Читать книгу Martin Luther wird entführt - Alfred Bekker - Страница 5
ОглавлениеDie Gauklerfamilie
Der völlig überladene Wagen der Gauklerfamilie Schreyer rumpelte den ausgefahrenen Weg entlang. Ein magerer Apfelschimmel mühte sich redlich im Geschirr ab. Immer wieder sanken die Räder in den aufgeweichten Boden ein oder es drohte Achsenbruch durch Schlaglöcher.
„Glaubst du, wir kommen heute noch nach Worms?“, fragte Wolfgang. Der Elfjährige mit dem zerzausten, dunkelblonden Haar, dem groben Gewand aus grauem Leinen und den schon ein Dutzend Mal geflickten Hosen saß zusammen mit seinem vier Jahre älteren Bruder Jakob auf der Ladeklappe. Immer wenn der Wagen stecken blieb, mussten die beiden Jungen absteigen und schieben. Und das war oft der Fall.
„Jeder will im Augenblick nach Worms“, sagte Jakob. „Das siehst du doch daran, wie die Straße aussieht.“
Wolfgang seufzte. „Nur wegen des Kaisers und weil ein Reichstag einberufen wurde!“
„Wer weiß, ob der Weg nicht noch schlechter wird – und dann schaffen wir es heute bestimmt nicht mehr.“
Wolfgang zuckte mit den Schultern. „Hauptsache, wir haben ein paar gute Auftritte – und die Taler sitzen locker, wenn wir unsere Kunststücke und Possen vorführen.“
Abertausende waren aus dem ganzen Heiligen Römischen Reich nach Worms unterwegs: Kaiser, Fürsten und ihre Gefolge ebenso wie Händler, Bader, Schweinetreiber und Fuhrleute, die einfach nur ein gutes Geschäft machen wollten. Dazu kamen unzählige Bettler. Sie hofften auf Barmherzigkeit unter den hohen Herrschaften, die zu einem solchen Ereignis zusammenkamen.
Wieder einmal blieb der Wagen stecken. Der Weg führte durch einen finsteren Wald. Es hatte in den letzten Tagen immer wieder geregnet, und jetzt war der Boden weich und feucht. Die Spuren unzähliger Pferdewagen furchten sich zum Teil knietief in den Untergrund. Auf jedem Acker wäre die Fahrt auch nicht schwerer gewesen.
„Na los, absteigen!“, forderte Jakob und sprang vom Wagen, der von einem Tuch überdacht wurde, um die wenigen Habseligkeiten der Familie zu bergen. Das waren vor allem einige lustige Kostüme, Kleidungsstücke in bunten Farben sowie Mützen, Hüte und Requisiten, die für die Aufführungen gebraucht wurden. Eine Laute, eine Flöte und eine Trommel gehörten auch dazu.
Wolfgang folgte dem Beispiel seines Bruders und sprang ebenfalls vom Wagen, während das Pferd laut und vernehmlich wieherte.
Abgesehen vom Schlamm stieg das Gelände jetzt auch noch leicht an. Das war einfach zu viel für den Apfelschimmel, der seine besten Jahre ohnehin schon lange hinter sich hatte. Heinrich Schreyer, Wolfgangs Vater, hatte ihn vor ein paar Monaten einem Abdecker für ein paar Münzen abgekauft. Ein anderes Pferd konnten sich die Gaukler nicht leisten, zumal ein harter Winter hinter ihnen lag, in dem es wenig Gelegenheiten gegeben hatte, im Freien sein Publikum zu finden.
Eine Hand streckte sich Wolfgang entgegen. „Hilf mir!“, verlangte eine helle Stimme. Sie gehörte Marie, seiner kleinen Schwester. Sie hatte zwischen den Sachen gekauert und wollte nun ebenfalls vom Wagen herunter. Schließlich musste das Gewicht vermindert werden, soweit es ging. Marie konnte nicht einfach springen. Sie hatte einen Klumpfuß und ein verkrüppeltes Bein. Sie war damit geboren worden und ihre Mutter sah es als eine Strafe Gottes an, dass dies geschehen war. Immer wieder hatte Wolfgang gehört, wie sich Mutter und Vater darüber unterhalten hatten. Wieso dieses Unglück ausgerechnet sie getroffen habe und ob es nicht eine Möglichkeit gebe, sie davon zu erlösen. Den Wagen anschieben helfen konnte die kleine Marie nicht – und so vieles andere würde sie niemals erlernen, denn abgesehen von ihrem Klumpfuß war sie auch nicht besonders klug. Es war völlig ausgeschlossen, dass sie jemals einen Mann finden oder dass irgendein hoher Herr sie vielleicht als Küchenhilfe aufnehmen würde. So würde sie ihren Eltern auf immer zur Last fallen. Und nach deren Tod war ihr Schicksal völlig ungewiss.
Johanna Schreyer stieg jetzt auch vom Wagen, und als alles Schieben nichts half, sprang schließlich auch Heinrich Schreyer von seinem Kutschbock. Er war ein großer, kräftiger Mann, der früher einmal als Fuhrmann gearbeitet hatte und deshalb auch so genannt worden war: Heinrich Fuhrmann. Aber seitdem er das Gewerbe gewechselt hatte, wurden er und seine ganze Familie Schreyer genannt. Denn tatsächlich konnte auf allen Märkten im weiten Umkreis niemand lauter schreien als Wolfgangs Vater, weswegen er auch hin und wieder von Händlern als Marktschreier engagiert wurde, um deren Waren lauthals anzupreisen. Aber auch während ihrer Aufführungen kam es auf die Lautstärke an – denn je mehr Leute ihre Witze und lustigen Verse hörten, desto mehr waren vielleicht willens, dafür eine Kupfermünze in den Hut zu werfen.
„Versuchen wir es noch einmal“, ermutigte Vater Heinrich den Rest seiner Familie.
„Wir schaffen es nicht“, meinte Wolfgang. „Der Morast ist einfach zu tief und außerdem geht es bergauf.“
„Mit Gottes Hilfe kommen wir über diesen Berg“, war Mutter Johanna überzeugt.
Noch einmal nahmen sie alle ihre Kräfte zusammen. Wolfgang schob zusammen mit Jakob und Vater von hinten. Mutter half ebenfalls mit, indem sie den Apfelschimmel zu ziehen und anzutreiben versuchte. Nur Marie stand daneben und sah sich alles mit ihren großen Augen an. Sechs Jahre war das Mädchen. Mutter achtete immer darauf, dass ihre Kleider lang genug waren. So lang, dass der Saum den Boden berührte und sie mit ihren ungeschickten Schritten aufpassen musste, nicht darauf zu treten und zu stolpern. Aber es sollte einfach nicht jeder auf den ersten Blick sehen, was mit Marie los war und wie sehr Gott die Familie gestraft hatte, indem er Marie so verkrüppelt auf die Welt hatte kommen lassen.
Niemand sagte es ihr, aber im Grunde wollte auch niemand, dass sie ihre ohnehin schwachen Kräfte dafür einsetzte, dass es mit dem Wagen vorwärts ging. Schließlich war sie eine ausgemachte Unglücksbringerin.
So sehr sich alle anstrengten, der Wagen kam einfach nicht voran. Im Gegenteil! Das Hinterrad schien sich immer tiefer in den Morast hineinzudrehen.
„Wir schaffen es nicht“, stöhnte Wolfgang.
„So schnell geben wir nicht auf!“, widersprach Vater Heinrich. „Oder sollen wir vielleicht hier im Wald bleiben und erst in Worms ankommen, wenn der Reichstag schon wieder vorbei ist? Wenn niemand mehr einen Taler in der Tasche hat, weil alles Geld an die Händler, Bettler und Taschendiebe gegangen ist?“
Da kam ein bärtiger Wanderer daher. Er trug ein kleines Bündel über der Schulter und ein abgewetztes Wams, dazu eine Mütze und einen breiten Gürtel, an dem außer einem langen Messer auch eine kleine Tasche und ein Geldbeutel hingen. Der Bart war spitz und machte sein Gesicht noch länglicher, als es ohnehin schon war.
Als der Wanderer sah, wie sich die Familie vergebens plagte, um den Wagen aus dem Schlamm zu ziehen, blieb er stehen.
„Wie mir scheint, könnt ihr ein paar kräftige Hände gebrauchen. Ich helfe gerne!“, sagte er.
„Nur zu – wenn Ihr dafür keinen Lohn in Form von Talern erwartet“, sagte Vater.
„Davon haben wir nämlich zurzeit selbst nicht genug, müsst Ihr wissen“, fügte Mutter hinzu.
„Mit einem Mann mehr werden wir das Rad sicher aus dem Schlamm bekommen“, war Wolfgang zuversichtlich.
Der Wanderer nahm sein Bündel vom Rücken und warf es auf den Wagen. Dann fasste er mit an. Zwei Versuche brauchten sie, dann geriet der Wagen in Bewegung. Das eingesunkene Hinterrad kam wieder aus dem Morast hervor. Es drehte sich einmal und noch einmal und dann war man wieder auf festerem Grund. Mutter trieb das Pferd vorwärts, so sehr sie konnte. Erst als der Wagen dann endlich wieder sicheren Stand hatte, ließ sie das Tier anhalten. Der Apfelschimmel schnaubte so heftig, als hätte ihn das die letzten Kräfte gekostet.
„Na, wer sagt's denn!“, meinte Heinrich Schreyer. Er wandte sich an den Fremden. „Wie heißt Ihr?“
„Mein Name ist Hans Sachs, Schuhmachermeister und Meistersinger aus Nürnberg. Und ich bin - wie wahrscheinlich zurzeit mehr als das halbe Reich – unterwegs nach Worms.“
„So haben wir denselben Weg“, stellte Heinrich fest. „Wenn Ihr wollt und unser lahmer Klepper es schafft, könnt Ihr auf unserem Wagen Platz nehmen.“
„Da meine Füße schon wund gelaufen sind und ich überall Blasen und Schwielen an den Zehen habe, sage ich dazu nicht nein“, gab Hans Sachs zur Antwort.
Heinrich machte eine ausholende Bewegung. „Dies ist meine Familie. Meine Frau Johanna und unsere Söhne Wolfgang und Jakob.“
Wolfgang nickte dem Fremden zu. Ein Fremder, der in gewisser Weise auch ein alter Bekannter war. Denn von Hans Sachs, dem Meistersinger, hatte selbst er schon gehört. Sachs war für seine lustigen Verse bekannt. Überall spielten Sänger seine Lieder oder druckten die Texte nach. Und vor einem Jahr hatten die Schreyers zu Karneval ein Faschingsspiel aufgeführt, das von Hans Sachs stammen sollte. Wolfgang hatte darin die Rolle eines Trottels spielen müssen, dem alles misslang. Nicht sehr angenehm, wie er zunächst fand. Aber das Publikum hatte sich gebogen vor Lachen. Jakob war allerdings der Meinung gewesen, das läge nur an den bunten Gauklerkleidern, die Wolfgang dafür angezogen hatte – und daran, dass die Leute schon sehr viel Bier getrunken hatten. Aber in Wahrheit war Jakob wohl nur neidisch gewesen, weil Vater Wolfgang - und nicht ihm – die Hauptrolle gegeben hatte.
Die größte Schwierigkeit war es gewesen, den Text zu beschaffen. Einen Druck, wie er auf den Märkten angeboten wurde, hatten sich die Schreyers nicht leisten können. Davon abgesehen war keiner von ihnen im Lesen so geübt, dass er ein Schriftstück von immerhin mehreren Seiten flüssig hätte entziffern können. So hatten sie das Stück einfach nur ungefähr nachgespielt, nachdem sie es sich bei einer anderen Aufführung angesehen hatten. Hauptsache, die Handlung und die witzigen Stellen waren gleich. Ansonsten musste ja nicht alles wörtlich übereinstimmen, hatte Heinrich gemeint. Oder sollte man vielleicht päpstlicher sein als der Papst?
„Ihr seid wirklich der bekannte Meistersinger?“, fragte Wolfgang ungläubig.
„Aus Fleisch und Blut!“, bestätigte Hans Sachs. „Oder hältst du mich für eine Spukgestalt?“
„Nein, nein ...“, beeilte sich Wolfgang zu sagen.
Hans Sachs drehte sich nun zu der kleinen Marie um, die in ihrem eigentlich viel zu langen Kleid dastand und den für sie fremden Mann aufmerksam betrachtete. Vor allem schien sie zu interessieren, was er in seinem Bündel hatte.
„Na, wer bist du denn?“, fragte Hans.
„Marie“, sagte sie.
Johanna nahm Marie auf den Arm und trug sie fort. „Komm in den Wagen!“, sagte sie. Eigentlich hatte Johanna ihre Tochter nur deshalb auf den Arm genommen, um zu verhindern, dass der Fremde die Verkrüppelung des Mädchens bemerkte. Aber Marie strampelte mit den Beinen und dabei rutschte ihr Kleid so weit hoch, dass für einen Moment lang ihr Klumpfuß zu sehen war. Johanna erstarrte, als sie Hans Sachs‘ Gesicht sah und begriff, dass er dieses Teufelszeichen gesehen hatte. Sie schluckte. „Wir sind gestrafte Sünder“, sagte sie. „Aber bis jetzt konnten wir uns keinen Ablassbrief zur Vergebung unserer Sünden leisten, weil der letzte Winter so hart war. Außerdem ist unser Pferd gestorben, und deshalb mussten wir diesen halbtoten Apfelschimmel kaufen. Ob Ihr unter solchen Umständen mit uns reisen wollt, müsst Ihr selbst entscheiden.“
„Ich sehe keinen Grund, das nicht zu tun“, erwiderte Sachs.
„Dann beklagt Euch hinterher aber nicht über das Unglück, das Euch dann vielleicht widerfährt!“