor das Gericht in Saint Louis gestellt. Der Staatsanwalt Glover begründete die Anklage, Friedrich Witrock, William Haight und Thomas Weaver erklärten sich für schuldig, die beiden ersten wurden zu sieben Jahren Zuchthaus, das höchste gesetzliche Strafmaß, Weaver aber zu fünf Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Cook, Kinney, Frau Witrock und Frau Haight leugneten, von dem Raubanfall überhaupt etwas gewußt zu haben. Sie behaupteten zugleich, keine Ahnung davon gehabt zu haben, daß Geld und Diamanten gestohlenes Gut gewesen seien. Eine Anklage ist weder gegen sie noch den Postbeamten Fotheringham erhoben worden.

Wahre Verbrechen: Morde am Fließband - Die bekanntesten Kriminalgeschichten aller Länder

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