Читать книгу Elbkiller: 7 Hamburg Krimis - Alfred Bekker, Frank Rehfeld, Karl Plepelits - Страница 11
5. Kapitel
ОглавлениеHauptkommissar Cornelius Brock saß in Unterwäsche an seinem Küchentisch, klopfte vergnügt ein perfekt gekochtes Ei auf und trank dazu einen frisch gebrühten Kaffee.
Er hatte wunderbar geschlafen und nahm sich jetzt die Zeit für ein richtiges Frühstück.
Auf einem kleinen Fernseher auf der Anrichte lief eine Sendung des Regionalsenders. Er hörte nur mit halbem Ohr hin, doch plötzlich ließ ihn eine Meldung hochschrecken: Mord in der Elbphilharmonie!
Die Nachricht war nicht besonders lang und enthielt zum Glück auch keine wichtigen Einzelheiten.
Hat ziemlich lange gedauert, bis es durchgesickert ist, dachte er. Immerhin kennen sie den Namen des Opfers nicht, und sie wissen auch nicht, in welcher Position er gefunden wurde.
Wenn es nach ihm ginge, sollte das auch so bleiben. Er widmete sich wieder seinem Kaffee, der seine Lebensgeister geweckt hatte, als das Telefon klingelte.
„Brock“, meldete er sich mürrisch.
„Gut, dass ich Sie noch erreiche“, sprudelte eine Stimme, ein Kollege von der Spurensicherung.
„Sind Sie schon in der Elbklause?“, unterbrach Brock. „Der Schuppen ist vermutlich ein Tatort.“
„Vermutlich?“, kam es ungläubig durch die Leitung.
„Wir haben es letzte Nacht jedenfalls angenommen.“
„Und dann haben Sie ihn einfach hängen lassen?“
Brock zog die Augenbrauen zusammen. „Wovon sprechen Sie eigentlich?“
„Kommen Sie so schnell wie möglich her“, sagte der Kollege. „Sie sollten Ihren Tatort selber sehen.“
Er murmelte etwas, das verdächtig nach Idiot klang und unterbrach die Verbindung.
Brock trank den Kaffee aus, verspeiste das Ei mit drei Bissen und zog sich in Windeseile an: Jeans, Polohemd, leichte Lederjacke.
Er nahm den eigenen Wagen. Den Weg kannte er schließlich. Er hatte Glück, der Ring zwei war nicht so voll wie erwartet.
Er parkte auf dem Stellplatz der Elbklause und eilte zum Schuppen. Vor der Tür erwartete ihn ein Beamter der Spurensicherung, gekleidet in einen weißen Anzug, Plastikbezüge über den Schuhen.
Er streckte Brock einen ebensolchen Anzug entgegen. „Das sollten Sie erst mal anziehen, bevor wir reingehen.“
„Haben wir eben telefoniert?“, erkundigte sich Brock.
Der Mann nickte. „Inzwischen habe ich mir zusammengereimt, was hier passiert ist. Denn Ihre Reaktion fand ich etwas ungewöhnlich.“
„Dann klären Sie mich mal auf.“
Der Kollege hielt ihm dir Tür auf, nachdem Brock sich die Schutzkleidung übergestreift hatte.
„War das Siegel unbeschädigt?“
Der Beamte schüttelte den Kopf. „Nein.“
Im Inneren des Gebäudes gingen mehrere ebenso weiß gekleidete Beamte ihrer Arbeit nach. Zwei lichtstarke Scheinwerfer auf Stativen erhellten den großen Raum. In ihrem Fokus hing Dieter Schmitz in merkwürdig verdrehter Haltung von dem zentralen Mittelbalken, der das Dach stützte.
Sein Kopf war zur Seite geneigt, die Augen aufgerissen und blutunterlaufen. Das Gesicht schien schmerzverzerrt. Er hing zwei Schritte schräg hinter der Werkbank. Unter ihm lag ein umgestürzter Schemel, als hätte er sich selbst erhängt.
„Der Selbstmord ist ziemlich dilettantisch vorgetäuscht“, bemerkte der Beamte der Spurensicherung dazu. „An den Gelenken kann man noch die Spuren einer Fesselung erkennen. Die Höhe passt mit dem Schemel nicht zusammen, und überdies hat das Opfer einen heftigen Schlag auf den Kopf bekommen.“
Er winkte einen seiner Kollegen heran, der einen Plastikbeutel aus einem Karton zog und ihn zu Brock brachte. Der Beutel enthielt ein kurzes Eisenrohr, an dem noch Blut und Haare klebten.
„Die Waffe“, erklärte der Mann der Spurensicherung überflüssigerweise.
„Das Ding muss sofort in die Gerichtsmedizin. Es könnte sein, dass es auch bei dem Toten in der Elbphilharmonie verwendet wurde.“
„Ich nehme mal an, als Sie gestern Abend gingen, erfreute sich dieser Mann noch bester Gesundheit.“
„Allerdings!“
Sie drehten beide die Köpfe, als die Tür aufgerissen wurde, und Dr. Bernd Fischer in der Öffnung erschien. Er war bereits in seinen Schutzanzug verpackt und wirkte außer Atem. Mit raschen Schritten hatte er den Raum durchmessen und richtete seine Aufmerksamkeit auf den Erhängten.
„Einen schönen guten Morgen, Doktor“, begrüßte ihn Cornelius Brock.
Der Pathologe löste seinen Blick von der Leiche. „Wenn ich Sie sehe, ist es immer mit Arbeit verbunden. Ihnen allen ebenfalls einen guten Morgen.“
Er betrachtete zweifelnd den Toten. „Das gut nehme ich zurück.“
Brock senkte seinen Blick auf Fischers Schuhe. „Haben wir heute keinen Golftermin?“
„Nur einmal in der Woche“, knurrte der Arzt. „Mehr ist ja bei diesem Job nicht drin!“
Er umkreiste den Erhängten langsam und nahm die Einzelheiten dabei auf. „Der Mann hat sich nicht selbst erhängt“, stellte er schließlich fest. „Und einer allein hat ihn dort auch nicht hinaufgezogen. Der Tote wiegt mindestens neunzig Kilo. Um dieses Gewicht hochzuhieven, waren mindestens zwei Personen nötig. Ich sehe Fesselungsspuren und eine Platzwunde am Kopf. Das verwendete Seil kommt mir übrigens bekannt vor. Der Tote in der Elbphilharmonie war mit ziemlich identischen Stricken gefesselt.“
„Ähnliche Schlüsse haben wir auch schon gezogen“, sagte der Mann von der Spurensicherung. „Können wir ihn jetzt herunterlassen?“
Der Pathologe nickte. „Ich werde ihn mir gleich heute Nachmittag ansehen.“
Er wandte sich an Brock. „Besuchen Sie mich doch heute noch. Ich habe ein paar Erkenntnisse zu Markus Holler, die ich Ihnen gern mitteilen möchte. Ich bin den ganzen Tag in der Gerichtsmedizin.“
„Gern. Diesen Tatort kann ich jetzt beruhigt Ihnen überlassen.“
Brock verabschiedete sich mit einem Kopfnicken. Er konnte sich darauf verlassen, dass die Kollegen der Spurensicherung sehr gründlich vorgehen würden. Einige Schlüsse hatte er bereits selbst gezogen.
Dieter Schmitz wäre ein wichtiger Zeuge gewesen. Auch wenn er den Mord an Markus Holler nicht direkt gesehen hatte, so hätte seine Aussage doch gereicht, um die beiden Russen in Gewahrsam zu nehmen. Er hatte keinen Zweifel daran, dass sie auch für diesen Mord verantwortlich waren.
Nur eines ließ ihn unentwegt grübeln: Was war ihr Motiv? Aus welchem Grund hatten sie die beiden Männer ermordet?
Sein Smartphone vibrierte. Eine Nachricht war eingegangen. Ein Kollege von der IT-Abteilung bat dringend um seinen Besuch, da er etwas Wichtiges entdeckt hätte.
*
In die Räume der Computerspezialisten verirrte sich Hauptkommissar Brock eher selten. Er hatte sich zwar ausreichende Kenntnisse angeeignet, um seinen Computer zu bedienen, doch ihm war es lieber, mit den Menschen direkt zu kommunizieren. Er hatte wenig Verständnis für die jungen Leute, denen ihr Smartphone zu einer Verlängerung der Hand geworden war und das nur zum ständigen Austausch von Banalitäten diente. Manchmal fragte er sich, ob sie wussten, dass man mit einem solchen Gerät auch einfach nur telefonieren konnte.
Er studierte die Türschilder, bis er die richtige Tür erreicht hatte. Sie war weit geöffnet. Er sah einen großen Raum, vollgestellt mit Schreibtischen, Regalen, Wandschränken und zahlreichen elektronischen Geräten. Am auffälligsten waren die großen Monitore, die teilweise übereinander an den Arbeitsplätzen gestapelt waren.
Mehrere meist junge Beamte starrten auf die Bildschirme oder hämmerten auf ihre Tastaturen.
Einer von ihnen – schon etwas älter, sorgfältig frisiert, gebügeltes Uniformhemd, offenes Gesicht – winkte ihn zu sich heran. „Hauptkommissar Brock?“
„Der bin ich.“ Brock sah auf den Schulterstücken des Mannes einen einzelnen silbernen Stern blinken. „Sie müssen Kommissar Höhne sein.“
„Ganz richtig.“ Er deutete auf einen Drehstuhl. „Nehmen Sie Platz.“
Brock setzte sich und blickte auf den Monitor. Er sah ein eingefrorenes Bild, das er gut kannte: Hollers Jacht, die im letzten Jahr beim Hafengeburtstag ein kleines Boot gerammt und versenkt hatte. Ein Unfall, der seines Erachtens kein Unfall gewesen war.
„Was werde ich jetzt sehen?“, fragte er.
Höhne zoomte das Bild heran. „Wir haben uns den Film genau angesehen und mit unseren Mitteln bearbeitet. Sie hatten recht mit Ihrer Beobachtung, dass die Jacht ihren Kurs ganz leicht geändert hat, sodass sie das Boot mittschiffs traf, wo unglücklicherweise der Bootsführer saß.“
„Also war es kein Unfall?“
Höhne tippte auf ein paar Tasten. Der Film lief ein Stück zurück, dann wieder in Zeitlupe vorwärts. Es war deutlich zu sehen, wie sich die Bugwelle änderte.
„Bitte achten Sie auf das geschlossene Steuerhaus“, sagte Höhne. „Wir konnten die ursprüngliche Aufnahme bearbeiten und die Spiegelung der Scheiben entfernen. Jetzt kann man das Innere sehen.“
„Das sind zwei Personen“, stellte Brock verblüfft fest.
„Genau“, erwiderte Höhne. „Sie reden miteinander, und es wirkt nicht gerade wie ein freundliches Gespräch. Der Mann am Steuer sieht überhaupt nicht nach vorn, da er abgelenkt ist. Natürlich ist die Yacht viel zu schnell, und er handelt fahrlässig, doch er hat das kleinere Boot sicher nicht mit Absicht gerammt.“
Brock lehnte sich zurück. „Dann war es also doch ein Unfall.“
„So sieht es aus.“
Brock wollte sich erheben, als Höhne sagte. „Da ist noch etwas anderes.“ In seiner Stimme lag ein gewisser Triumph.
Brock setzte sich wieder und sah seinen Kollegen neugierig an.
„Wir haben vom Sender auf Anfrage noch ein weiteres Band bekommen. Die Aufnahme wurde von einer anderen Kamera auf der gegenüberliegenden Seite der Elbe aufgenommen. Das Material wurde jedoch nicht gesendet. Das ist normal, denn bei einem solchen Ereignis gibt es zahlreiche Kameras, und die Regie entscheidet, welches Bild gesendet wird.“
„Ja, ja, das ist mir schon klar. Kommen Sie zur Sache!“
Auf dem Monitor erschien ein anderes Standbild. Es zeigte ebenfalls die Yacht, doch diesmal schräg von hinten. Man konnte in das Steuerhaus hineinsehen. Der Mann am Steuer blickte zum Heck, wo ein zweiter Mann gerade einen Schritt auf das hintere Deck machte. Dann schien das Bild zu wackeln, die Jacht hob sich und sank wieder herunter, wobei sie stark schwankte.
„Jetzt wurde das kleine Boot gerammt“, erläuterte der IT-Spezialist.
Wieder ließ Höhne den Film in Zeitlupe laufen. Der hinten stehende Mann wurde zur Seite geworfen, blickte nach vorn und machte einen weiteren Schritt auf das Deck. Er bückte sich, hob ganz langsam eine Sporttasche hoch und warf sie über Bord, wo sie in der Elbe versank. In der Zeitlupe wirkte die ruckelnde Bewegung äußerst merkwürdig.
„Das ist nicht Markus Holler“, bemerkte Brock. „Doch irgendwie kommt mir der Typ bekannt vor, als hätte ich ihn schon einmal gesehen.“
„Holler ist vermutlich der Mann am Steuer. Wir konnten das Bild leider nicht besser aufhellen, und eine weitere Vergrößerung war nicht möglich.“
„Sie müssen sich nicht entschuldigen“, sagte Brock. „Sie haben mir sehr geholfen. Ihre Erkenntnisse ändern einiges.“
Er lächelte. „Allerdings werden damit auch viele neue Fragen aufgeworfen. Wer ist dieser zweite Mann? Worüber haben sie sich gestritten, und was wird über Bord geworfen? Ich wette, wenn wir das herausfinden, wissen wir auch, weshalb Holler getötet wurde.“
*
In den Gängen der Gerichtsmedizin war es kühl, und Cornelius Brock zog den Reißverschluss seiner Lederjacke etwas höher. Zum Glück hatte er sich mit Dr. Fischer in dessen Büro verabredet und nicht wie üblich im Obduktionsraum. Auch wenn Brock schon häufig dort gewesen war, er würde sich nie an diese Umgebung aus Fliesen, Stahltischen und strengem Geruch gewöhnen.
Der Besuch bei den Kollegen der Informationstechnik hatte neue Erkenntnisse geliefert, doch wie fast immer in solchen Fällen waren zwar einige Fragen beantwortet worden, aber dafür waren neue aufgetaucht.
Brock sah auf seine Uhr. Er hatte heute noch einiges vor. Gleich nach dem Gespräch mit dem Pathologen musste er mit Spengler reden, und auch Birgit Kollmann wollte sicher den neuesten Stand erfahren. Außerdem mussten sie sich die Wohnung von Markus Holler ansehen. Das war schon überfällig, auch wenn Brock nicht erwartete, dort auf neue Spuren zu stoßen.
Dr. Bernd Fischer war über seinen Schreibtisch gebeugt und wühlte in Papierstapeln. Seinen weißen Kittel hatte er abgelegt. Er war in einen modischen anthrazitfarbenen Anzug gekleidet, dazu trug er ein taubenblaues Hemd mit einer etwas zu bunten Krawatte.
„Nach Golf sieht es heute nicht aus“, bemerkte Brock und schloss die Tür hinter sich. Die Kühle des Ganges machte einer angenehmen Wärme Platz. Es roch auch nicht nach irgendwelchen Chemikalien. Er fühlte sich sofort wohler.
Fischers Kopf zuckte hoch. Er ging nicht auf die Bemerkung ein. „Sie sind pünktlich.“
Er deutete auf seinen Anzug. „Ich bin gleich zu einem Mittagessen mit Kollegen verabredet, und dazu möchte ich nicht zu spät kommen. Nehmen Sie Platz, es wird nicht lange dauern.“
Brock setzte sich auf einen Drehsessel vor dem Schreibtisch. Ein billiges Standardmodell, das von der Verwaltung offenbar in großer Stückzahl gekauft worden war. Man konnte darauf sitzen, wenn auch nicht besonders bequem.
„Wir haben diesen merkwürdigen Dolch untersucht, den Sie uns gebracht haben“, begann Fischer. „Ich bin sicher, dass es sich um die Tatwaffe handelt, mit der Markus Holler umgebracht wurde. Es gab winzige Blutspuren, die mit bloßem Auge nicht sichtbar waren. Die Blutgruppe stimmt mit der des Opfers überein. Die DNA-Analyse folgt noch. Den Zeitpunkt des Todes konnten wir etwas genauer eingrenzen, nämlich auf die Nacht zum Samstag zwischen drei und sechs Uhr.“
„Das passt zu unseren Erkenntnissen“, bestätigte Brock. „Was ist mit den Fesselspuren?“
„Holler muss vor seinem Tod längere Zeit an Händen und Füßen gefesselt gewesen sein. Er wurde gefoltert – mit heftigen Schlägen, und wie ich Ihnen schon gesagt habe, wurde er zusätzlich einem Waterboarding unterzogen. Es gab Spuren von Wasser in den Atemwegen und der Lunge sowie die entsprechenden Abdrücke im Gesicht. Der Schlag gegen den Kopf hat ihn zumindest für eine kurze Zeit außer Gefecht gesetzt. Ich vermute, dafür wurde das gleiche Rohrstück verwendet, das auch bei unserem Opfer von heute Morgen zum Einsatz kam. Eine nähere Untersuchung erfolgt noch. Eines ist jedoch ganz sicher: Der Tod wurde durch den Dolch herbeigeführt – mit sofortiger Wirkung.“
„Haben Sie sich das Seil aus dem Schuppen schon angesehen?“
Fischer nickte. „Dem ersten Anschein nach handelt es sich um dasselbe Seil, mit dem Holler an diese Saugheber gefesselt wurde. Übrigens ein Seil, wie es von Bergsteigern gern verwendet wird.“
„So etwas wird in Hamburg nicht sehr oft gebraucht“, warf Brock ein.
Fischer sah ihn nachsichtig an. „Es soll auch in dieser Stadt Bergsteiger geben.“
Brock überlegte. „Alle bisherigen Hinweise lassen erkennen, dass die beiden Morde eng zusammenhängen.“
„Da ist noch etwas“, sagte Dr. Fischer.
An diesem Lächeln erkannte Brock, dass der Pathologe jetzt mit einer wichtigen Erkenntnis herausrücken würde, die er sich bis zum Schluss aufgespart hatte. Er neigte manchmal zu einer gewissen Theatralik.
„Ich höre.“
„Wir haben Spuren von Kokain gefunden.“
„Er war süchtig?“, fragte Brock verblüfft.
Fischer schüttelte den Kopf. „Nein, die Spuren waren auf seiner Kleidung und auch in seinen Haaren. Ich habe keine Erklärung, auf welchem Wege die Droge dort hingekommen ist.“
Brock verdaute die neue Information.
„Aber er war nicht süchtig?“, fragte er sicherheitshalber noch einmal nach.
„Nein, eindeutig nicht. Aber er kam mit Kokain in Berührung, als hätte er in einer Wolke davon gestanden. Schwer vorstellbar, wie so etwas möglich sein soll.“
Brock erhob sich. „Wir werden es herausfinden.“
„Noch eine Kleinigkeit“, sagte Fischer. „Holler hatte mehrere Knochenbrüche, post mortem, also nach seinem Tod entstanden. Ich dachte, das sollten Sie auch noch wissen.“
„Könnten diese Brüche entstanden sein, als man ihn in den Kofferraum eines Wagens stopfte?“
„Gut möglich“, stimmte ihm der Pathologe zu.
„Dann danke ich Ihnen für die Informationen. Genießen Sie Ihr Mittagessen!“
*
Kommissaranwärter Horst Spengler stand vor Brocks Schreibtisch, unter jedem Arm einen dicken Aktenordner.
„Ich habe einige Neuigkeiten“, sagte er.
„Setzen Sie sich und legen Sie die schweren Akten weg.“
Spengler ließ sich ächzend auf dem Drehsesselmodell nieder, das auch in der Gerichtsmedizin Verwendung gefunden hatte.
„Als Erstes habe ich heute Morgen alles zu Frank Altmann recherchiert und mir die Akten über den Unfall vom letzten Jahr angesehen.“
„Sie haben keine Verbindung zu Markus Holler oder seiner Familie feststellen können, richtig?“
Spengler starrte seinen Chef sprachlos an. „Woher wissen Sie das?“
Brock spannte seinen Assistenten nicht länger auf die Folter und berichtete ihm, was er an neuen Erkenntnissen besaß, darunter auch die Tatsache, dass der Unfall vom letzten Hafengeburtstag entgegen ihrer ersten Annahme tatsächlich ein Unfall gewesen war. Leichtsinnig, vermeidbar, aber eben doch nur ein Unfall.
„Ich will nicht behaupten, dass es den Richtigen getroffen hat“, bemerkte Spengler, „doch ein wirklicher Verlust für die Menschheit war dieser Tod nicht.“
„Darüber sollten wir nicht urteilen. Was haben Sie noch?“
Spengler blätterte in einem der Ordner. „Ich habe über die professionellen Fensterheber und über Bergsteigerseile nachgedacht.“
Brock hob den Blick zur Decke. „Sie auch?“
Spengler nickte eifrig. „Ja. Wer braucht so etwas in einer Stadt, in der es keine Berge gibt? Dann habe ich mir gesagt, dass niemand solche Fensterheber schnell besorgen konnte, um Markus Holler damit an ein Fenster zu kleben. Also besaß er sie schon vorher, und zwar in größerer Stückzahl. Ich habe dann einige Firmen angerufen, die solche Saugheber vertreiben, und schon bei der dritten bin ich fündig geworden. Innerhalb der letzten zwei Monate hat nur eine einzige Hamburger Firma ein Dutzend dieser Geräte gekauft.“
Brock beugte sich vor. „Sie machen mich wirklich neugierig.“
„Es handelt sich um eine Firma für Gebäudereinigung.“
Brock lehnte sich wieder zurück. „Stimmt, die brauchen so etwas. Aber das ist noch kein Beweis. Und die Bergsteigerausrüstung, wie passt die ins Bild?“
„Die Firma beschäftigt auch Industriekletterer für Spezialarbeiten an Hochhäusern.“
„Spengler, Sie haben mein Interesse!“
Sein Assistent grinste wie ein Honigkuchenpferd. „Das Beste kommt noch. Die Firma, um die es sich handelt, gehört einem gewissen Igor Jennisew, ein gebürtiger Russe.“
Brock schwieg eine ganze Weile.
„Ein Russe!“, sagte er schließlich. „Wir sollten unbedingt mit ihm reden. Mal sehen, wie er uns das erklärt. Haben Sie die Adresse?“
Spengler klopfte auf den Ordner. „Ist hier drin.“
„Doch vorher sehen wir uns die Wohnung von Holler an.“
*
In der Osterstraße war wie üblich viel Betrieb. Der Stadtteil Eimsbüttel war in den letzten Jahren immer beliebter geworden – und die Mieten höher. Viele jüngere Leute belebten die Straße. Die Cafés und Eisdielen waren gut besucht.
„Dort ist es!“
Brock entdeckte das Haus, das noch aus der Kaiserzeit stammte, als Erster. Es machte einen gepflegten Eindruck und schien in jüngerer Zeit renoviert worden zu sein. Die Fassade strahlte in einem matten Weiß, die Fensterumrahmungen waren farblich abgesetzt.
Spengler parkte den Wagen in einem Halteverbot vor dem Haus und klappte die Sonnenblende herunter. Darauf befand sich der Hinweis, dass es sich um einen Wagen im Einsatz handelte. Sie stiegen aus und gingen über den breiten Bürgersteig zu einem offen stehenden halbhohen Gitter, das die Straße von einem winzigen Vorgarten trennte. Einige Stufen führten zur Haustür.
Nach der Anordnung der Klingeln zu schließen, wohnte Holler in der ersten Etage. Brock drückte den Klingelknopf, doch erwartungsgemäß geschah nichts.
Spengler beugte sich zu dem Türschloss hinunter. „Das ist ein Sicherheitsschloss. Wie kommen wir da rein?“
Brock ließ einen Schlüsselbund vor seinen Augen baumeln. „Damit!“
Sie betraten das Haus. Die Anordnung im Inneren entsprach der üblichen Architektur der Stadthäuser dieser Zeit. Ein Flur, unterbrochen von drei Stufen, geradeaus das Treppenhaus. Rechts und links die Wohnungen des Erdgeschosses. Es roch nach frischer Farbe. Stille umgab sie.
Sie stiegen hintereinander die Treppe empor. In der ersten Etage gab es wieder zwei Wohnungen. Die linke gehörte Markus Holler.
Brock steckte seinen Schlüssel ins Schloss und wollte ihn gerade herumdrehen, als er stutzte. Die Tür war nicht abgeschlossen, noch nicht einmal zugezogen worden. Er drückte sie vorsichtig auf, bis ein kleiner Spalt entstand.
In der Wohnung war es dunkel. Brock schob die Tür weiter auf, und sie betraten den Vorraum, von dem mehrere Türen in verschiedene Zimmer führten. Alle waren geöffnet.
Auf der rechten Seite zur Straße hin war ein großer Wohnraum zu sehen, der durch eine Schiebetür mit einem weiteren großen Raum verbunden war, der hier als Speisezimmer genutzt wurde. Die Häuser aus dieser Zeit besaßen alle einen ähnlichen Grundriss: an der Straßenseite die öffentlichen Räume, in die man Besucher führen konnte, zur Rückseite gab es einen langen Flur, von dem die privaten Räume abgingen.
„Da ist uns jemand zuvorgekommen“, stellte Brock leise fest.
Die Bücher aus dem Bücherregal lagen in einem Haufen auf dem Boden, dazwischen Zeitschriften und einzelne Blätter. Die Türen und Schubladen einer Anrichte waren geöffnet, Gegenstände herausgerissen worden. Bilder hingen schief oder lagen ebenfalls auf dem Boden. Hier hatte jemand alles gründlich durchsucht.
Der Rest der Wohnung sah ähnlich aus. Im Schlafzimmer war das Doppelbett auseinandergenommen worden, die Matratze stand hochkant an der Wand, Bezüge und Kissen lagen in einem wirren Haufen daneben. Die Küche sah besonders schlimm aus. Auf den Bodenkacheln lagen zerbrochene Gläser und Geschirr.
„Das muss sich die Spurensicherung ansehen“, sagte Brock und deutete auf einen gerade noch zu erkennenden Schuhabdruck. Da war jemand in die Pfütze einer halb ausgelaufenen Rotweinflasche getreten, die vor der Spüle lag.
„Was hoffen wir hier zu finden?“, fragte Spengler.
„Jetzt nichts mehr“, entgegnete der Hauptkommissar und drehte sich um seine Achse. „Ich frage mich allerdings, was sie gesucht haben.“
„Die Russen?“
Brock wiegte den Kopf. „Vielleicht.“