Читать книгу ad Hannah Arendt - Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft - Alfons Söllner - Страница 5

Anleitung zu einem heterodoxen Klassiker

Оглавление

Es ist in der akademischen Sprache heute üblich geworden, ein großes Buch oder ein anderes herausragendes Geistesprodukt aus der näher liegenden Ideengeschichte als „modernen Klassiker“ zu bezeichnen. Dabei wird nicht immer bedacht, dass dieses kaum zu übertreffende Kompliment eigentlich einen ziemlich heftigen Widerspruch einschließt. Auch wenn das Empfinden dafür in immer weitere Ferne zu rücken scheint – nach wie vor gibt es die kanonbildende Tradition, dass „klassisch“ das seit der Antike Geltende, vor allem dessen ästhetisch vollkommene Darstellung ist, während der Ausdruck „modern“ irgendwie das Gegenstück dazu bezeichnet und dieses damit auch abwertet. Noch immer klingt herüber, was einmal die „Querelle des Anciens et des Modernes“ genannt wurde und bis zum Ende des 18. Jahrhunderts in der europäischen Geistesgeschichte beinahe omnipräsent war. Kann man mit dieser ausladenden Gedankenfigur einen Zugang auch zu Hannah Arendt finden?

In der vorliegenden Sammlung von drei Essays wird Hannah Arendt nicht ein weiteres Mal als die große politische Denkerin gefeiert, als die sie vor allem durch „Vita activa“, das „philosophischste“ ihrer Bücher, bekannt geworden ist. Das Ziel des Bändchens ist sowohl bescheidener als auch subjektiver: Der Verfasser möchte an Hannah Arendts erstes Buch von 1951 heranführen und greift dafür auf zwei ältere Aufsätze und einen jüngeren Essay zurück; und er möchte durch ihre leicht modifizierte Neupublikation Rechenschaft darüber geben, warum es für seine Generation, bei aller Faszination durch Hannah Arendts späteren Denkweg, eine Art von Zwang gegeben hat, immer wieder zu dessen Ausgangslage zurückzukehren. Was sagt das über die intellektuellen Fixierungen der Nachgeborenen, zumal derer, die im Umkreis von „1968“ politisch aufgewachsen sind? Für Hannah Arendt selber war das Totalitarismus-Buch von offensichtlicher Bedeutung, es machte sie, wie es oft heißt, „über Nacht berühmt“. Und was die „geistige Situation der Zeit“ betrifft, so lässt sich der bekannte Titel von Karl Jaspers aus den Krisenjahren der Weimarer Republik ohne Umschweife auf die spätere Prominenz seiner ehemaligen Doktorandin ummünzen: ihr publizistischer Erstling steht am Eingangstor der Epoche „nach Hitler“.

Wenn man also „The Origins of Totalitarianism“ als „modernen Klassiker“ des politischen Denkens bezeichnen möchte – was kann damit gemeint sein? Offensichtlich war es weder das Bekannte oder zeitlos Gültige noch die abgerundete Form der Darstellung, was das Totalitarismus-Buch so sensationell gemacht hat, vielmehr muss man eher vom Gegenteil ausgehen: Dieses Buch hatte nicht nur eine lange Inkubationszeit durchlaufen, bis es 1951 ans Licht der Öffentlichkeit trat, sondern es ließ die Spuren seiner wechselvollen Entstehung noch an seiner Endgestalt deutlich hervortreten, was seiner inneren Geschlossenheit, wie manche Kritiker meinten, eher abträglich war. Dieser Einwand wird im Folgenden aufgenommen und ins Positive gewendet:

Ist Hannah Arendts Totalitarismus-Buch etwa deswegen ein „moderner Klassiker“ des politischen Denkens geworden, weil sich in ihm intellektuelle und politische Ungleichzeitigkeiten der stärksten Art versammelt haben? Als Jüdin verfolgt und zur Flucht gezwungen, begibt sich eine junge Philosophin auf eine intellektuelle Reise, die sie in ganz unphilosophische Gegenden führt. Den widrigen Umständen zum Trotz geht daraus ein so eigenwilliges wie freistehendes Gedankengebäude hervor, das eines entschieden auszeichnet: es stemmt sich gegen die zeitgeschichtliche Katastrophendynamik. Das Ergebnis der weitläufigen Studien ist ein historisch-philosophischer Zwitter, ein Mammutwerk, das eine Unmenge an historischen Details transportiert, aber auch dezidierte politische Urteile fällt und dafür eine ganz eigene philosophische Sprache erfindet. Dieses Buch schlägt wie ein rätselhafter Meteorit in das Amerika der frühen 1950er Jahre ein, weil es Vergangenheit und Gegenwart auf eine Weise miteinander vermittelt, die so schockierend wie vieldeutig ist.

Das bedeutet nicht, dass das Totalitarismus-Buch ein Werk ohne Zentrum ist, vielmehr gibt es ein durchgehendes Leitmotiv, das das gesamte Werk durchdringt und auch dort präsent bleibt, wo sich die Erzählung, wie in den ersten beiden Hauptteilen des voluminösen Buches, in scheinbar weit entfernte historische Regionen begibt. Grundlegend ist und bleibt die Erfahrung von Fremdsein und Exil, die aber nicht statisch erlebt, sondern zur existentiellen Zeitgenossenschaft umgewandelt wird und aus diesem Schwung heraus großflächige Rückprojektionen erlaubt: Antisemitismus und Imperialismus, die Ideologien des 19. Jahrhunderts erscheinen als die Vorgeschichte eines destruktiven Gesamtprozesses, der in die totalitären Diktaturen des 20. Jahrhunderts einmündet und im Hitler-Faschismus zur Vollendung gelangt. Aber ist dieser Dreierschritt im einzelnen nachvollziehbar, steht diese wuchtige „grand narrative“ wirklich auf solidem Grund, sei es ein historischer, philosophischer oder eine Vermischung von beidem?

Am deutlichsten fassbar ist das fragliche Kontinuum der Erzählung am Komplex des Antisemitismus. Was als persönliches Erlebnis beginnt und mit Verfolgung und Vertreibung eine traumatische Vertiefung erfährt, wird zunächst in die Entstehungszeit des bürgerlichen Nationalstaates zurückprojiziert, erfährt im Kolonialismus und Imperialismus des 19. Jahrhunderts sicherlich eine andere, mehr nach außen gewendete Dynamik, doch setzt sich der eigentliche Kern dieser europäischen Gewaltgeschichte, die Ideologie des Rassismus ungebrochen ins 20. Jahrhundert hinein fort: Die faschistischen Bewegungen halten sich zwar zunächst an nationalstaatliche Pfade, doch setzt sich mit Hitlers Machtergreifung im Zentrum Europas eine totalitäre Gewaltpolitik durch, die schließlich den ganzen Kontinent mit Aggression und Krieg überzieht. Mit der schonungslosen Schilderung der totalitären Lagerwelt, die dem organisierten Genozid zuarbeitet, erreicht das Totalitarismus-Buch seine größte Eindeutigkeit, ausformuliert in einer philosophischen Sprache, die den deutschen Existenzialismus sowohl beerbt wie umdeutet.

Doch selbst wenn man solche Überlegungen zu konstruiert, jedenfalls nicht überzeugend findet – offensichtlich strebte Hannah Arendt im Totalitarismus-Buch keine geschlossene Erzählung an, sondern orientierte sich am Bauplan einer offenen Form. Welcher, wäre zu fragen! Damals wie heute steht der Leser vor einem ebenso weitläufigen wie komplexen Gedankengebäude, das man durch viele Türen betreten kann und aus dessen Fenstern ebenso viele Ausblicke möglich sind. Der erste der drei Essays, zugleich der längste, leitet daraus die Freiheit ab, Hannah Arendts erste Exilstation, die in der Literatur bislang wenig Beachtung gefunden hat, als wegweisend für ihre politische Lerngeschichte zu behaupten, die sich dann, über die 1950er Jahre hinaus als so produktiv erwies. Ihr „französisches Jahrzehnt“ dient als Leitfaden, um sich auf dem „weiten Feld“ des Totalitarismus-Buches zu orientieren, und gleichzeitig erscheint der französische Nationalstaat als konstruktives Modell, das – im Guten wie im Schlechten – durch die europäische Geschichte führt, bis es vor den totalitären Lagern der 1940er Jahre schockiert zum Stehen kommt.

Damit ist sicherlich nur ein Bedingungsfaktor genannt, der die historischen Exkurse des Totalitarismus-Buches so ausschweifend, aber auch unverwechselbar gemacht hat. Um das Bild zu komplettieren, könnte es nützlich sein, sich den dritten Teil des Buches getrennt vorzunehmen, um die hier durchgeführte Totalitarismus-Theorie in Beziehung zu setzen zu „anderen“, mehr oder weniger prominenten Werken aus der Feder von Hitler-Flüchtlingen. Der Vergleich, der im zweiten Aufsatz des vorliegenden Buches angestrebt wird, ist nicht primär auf eine Bewertung angelegt, vielmehr soll Hannah Arendts „philosophischer“ Zugriff durch den idealtypischen Kontrast herausgestellt werden. Dafür eignet sich eben der Totalitarismus-Komplex am besten, weil er durch die politische Feindkonstellation, d.h. die prinzipielle Gegnerschaft gegenüber Nazi-Deutschland eine Gemeinsamkeit markiert, während jeder der Mitemigranten eigene theoretische und methodische Prägungen aus der Zeit vor Hitler mitbrachte, die jeweils zu alternativen Interpretationen führen konnten. Das Tableau, das sich daraus ergibt, ist pluralistisch und lässt das Totalitarismus-Buch in einem politiksemantischen Spannungsfeld erscheinen, dessen Dynamik sich in den 1940er Jahren steigerte und das man – natürlich verkürzt – durch den Übergang vom Faschismuszum Totalitarismusdiskurs kennzeichnen kann. Hier befindet sich die Stelle, an der Hannah Arendt in die Wissenschaftsgeschichte der Nachkriegszeit eintrat.

Der dritte Text des vorliegenden Buches ist als Rezensionsessay zum ersten Band der lange erwarteten Gesammelten Schriften entstanden. Er beschäftigt sich mit der turbulenten Phase im Schaffen von Hannah Arendt, die auf das Totalitarismus-Buch folgte, und verweist indirekt auf das vielleicht größte Desiderat der Arendt-Literatur, nämlich Auskunft darüber zu geben, wie dieses Buch in der Werkstatt der Autorin im Einzelnen „gemacht“ wurde. Wir wissen seit langem, dass viele Passagen der 1951 gedruckten Endfassung vorher als größere oder kleinere Essays in amerikanischen Zeitschriften erschienen waren – aber wie und nach welchen Gesichtspunkten hat die Autorin diese schon einmal publizierten Texte ausgewählt und umgearbeitet, um sie in das endgültige Buchformat einzupassen? Oder: welche Veränderungen hat Hannah Arendt vorgenommen, als sie den englischen Text von 1951 übersetzte und 1955 auf Deutsch herausbrachte? In der kreativen Dialektik von Essay und Buch lag offensichtlich eines der Produktionsgeheimnisse dieser Autorin – was verrät darüber die konkrete Machart des Totalitarismus-Buches? Auf den einschlägigen Band der Gesammelten Schriften darf man also gespannt sein!

Was aber die Werkentwicklung nach 1951 betrifft, so sieht es damit weit besser aus, zumal wenn man die hier aufgestellte Norm auf Hannah Arendts „Vita activa“ aus dem Jahr 1957 bezieht. Tatsächlich dürfte es einfacher sein, dieses Buch als „Klassiker“ zu bezeichnen, vielleicht sogar als „orthodoxen Klassiker“. Zwei Argumente lassen sich dafür stark machen, wenn man sich nicht mit der Aura der „politischen Philosophin“ begnügen will, die sich wirkungsgeschichtlich durchgesetzt hat, obwohl Hannah Arendt selber ihr bekanntlich abgeschworen hatte: Einmal ist „Vita activa“ sowohl dem Argumentationsaufbau wie der philosophischen Diktion nach keine offene, sondern eine geschlossene Form, zum andern war die Rückkehr zum politischen Denken der Antike tatsächlich programmatisch gemeint. Hannah Arendt wollte eine positive Tradition der politischen Philosophie wiederbeleben, deren Herzstück eine emphatische Theorie des politischen Handelns war. Sicherlich war damit der im Totalitarismus-Buch avisierte absolute Nullpunkt, der im Holocaust vollendete „Zivilisationsbruch“ (Dan Diner) nicht einfach beiseite gerückt, doch wurde jetzt der rettende „Tigersprung“ (Walter Benjamin) vorstellbar, der als Beute den Abglanz der Antike mit sich führte.

ad Hannah Arendt - Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft

Подняться наверх