Читать книгу ad Hannah Arendt - Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft - Alfons Söllner - Страница 6
„Adieu, la France?“ – Frankreich im Frühwerk von Hannah Arendt
Оглавление„Frankreich, das immer Modell für den Nationalstaat war, wie die Juden Modell der Minderheit“ 1
Wie ihr publizistisches und ihr nachgelassenes Werk selber, ist auch die Literatur über Leben und Wirken von Hannah Arendt längst unüberschaubar geworden. Versucht man sich darin zu orientieren, so erweist sich zumindest ein roter Faden als durchgehend präsent, nämlich die Erfahrung von Vertreibung und Flucht, die nicht nur Hannah Arendts persönliche Geschichte weit über die Lebensmitte hinaus geprägt, sondern auch die Entwicklung ihres Werks maßgeblich beeinflusst hat. Umso bemerkenswerter ist, dass die erste große Station auf dieser erzwungenen Wanderung, nämlich Hannah Arendts beinahe achtjähriger Aufenthalt in Frankreich zwar bekannt, aber in seiner Bedeutung kaum gewürdigt worden ist. Dabei ist offensichtlich, dass Frankreich und seine Geschichte in ihrem politiktheoretischen Erstling über den Totalitarismus häufig auftauchen, während ihr späteres Schlüsselwerk über die Revolution geradezu von der französischen Geschichte lebt, auch wenn es sich um eine scharfe Abgrenzung handelt.
Das Ziel dieses Aufsatzes ist weniger Hannah Arendts persönliche Frankreich-Erfahrung, die auch in der biographischen Literatur nicht dicht dokumentiert ist.2 Tatsächlich reicht die Mehrzahl der publizierten Briefwechsel nicht in die frühen 1930er Jahre zurück und ist damit zumindest für die erste Zeit in Paris wenig informativ. Trotzdem lassen sich die disparaten Facetten soweit zusammensetzen, dass ein Bild davon entsteht, wie Hannah Arendt in Frankreich gelebt und was sie dort erlebt hat, verlässlich jedenfalls insoweit, wie es zum Ausgangspunkt eines intellektuell so singulären wie politisch signifikanten Lernprozesses wurde. Das Exil als existentielle Erfahrung und als Exerzitium der Politisierung – dieser doppelte Topos spielt in der persönlichen Erinnerung Hannah Arendts eine ebenso große Rolle wie er durch die sog. Exilforschung nachträglich als das eigentliche Erbe der Epoche zwischen 1933 und 1945 bestätigt worden ist.
In diesem Sinne soll nach dem Stellenwert gefragt werden, der Frankreich in der Erfahrungsgeschichte einer deutschen Jüdin zukam, die in Philosophie promoviert war und durch das Hitler-Regime aus den vertrauten Verhältnissen geworfen wurde. Dass sie dadurch auf die exzentrische Bahn einer großen Politiktheoretikerin in spe geleitet wurde, ist natürlich eine nachträgliche Konstruktion. Doch dass das Politische oder genauer: die Untrennbarkeit von historischer Erfahrung und politischer Reflexion die zentrale Lektion war, die sie daraus ableitete – dies soll im Folgenden in drei Schritten dokumentiert werden: Ausgangspunkt ist ein Versuch über das Exil in Paris, wie es sich für Hannah Arendt in den 1930er Jahren darstellte (Kap. I). Nach ihrer (zweiten) Flucht in die USA kommt es in den frühen 1940er Jahren zu einer ersten Reminiszenz, jedoch tritt der Frankreich-Komplex angesichts neuer historischer Herausforderungen wieder in den Hintergrund (Kap. II). Auch im Totalitarismus-Buch von 1951 scheint Frankreich zunächst nur subkutan präsent, es erweist sich aber bei genauerem Hinsehen als das Modell, das der europäischen Geschichte Gestalt verleiht (III). Am Ende steht eine Spekulation, die der Historikerin Hannah Arendt eine theoriepolitische Perspektive ansinnt (Kap. IV).