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I.Pariser Exil 1933–1941: Spuren einer Politisierung

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Soviel wir über ihre Kindheit und Jugend wissen, wuchs Hannah Arendt wohlbehütet in einem assimilierten jüdischen Elternhaus auf, was frühe Brüche und Berührungen mit dem gesellschaftlich weit verbreiteten Antisemitismus nicht ausschloss. Ihr aufgeweckter oder sogar aufmüpfiger Charakter, wie er sich in der unkonventionellen Bildungsgeschichte ausdrückte, war sicherlich nicht nur der Reflex einer Verhaltensmaxime der Mutter: „Man darf sich nicht ducken! Man muss sich wehren!“3, sondern auch Resultat eines linken, sozialdemokratischen Milieus. Prägender für die junge Hannah Arendt dürften jedoch die bildungsbürgerlichen Ambitionen gewesen sein, wie sie sich z.B. in ihrer exzentrischen Studienkombination und besonders in der schwärmerischen Identifikation mit dem jungen Martin Heidegger manifestierten, auch wenn sie Marburg bald wieder verließ und schließlich bei Karl Jaspers in Heidelberg promovierte.4

Diese „heile Welt“ erhielt jedoch rasch grausame Risse: persönlich durch die unglücklich verlaufende Liebesaffäre mit dem „heimlichen König des Denkens“, und sozial im Gefolge der Weimarer Staatskrise. Wie das nach der Doktorarbeit aufgegriffene Buchprojekt über Rahel Varnhagen eher für die Aussichtslosigkeit einer akademischen Karriere stand, so kann man ihren brieflichen Disput mit Karl Jaspers, der die „Größe“ Max Webers auf sein „deutsches Wesen“ zurückgeführt hatte, als einen ersten politischen Orientierungsversuch auffassen.5 Und so war es kein Zufall, dass sie schon vor 1933 Kontakte mit zionistischen Kreisen aufnahm, die sie konsequenterweise in Konflikt mit dem frisch etablierten Hitler-Regime brachten. Hannah Arendt wurde im Juli 1933 verhaftet, kam aber nach einer Woche wieder frei und flüchtete mit der Mutter über die „grüne Grenze“ nach Prag, von dort weiter über Genf nach Paris.

Dass dieser Fluchtweg in die französische Hauptstadt führte, hing mit persönlichen Entscheidungen ebenso zusammen wie mit kulturellen Sympathien, die weniger für die politisch als für die „geistig“ Ambitionierten unter den Verfolgten der ersten Stunde typisch waren: Hatte schon Hannah Arendts Mutter in Paris ein paar Bildungsjahre verbracht, so erschien der assimilierten jüdischen Intelligenz die Metropole an der Seine als der Zufluchtsort, wo man einer ungewissen Zukunft noch die besten Seiten abzugewinnen hoffte. Die Mischung aus privaten Freundeszirkeln und intellektueller Halböffentlichkeit kennzeichnete wohl auch das Milieu, in dem Hannah Arendt sich in Paris bewegte, während politische Ideen und vor allem politische Befürchtungen zwar allpräsent, aber verbindlich nur so weit waren, als es die restriktiven Verhältnisse in einem Land erlaubten, das den Flüchtlingen – zumindest anfangs und solange ihre Zahl überschaubar war – noch gut gesonnen war. „Politisch“ war dieses Emigrantenmilieu vor allem in einem negativen Sinn: durch die Fixierung auf den einen und gemeinsamen „Feind“, d.h. auf Hitler und seine Bewegung und durch das Gefühl sich steigernder Ohnmacht, das hinter aller Exilpolitik lauerte, weil ihre Aktionen nur Deklarationen waren.

Der Freundeskreis, in dem sich Hannah Arendt im Paris der 1930er Jahre bewegte, ist bekannt. Er bestand im Kern aus geflüchteten jüdischen Intellektuellen, wobei sich den älteren Bekanntschaften aus Berlin neue hinzugesellt hatten. In den spärlichen Briefen immer wieder genannt werden für die ersten Jahre neben engeren Verwandten und ihrem Ehemann Günther Stern alias Günther Anders: der Rechtsanwalt Erich Cohn-Bendit, der Psychoanalytiker Fritz Fraenkel, der Schriftsteller Chanan Klenbort und Walter Benjamin. Signifikant für diesen engeren Kreis dürfte auch gewesen sein, dass er großenteils aus jüngeren Leuten ohne Zutritt zur Schriftstellerprominenz und zur „großen“ Exilpolitik bestand, wie sie durch Heinrich Mann, Lion Feuchtwanger, Bertolt Brecht oder Leopold Schwarzschild, d.h. durch einen repräsentativen Teil der linksbürgerlichen bzw. kommunistischen Intellektuellen der Weimarer Republik inszeniert wurde.6

Falsch wäre allerdings, daraus den Umkehrschluss zu ziehen, dass Hannah Arendt sich in einem politisch-intellektuellen Niemandsland bewegte. Das Gegenteil ist anzunehmen und kann exemplarisch an zwei Männern demonstriert werden, die in der zweiten Hälfte der Pariser Jahre für sie in den Vordergrund traten: an Heinrich Blücher einerseits, später vor allem dadurch bekannt, dass er ihr zweiter Ehemann wurde, und an Walter Benjamin andererseits, posthum vielleicht die berühmteste Ikone des Pariser Exils überhaupt. Dass sich diese beiden Männer, der kommunistische Autodidakt und der führende Essayist der Zwischenkriegszeit miteinander befreunden konnten, war sicherlich nicht nur dem Kommunikationstalent einer flotten und blitzgescheiten jungen Frau geschuldet, sondern sagt etwas über die Lebensbedingungen in Frankreich, die in gewisser Weise für das Exil zu verallgemeinern sind.

Weil der politische Raum mehr aus einem schwer greifbaren Fluidum als aus konkreten Organisations- und Handlungsmöglichkeiten bestand, gingen Privatheit und Öffentlichkeit unvermittelt ineinander über, waren isolierte, aber leidenschaftliche politische Überzeugungen ebenso wichtig wie die „offiziellen“ Verlautbarungen und Demonstrationen, wie sie z.B. Mitte der 30er Jahre in den spektakulären Kulturkongressen inszeniert wurden. So lautstark und europaweit hörbar der literarische Feldzug gegen Hitler auch war und so einig sich in der Epoche der Volksfront die kommunistischen Protagonisten und die linksbürgerlichen Intellektuellen auch zu fühlen schienen – tatsächlich hatten sie vor allem eines gemeinsam: Die Politik der Emigranten war und blieb reine Ideenpolitik. Dieser Makel lag wie ein Fluch über allen drei Fraktionen, die sich im Zirkel um Hannah Arendt überlagern mochten: dem politischen, dem literarischen und dem jüdischen Exil.7

Man kann den Briefwechsel zwischen Hannah Arendt und Heinrich Blücher als Beleg dafür nehmen, um diesen Vermutungen Substanz zu verleihen. Er setzt zwar erst im Sommer 1936 ein, hat aber den zusätzlichen Vorteil, am ganz Privaten, dem Beginn einer stürmischen Liebesbeziehung zu studieren, wie weit politische Aspirationen trotz oder vielleicht gerade wegen ihrer Vergeblichkeit ins Denken und Handeln der Pariser Emigrantenszene hineinreichten. Während der Ältere von beiden auf eine kommunistische Vergangenheit zurückblicken konnte – Blücher hatte zum Kreis um Heinrich Brandler gehört, war mit diesem von der KPD ausgeschlossen worden und mauserte sich angesichts der Moskauer Prozesse gerade zum „Exkommunisten“ –, versuchte sich Hannah Arendt in der „jüdischen Politik“ zu orientieren. So mischt sich das romantische Spiel der neuen Leidenschaft mit dem Ernst der politischen Standortsuche, und, ob kokett gemeint oder nicht, der ehemalige „Berufsrevolutionär“ wird von ihr als Lehrer in Sachen Politik erkoren: „Stups der Kluge, Stups der Weise – quant à moi, je n’en comprends rien du tout, de la politique actuelle“8.

Nicht weniger rührend liest es sich, wenn Heinrich Blücher die von Hannah Arendt gespielte Unterwerfungsgeste mit liebevoller Ironie erwidert, seinem „jüdischen Mädchen“ ein strenge politische Lektion erteilt und sich dabei in das theatralische Gewand eines „Wunder-Rabbis“ kleidet, der die „richtige Politik“ für die Juden kennt: Nicht im Ausweichen nach Palästina liege die Antwort auf den ansteigenden Antisemitismus, vielmehr müssten sich die Juden auf internationaler Ebene mit der Arbeiterklasse zum „nationalrevolutionären“ Befreiungskampf zusammenschließen: „Der Beruf aber ist, der den Juden seit ihren heroischen Zeiten immer gefehlt hat, der des Soldaten. Jetzt aber wird er ihr notwendiger Beruf, ihre Berufung zum Kämpfer. Wenn den jüdischen Kämpfern in solchem Kampfe, wo sie für uns in die Bresche springen werden, erst ein paar Mal begeistert von Arbeitern, Bauern und Kulis zugerufen worden ist: ‚Die Juden an die Front‘!, dann sind die Juden ein Volk geworden.“9

Dass dieser Schlagabtausch nicht nur witzig gemeint war, kann man auch aus den Orten ersehen, zwischen denen er geführt wird: Hannah Arendt war im Auftrag einer zionistischen Auswandererorganisation, deren französische Sektion sie seit 1935 leitete, zur Gründung des jüdischen Weltkongresses nach Genf gereist. Insgesamt ist davon auszugehen, dass Hannah Arendts politische Neigungen in Paris eher praktischer als theoretischer Natur waren. Sie gingen konform mit einer der schwierigsten Aufgaben, mit denen Flüchtlinge zu allen Zeiten konfrontiert sind und bei deren Lösung Hannah Arendt offenbar geschickter war als viele andere: mit der Beschaffung des Lebensunterhaltes. Es waren jedoch ausschließlich jüdische Organisationen, bei denen Hannah Arendt in den 1930er Jahren eine mehr oder weniger zuverlässige Anstellung erhielt: zunächst als Sekretärin bei „Agriculture et Artisan“, die Palästina-Auswanderern eine Berufsvorbereitung anbot, dann arbeitete sie bei der Jugendhilfsgruppe „Aliyah“, mit der sie 1935 auch eine Reise nach Palästina unternahm, später koordinierte sie im Auftrag einer Baronesse von Rothschild die Verteilung von Spendengeldern an jüdische Wohlfahrtseinrichtungen.

Die Beziehung zu Walter Benjamin ermöglicht es, noch einen anderen Aspekt an Hannah Arendts Verhältnis zu Frankreich hervorzuheben: Zunächst dürfte sich der Kontakt darüber hergestellt haben, dass Benjamin ein entfernter Verwandter von Günther Stern und also schon aus Berlin bekannt war. Daraus entwickelte sich in Paris eine Freundschaft besonderer Art: Zum regen intellektuellen Austausch gesellten sich persönliche Fürsorge und private Unterstützung, je länger sich das Exil hinzog. Benjamin war bekanntlich nicht im landläufigen Sinne „lebenstüchtig“, wie besonders sein Zögern belegt, Europa endlich den Rücken zu kehren. In dieser Situation boten sich Arendt und Blücher als besorgte Helfer in den notorischen Emigrantennöten an, nicht zuletzt weil sie zeitweilig in Benjamins unmittelbarer Nachbarschaft im 15. Arrondissement wohnten. Seine Wohnung in der rue Dombasle 10 dürfte der Ort gewesen sein, an dem sie in kleinerem Kreis ihre philosophischen und politischen Dispute geführt haben, wenn sie sich nicht in einem der Boulevard-Cafes trafen, die damals schon der locus classicus des Intellektuellenlebens waren.10

Damit ist der vielleicht interessanteste Punkt angedeutet, wenn es um Hannah Arendts Frankreich-Erfahrung geht: Benjamins Beziehung zu Paris war bekanntlich bereits in den 1920er Jahren intim und existentiell gewesen, mit dem Übergang ins Exil verstetigte sich diese Konstellation nicht nur, vielmehr wurden Paris und seine städtische Kultur gleichzeitig zum Medium und zum Gegenstand seines Schaffens.11 Das Ergebnis dieser intimen Engführung von Leben und Werk hat sich in seinem „Passagenwerk“ niedergeschlagen, das nicht zufällig so fragmentarisch geblieben ist wie Benjamins tragische Lebenskurve in Frankreich insgesamt. Das wiederum dürfte nicht ohne Einfluss auf Hannah Arendts Weltsicht geblieben sein, zumal wenn man bedenkt, dass sie es war, die dem besten Freund Benjamins als erste die schockierende Nachricht von seinem Selbstmord überbrachte: „Walter Benjamin hat sich das Leben genommen, am 26.9., an der spanischen Grenze, in Port B.“, schreibt sie am 21. Oktober 1940 an Gershom Scholem nach Jerusalem. „Er hatte ein amerikanisches Visum, aber seit dem 23. lassen die Spanier nur Inhaber ‚nationaler‘ Pässe durch… Juden sterben in Europa und man verscharrt sie wie Hunde.“12

Bedenkt man diese persönliche Nähe und ihre schicksalhafte Verdichtung in den dramatischen Monaten nach Kriegsbeginn, so liegt der Gedanke nahe, dass Benjamins Selbstmord an der spanischen Grenze für Hannah Arendt zur hautnahen Demonstration all dessen wurde, was die Kapitulation Frankreichs vor Hitler-Deutschland für die jüdischen Flüchtlinge bedeutete. Hinzu kam die feinfühlige Ahnung von der theoriegeschichtlichen Reichweite der berühmten „Geschichtsphilosophischen Thesen“, deren Manuskript Benjamin Arendt in Marseille übergeben hatte. Arendt und Blücher lasen sie sich gegenseitig vor, als sie im Frühjahr 1941 auf das Schiff warteten, das sie in letzter Minute von Lissabon nach New York brachte. Das alles dürfte ihre Phantasie an die letzten Monate in Frankreich gefesselt und sie, gleichsam in Auflehnung dagegen, zu den kühnen Abstraktionen ermuntert haben, die sich im Frankreich-Bild ihrer späteren politiktheoretischen Bücher zeigen.13

Hat also Frankreich, als Land und als Kultur, nur indirekt Einfluss auf die Erfahrungswelt einer Frau genommen hat, deren Weltoffenheit später beinahe sprichwörtlich geworden ist? Auffällig sind z.B. die wenigen Kontakte zu französischen Kreisen: Nur Raymond Aron erwähnt Hannah Arendt kurz in seinen Memoiren, er hat ihr wohl Zugang zu den Hegel-Seminaren von Alexandre Kojève verschafft, die aber ihrerseits keinerlei Resonanz in den Texten aus den 1930er und 1940er Jahren finden.14 Dieser Eindruck verstärkt sich noch, wenn man sieht, wie wenig sie in Paris fortsetzte, was am Ende der Weimarer Republik immerhin begonnen hatte: die publizistische Tätigkeit. Tatsächlich hat Hannah Arendt in den acht Pariser Jahren außer drei kleinen Gelegenheitsartikeln nichts auf Französisch publiziert.15 Und wenn man sich in den teilweise umfänglichen Manuskripten umsieht, die aus der Pariser Zeit aufgetaucht sind, so findet sich zwar bestätigt, was nicht anders zu erwarten war, nämlich dass Hannah Arendt sehr wohl und verstärkt wieder gegen Ende der 1930er Jahre „weitergeschrieben“ hat, doch noch mehr fällt auf, dass Frankreich in ihnen eine Leerstelle markiert.

So ist der in den „Jewish Writings“ abgedruckte, aber ursprünglich auf Deutsch geschriebene Text über „The Jewish Question“16 von 1937/8 zwar eine packende Alarmschrift. Sie beklagt das Desinteresse der Weltöffentlichkeit gegenüber dem Antisemitismus und geißelt die Rückzugsmentalität gerade der deutschen Juden. Aber das Land, in dem die Autorin sich aufhält, wird gar nicht erwähnt, während die Explosion des deutschen Antisemitismus zwischen Polen und Spanien als den traditionell judenfeindlichen Ländern verortet wird. Ähnlich liegen die Dinge in dem großen Manuskript zum Antisemitismus, das auf das Jahre 1938/9 datiert wird. Es ist, offenbar in Weiterentwicklung des Varnhagen-Projektes aus den frühen 1930er Jahren, ausschließlich auf die deutsche Entwicklung im 18. und 19. Jahrhundert konzentriert und lässt nichts von dem erkennen, was die späteren Interventionen Hannah Arendts so innervierend, aber auch so treffsicher erscheinen ließen, nämlich die hermeneutische Reflexion auf den Standort, von dem aus sie geschrieben sind. Auch hier bleibt Frankreich außerhalb der Betrachtung.17

Zwar sind die meisten Motive schon da, die später im Totalitarismus-Buch ausgearbeitet werden – z.B. die Schlüsselstellung des Antisemitismus für die Sozialgeschichte nach beiden Seiten: Für die jüdische Minderheit bleibt die Emanzipation scheinhaft, weil die Assimilation scheitert, und in der Mehrheitsgesellschaft steigert sich der christliche Antijudaismus zum politischen Antisemitismus. Aber das „jüdische Problem“, sofern es den Schlüssel zur Aufklärungsepoche darstellt, geht vom „deutschen Fall“ aus und bewertet die aktuelle Durchsetzung des Nationalsozialismus nur als paradoxe Übersteigerung eines allgemeinen Trends. Erst ganz am Ende der langen Ausführungen – bei der Schilderung des Rothschild-Clans als Exponenten einer scharf „reaktionären“ Wendung des assimilierten Judentums – kommt Frankreich doch noch in Sicht; schließlich war dort das Aktionszentrum dieses europäischen Clans, und die nach Paris emigrierten Vormärzler – Heine und Börne sowie das Frankreich idealisierende Junge Deutschland – erscheinen als deren kritische Gegenspieler.18

Eine Sonderstellung kommt in diesem Zusammenhang dem Biographieprojekt über Rahel Varnhagen zu: Hannah Arendt hatte dieses Manuskript über die „Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik“, wie das spätere Buch hieß19, bis auf die letzten beiden Kapitel fertiggestellt, bevor sie Berlin verlassen musste. In Paris blieb es zunächst liegen und wurde erst 1938 wieder aufgenommen, als sie von Walter Benjamin und, vermittelt über ihn, von Gershom Scholem dazu gedrängt wurde.20 Diese doppelte Intervention reflektierte auf die mitgebrachte Anlage der Rahel-Biographie und verpasste ihr einen Vorschlag zur Transformation: Hannah Arendt hatte den Weg, der von der aufklärerischen Vernunft zum romantischen Interesse an Herkunft und Geschichte führt, negativ nachgezeichnet und am Schicksal der Rahel Levin gezeigt, dass die Toleranzpraxis der frühromantischen Salons sich nicht verstetigen lässt, dass der Aufstieg in die Adelswelt nicht und die Assimilation an die bürgerliche Welt nur mittels der Taufe, d.h. der Verleugnung der jüdischen Herkunft gelingt.

Die 1938 hinzugefügten Schlusskapitel aber lehnen sich dagegen auf und unternehmen eine Distanzierung, die als Reflex der Flucht aus Deutschland und als Folge exiltypischer Politisierung anzusehen ist. In der Vordergrund tritt jetzt das Begriffspaar Paria-Parvenü, das der Lebensgeschichte der Rahel Varnhagen, wie sie nach Heirat und Taufe heißt, eine kritische Wendung gibt: „In einer im großen Ganzen judenfeindlichen Gesellschaft – und das waren bis in unser Jahrhundert hinein alle Länder, in denen Juden lebten – kann man sich nur assimilieren, wenn man sich an den Antisemitismus assimiliert.“21 Daraus folgt der Schluss, der einem politischen Bekenntnis gleichkommt: „Rahel ist Jüdin und Paria geblieben. Nur weil sie an beidem festgehalten hat, hat sie einen Platz gefunden in der Geschichte der europäischen Menschheit… Heines Ja zum Judesein, das erste und letzte entschiedene, das auf lange Zeit von einem assimilierten Juden gehört wurde, stammt aus dem gleichen Grunde, der gleichen Wahrhaftigkeit wie Rahels Nein.“22

Signifikant ist hier, dass mit diesem Interpretament eine neue Perspektive, ja eine politische Verschärfung hereinkommt, dass aber sein Erfinder, nämlich der Franzose Bernard Lazare gar nicht eigens genannt wird. Hannah Arendt, möchte man für die Jahre 1938/9 schlussfolgern, spricht und liest also nicht nur längst Französisch, sondern sie fängt an, französisch zu denken, während ihr Gegenstand und sein Kontext, wie sie im Rahel-Manuskript und im großen Antisemitismus-Text greifbar sind, noch deutsch bleiben. Festzuhalten ist also das Paradox, dass die in Frankreich geschriebenen, aber unpubliziert gebliebenen Texte keinen Bezug auf das Gastland nehmen. Das könnte zu der These verleiten, dass Frankreich eben nur Transitland war, das zurückgelassen wurde, sobald die Fortsetzung der Flucht es notwendig machte. Aber solch ein Urteil ist verfrüht und vor allem oberflächlich, weil es nicht in Rechnung stellt, wie die militärische Niederlage Frankreichs sich auf das Drama der Flucht ausgewirkt hat.

Wie ein letztes Aufbäumen liest sich da ein Brief, den Hannah Arendt im Januar 1940 an den Rechtsanwalt Erich Cohn-Bendit geschrieben hat und der eine politische Deutlichkeit und analytische Schärfe zeigt, wie sie aus den Pariser Jahren sonst unbekannt ist: Er handelt von der Frage der jüdischen Minderheit, geißelt sowohl die Vertreter des Zionismus wie die osteuropäischen Juden – die ersteren, weil sie die jüdische Diaspora zu wenig im Blick haben, die anderen, weil sie insgesamt in Apathie verharren – und legt sich dann auf eine erstaunliche Perspektive fest, was die jüdische Aussicht jenseits von Auswanderung und Assimilation betrifft: „Unsere einzige Chance – aber auch die einzige Chance aller kleinen Völker – liegt in einem neuen föderalen System Europas… Also europäische Politik bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung aller Nationalitäten… In solch einem Verband könnten wir als europäische Nation anerkannt werden mit Repräsentanz in einem europäischen Parlament.“23

Was freilich für den Jahresbeginn 1940 so illusionär wie positiv daherkommt, verstärkt nur noch einmal den negativen Befund, dass die mit Frankreich verbundenen Hoffnungen endgültig perdu sind.

Wenige Monate später überschlagen sich die Ereignisse: Die französischen Behörden hatten eine immer restriktivere Linie gegenüber den Flüchtlingen und Ausländern im Lande verfolgt, lange bevor der deutsche Invasionsdruck konkret wurde: Schon im September 1939 waren die männlichen Ausländer in Sammellager gebracht worden, im Mai 1940 müssen dann auch die weiblichen Ausländer sich bei den Behörden melden24. Hannah Arendt wird im großen Frauenlager Gurs nahe den Pyrenäen interniert, aber nach der Kapitulation Frankreichs im Sommer 1940 und der Abtrennung des deutsch besetzten Nordens gelingt ihr im „freien“ Süden zusammen mit anderen Frauen die Flucht aus dem Lager. Sie schlägt sich unter abenteuerlichen Bedingungen nach Montauban durch, wo sie, wie durch ein Wunder, Heinrich Blücher wiedertrifft. Günther Stern vermittelt aus den USA, wohin er schon 1937 geflüchtet war, die Notvisa, die dem mittlerweile verheirateten Paar die Ausreise ermöglichen. In einer Pause der zunehmenden Verfolgungsmaßnahmen ergattern sie Anfang 1941 einen Zug, der sie aus Vichy-Frankreich nach Lissabon bringt, und besteigen im April 1941 das rettende Schiff nach New York.

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