Читать книгу Ich darf mich nicht verwandeln - Alfred Bekker - Страница 6

1

Оглавление

Mein Name ist Darry Pendor.

Und ich bin ein Außenseiter.

Und das in vielfacher Hinsicht.

Vor allem darf ich mich nicht verwandeln. Denn dann werde ich zu einer reißenden Bestie, die sich nur noch sehr eingeschränkt kontrollieren kann.

Das macht mein Leben etwas kompliziert. In beruflicher Hinsicht, aber erst Recht in privater. Schließlich will ich es vermeiden, meine Zähne in den Hals irgendeines Unschuldigen zu schlagen. Immer kann ich das nicht.

*


Es hat uns schon immer gegeben, heißt es. Ganz gleich, wie man uns auch genannt haben mag - Werwolf, Mannwolf, Lykaner, Gestaltwandler: Wir waren immer da. Aufgefallen sind wir nur, wenn es dem ein oder anderen von uns nicht gelungen ist, diesen Drang nach der Verwandlung zu unterdrücken. In gewissen Situationen ist das sehr schwer. Dann will die innere Bestie unbedingt heraus. Das ist wahrscheinlich bei jedem so. Nur dass nicht jeder das Talent hat, sich auch tatsächlich verwandeln zu können.

Talent oder Fluch.

Man kann das durchaus von mehreren Seiten betrachten.

Aber ganz ehrlich: All diejenigen, die immer sagen, man sollte alles möglichst positiv sehen, haben in Wahrheit keine Ahnung.

Ich kann der Tatsache, dass ich ein Werwolf bin, nichts Positives abgewinnen.

Andererseits habe ich auch nicht die Macht, es zu ändern. Also muss ich damit leben.

*


Mein Leben ist ganz schön kompliziert geworden, seit ich angefangen habe, mich zu verwandeln. Es war nach einer Verletzung an der Hand. Anscheinend breitet sich das Werwolf-Syndrom wie ein Infektion aus. Und genauso, wie viele andere Infektionen, wird auch diese wohl für immer unter den Menschen bleiben.

Da lerne ich diese umwerfend gutaussehende Frau kennen. Sie heißt Lydia. Und sie arbeitet in irgendeinem dieser tollen Geschäfte in Manhattan. Wir kommen uns näher, verstehen uns.

“Was machst du denn so?”, fragt sie.

“Ich bin beim FBI”, sage.

“Also ein Cop”, stellt sie fest und bei ihr klingt das so, als würde sie sagen: Für die Familienplanung schon mal ungeeignet. Zu viele Überstunden und unregelmäßige Arbeitszeiten.

“Ja”, sage ich.

Wir kommen trotzdem an diesem Abend zusammen, landen in ihrem Bett.

Der Sex mit ihr ist ganz okay. Sie ist nicht sehr fantasievoll. Aber sie hat schöne Brüste.

Irgendwann in der Nacht stehe ich auf.

Mit dem Vollmond hat das nichts zu tun. Was man da so erzählt ist Unsinn. Den Vollmond sieht man in einer Stadt wie New York, die bekanntermaßen niemals schläft, überhaupt nicht. Da strahlen immer ein paar andere Dinge sehr viel heller. Ist einfach so.

Jedenfalls stehe ich auf.

Ich ziehe mich an.

“Du willst schon gehen?”, fragt sie. Sie hat mich bemerkt.

“Ja.”

“War’s nicht schön?”

“Doch.”

“Wäre doch schön, wenn wir noch frühstücken.”

Ja, wäre schön, denke ich. Nur würde ich dann sie frühstücken.

*


Ich sage irgendetwas Nettes zu ihr und sie schläft wieder ein. Ich betrachte die geschwungene Linie ihres nackten Körpers. Die Decke ist zur Seite gerutscht. Licht von der Neonreklame fällt in den Raum, scheint auf ihre wundervollen Brüste. Ich denke: Wirklich schade, dass ich nicht bleiben kann. Aber wenn ich mich verwandle, werde ich zum Tier.

Dann würde nicht viel von ihr übrig bleiben.

Ich würde sie zerfetzen.

Es ist nicht so, dass ich die Sache mit der Wandlung und alles, was danach kommt, nicht kontrollieren kann. Ich kann es eben nicht vollkommen kontrollieren. Und wenn ich den Drang spüre, das Tier in mir freizulassen, dann bin ich besser weit weg von jedem, der dabei im Weg stehen könnte.

Ich gehe nicht durch die Tür.

Das Fenster ist genauso gut.

Es ist eines dieser alten Schiebefenster, wie sie noch in vielen New Yorker Brownstone-Häusern verbaut sind.

Ich schiebe es hoch.

Langsam.

Damit es keinen Krach gibt.

Dann steige ich hinaus und verwandle mich dabei. Ich kann sehr gut klettern, wenn ich verwandelt bin. Mit einem Wolf hat die Kreatur, zu der ich werde, nur am Kopf etwas Ähnlichkeit. Ein Monstrum mit Wolfskopf, dazu werde ich. Und ich kann dann besser klettern als jeder Affe oder jede Katze. Ich habe Kräfte, die unglaublich sind.

Ich verlasse die Wohnung, schnelle die Wand entlang, finde Halt in den kleinsten Ritzen und Fugen des Mauerwerks. Die Instinkte leiten mich. Wilde, tierische Instinkte.

Ich springe von Dach zu Dach. Ein grausiger Schatten in der Nacht.

Mir selbst möchte ich jetzt nicht begegnen.

*


Ein Problem, mit dem unsereins immer wieder mal zu tun hat, sind sogenannte Dämonenjäger. Sie glauben, dass sie die Menschheit vor Geschöpfen, wie ich es bin, bewahren müssen. Sie denken, dass man uns ausrotten müsste, denn wir seien Verkörperungen des Bösen.

Einer dieser Typen überraschte mich auf meinem Streifzug.

Ein Kerl, der einen langen Ledermantel trug - und einen magischen Dolch. Magische Waffen sind typisch für diese Leute. Kreuze, Gemmen, heilige Schwerter, Dolche und was weiß ich noch alles. Ich habe sogar schon von Wasserpistolen mit Weihwasser gehört. Übel sind selbstkonstruierte Strahlenwaffen oder Einhandarmbrüste, die wahlweise mit Holz- oder Silberprojektilen bestückt werden. Da sind manchmal richtig fiese Sachen dabei, vor denen man sich in Acht nehmen muss.

Mit diesem Typen hatte ich allerdings keine Probleme.

Sein Dolch leuchtete magisch auf. Er schleuderte ihn in meine Richtung und das Ding flog wie eine magisch ferngelenkte Drohne.

Mit einem Schlag meiner Pranke fing ich das Ding ab und schleuderte es zur Seite. Im nächsten Moment war ich bei dem Typen und versetzte ihm einen Schlag mit der anderen Pranke. Er wurde gegen eine Hauswand geschleudert, rutschte daran zu Boden und stöhnte auf.

Vielleicht hätte ich ihm besser gleich den Kopf abgebissen, aber ich hasse Gewalt. Und offenbar kommt selbst in meiner Wolfsgestalt manchmal noch der friedliche Gesetzeshüter in mir durch...

“Murphy, mein Lehrling - du Versager!”, hörte ich eine Stimme sagen.

Sie gehörte zu einer Gestalt in einer Kutte.

Die Kapuze war über den Kopf gezogen.

Nur die Augen waren im Schatten der Kapuze zu sehen.

Sie leuchteten magisch.

“Meister Darenius!”, stieß der Typ im Ledermantel hervor.

“Du bist eine Schande für unseren gesamten Orden!”

“Meister!”

“Schwache Magie eines schwachen Geistes! Du wirst noch viel lernen müssen. Selbst ein gewöhnlicher Werwolf ist so nicht zu töten...

“Ja, Meister!”

“Aber du wirst eine zweite Chance bekommen, deine Beute zu erlegen...

Ich riss mein Maul auf, dachte daran, mich auf die beiden zu stürzen.

Der Meister erschuf mit einer Handbewegung ein leuchtendes Tor. Für einen Moment wurde es taghell. Sein Lehrling rappelte sich auf. Der fortgeschleuderte Dolch flog in seine Hand. Und im nächsten Moment waren sowohl der Meister als auch der Lehrling durch das Tor verschwunden.

Das Lichttor war ebenfalls im nächsten Moment nicht mehr da.

Ich brüllte in ohnmächtiger Wut.

Und dann kehrte ich in einem weiten Bogen von meinem Streifzug durch die Nacht zurück.

*


Ich erreiche schließlich meine eigene Wohnung auf der Westside.

Ich bin erschöpft von meiner Reise durch die Nacht.

Ich verwandle mich zurück und ein paar Stunden bleiben mir jetzt noch, um zu schlafen. Tief und fest und traumlos.

Sie können sich jetzt vorstellen, dass mein Leben etwas komplizierter sein könnte, als bei normalen Leuten?

Ja?

Und zwar in jeder Hinsicht.

Egal, ob ich im FBI Field Office meinem Chef bei Dienstbesprechung gegenüber sitze, einen Kriminellen verhöre, mit meinem Kollegen ein Bier trinken gehe oder eine Frau kennenlerne:

Ich.

Darf.

Mich.

Nicht

Verwandeln.

Ist schwerer durchzuhalten, als man glaubt.

Haben Sie schon mal Ihrem Chef gegenüber gesessen und wollten ihm am liebsten mit den Zähnen an die Gurgel?

Ich glaube schon.

Solche Momente hat jeder.

Wirklich jeder.

Das Dumme für mich ist nur: Bei mir könnte das wirklich passieren.

*


Und dann ist da noch was. Vielleicht bin ich eine Bestie. Oder sagen wir es anders: Ich verwandele mich ab und zu in eine Bestie und versuche, den Schaden für die Allgemeinheit so klein wie möglich zu halten.

Ich kann nichts dafür, dass ich so bin, wie ich bin. Wie gesagt, es ist wie eine Infektion und es gibt viele von uns. Gestaltwandler. Monster unter Menschen.

Aber seit ich selbst so bin, hat sich mein Blick auf viele Dinge geändert.

Ich jage Verbrecher.

Sonst kann ich nichts.

Ich bin Special Agent des FBI mit Pensionsberechtigung und allem Pi Pa Po.

Aber in mir lebt ein Monster, das ab und zu nach außen dringt und sichtbar wird.

Allerdings frage ich mich manchmal, wer eigentlich das größere Monster ist: Ich, der Werwolf - oder einer der Serienkiller, hinter denen wir her sind.

Glauben Sie mir, es gibt auch ganz normale Menschen, die sich nicht regelmäßig in einen Werwolf verwandeln, aber trotzdem wahre Monster sind.

Dazu muss man sich nicht unbedingt verwandeln.

*


Ich erwachte am frühen Morgen. Stand auf, sah in den Spiegel und dachte: Sieht eigentlich ganz normal aus. Aber das war nicht mein wahres Gesicht...

Ich dachte daran, dass gleich zum Field Office fahren würde.

Auf dem Weg dahin würde ich meinen Kollegen abholen. Und dann würde uns der Chef irgendeine Aufgabe geben. Ermittlungen in irgendeinem Fall, den wir lösen mussten.

Meistens begann es mit einer Leiche. Oder mit mehreren.

Früher mal habe ich gedacht, auf der Seite des Guten zu stehen.

Inzwischen wusste ich, dass das Böse in mir selbst war.

Aber mit diesem Problem war ich nicht allein, denke ich.

Auf mich warteten zwei Monster.

Eins, das in mir selbst war.

Und eins, das zu jagen meine Aufgabe war.

Ich sah auf mein Handy.

Lydia hatte mir eine Nachricht geschrieben.

>Sehen wir uns nachher noch?<

*


An einem anderen Ort.

In derselben Nacht...

Vom nahen Highway drangen Motorengeräusche herüber. Lichter wanderten entlang des Fahrbahnverlaufs durch die Dunkelheit. Caleb Dunston drehte sich kurz um, griff zum dritten Mal innerhalb von zehn Sekunden zu der Waffe, die er unter dem Jackett des dunkelgrauen Dreiteilers trug. Bevor er den Drugstore betrat, drehte er sich noch einmal um. Sein Gesicht wirkte angespannt. Schweißperlen standen auf seiner Stirn. Sein Puls raste. Keine Spur von IHNEN!, dachte er. Gut so! Die Hoffnung, dass SIE ihn inzwischen nicht mehr verfolgten, hatte Dunston aufgegeben. Im Augenblick musste er damit zufrieden sein, dass er vor seinen Verfolgern einen Vorsprung hatte, der es ihm erlaubte, Danny’s Drugstore an der Interstate 87, dem sogenannten New York Thruway zwischen dem Big Apple und Albany zu betreten und dort einen Kaffee zu trinken. Es hätte nämlich nicht viel gefehlt und er wäre am Steuer eingeschlafen.

Er löste den ersten Knopf seines Hemdkragens, bevor er die Tür des Drugstore passierte. Lebend bis nach Albany gelangen – das erschien ihm im Moment wie ein Ziel, das fast unerreichbar war.

Dunston ließ den Blick schweifen. Hinter dem Tresen stand ein großer, breitschultriger Man, auf dessen T-Shirt in großen Buchstaben I’M DANNY aufgedruckt war, womit er wohl signalisieren wollte, dass man es bei ihm mit dem Boss in Danny’s Drugstore zu tun hatte.

Dunston bemerkte einen Mann mit hoher Stirn, die so sehr glänzte, dass sich in ihr sich das Licht der Neonröhren spiegelte. Er trug eine Brille mit schwarzem Horngestell, die ihm auf der Nase zu drücken schien, denn er nestelte immer wieder an dem Gestell herum.

Einen Augenblick fragte sich Dunston, ob er einer von IHNEN war. Dicke Brillen eigneten sich hervorragend zum Verstecken von Ohrhörern und Mikrofonen, wie sie Observationsteams benutzten. Besonders stark schien die Brille auch nicht zu sein. Möglicherweise Fensterglas!, dachte Dunston.

Wie erstarrt stand er da und konnte sich im letzten Moment bremsen, um nicht einfach instinktiv unter die Jacke zu greifen und die Waffe herauszureißen.

Der Mann mit der dicken Brille schien sich für den Ständer mit Karten und Stadtplänen zu interessieren. Zumindest tat er so.

Er blätterte in einem Reiseführer über New York City herum und stellte ihn wieder zu den anderen.

Dann blickte er auf und sah Dunston für einen Moment an.

Das Gesicht war V-förmig und sehr schmal, was die abstehenden Ohren dafür umso größer wirken ließ.

An dem spitz zulaufenden Kinn befand sich ein deutlich sichtbares Grübchen.

Dunston schluckte. Er versuchte, sich zu erinnern, ob dieser Mann zu IHNEN gehörte und er ihn schon einmal gesehen hatte. Vielleicht in anderer Kleidung und kosmetisch verändert...

„Ist was?“, fragte der Mann mit Brille.

Der Schweiß auf Dunstons Stirn fühlte sich jetzt eiskalt an.

Er öffnete halb den Mund und war im ersten Moment vollkommen unfähig, auch nur einen einzigen Ton herauszubringen.

„Geht es Ihnen nicht gut?“, fragte der Mann mit der Brille.

„Alles in Ordnung“, meinte Dunston, obwohl sein Herz raste und er das Gefühl hatte, als ob jemand einen Spanngurt um seinen Brustkorb gespannt hätte und diesen nun langsam immer fester zurrte.

Dunston ging weiter Richtung Tresen. Eine Frau von Mitte dreißig saß dort vor ihrem Kaffee. Sie trug ein seriös wirkendes Kostüm. Das blonde Haar war leicht gelockt.

„Einen Kaffee“, wandte sich Dunston an den Mann mit dem Danny-T-Shirt. „Und ich hoffe, dass er besonders stark ist.“

„Für Sie also einen Leichenwecker, Mister?“

„Ja.“

Er grinste.

Aber dieses Grinsen erstarb sofort, als er die Schweißperlen auf Danys Stirn sah.

„Ist es Ihnen zu warm hier?“

„Nein, nein, ist alles in Ordnung.“

„Sagen Sie, ich kenne Sie doch. Fahren Sie die Strecke nicht öfter?“

„Tut mir Leid, aber mir ist im Moment nicht nach Small Talk“, sagte Dunston.

„War ja nur ´ne Frage, Mister. Ich dachte, ich hätte Sie hier schon mal gesehen.“

Das Telefon klingelte und der Mann mit dem „I’M DANNY“ T-Shirt ging an den Apparat.

„Nehmen Sie das Danny nicht übel“, sagte die Frau mit den blonden Locken. „Das macht er bei jedem.“

Dunston lächelte matt. Immer wieder kehrte sein Blick dabei zu den blonden Haaren zurück, die sich auf ihren schmalen Schultern kräuselten.

Dunston nippte an seinem Kaffee. „Wenigstens ist sein sogenannter Leichenwecker wirklich das, was er sein sollte – nämlich stark!“

„Ja, hier halten viele Trucker, die viel zu lange auf dem Bock sitzen und glauben, dass sie mit einer Tasse des Gebräus wenigstens noch bis Kingston kommen!“ Sie stutzte. „Ist irgendetwas mit meinen Haaren nicht in Ordnung oder warum starren Sie...“

„Es ist alles in Ordnung, Ma’am. Es ist nur so: Jemand der mir sehr nahe stand hatte die Haare genauso wie Sie. Und für einen Moment sind meine Gedanken etwas abgeschweift.“

Sie runzelte die Stirn.

Dann blickte sie auf die Uhr an ihrem Handgelenk und sagte: „Es wird Zeit für mich.“ Sie wirkte plötzlich nervös.

Danny war immer noch am Telefon.

Sie holte ihre Kreditkarte aus der Handtasche und tickte damit unruhig auf dem Tresen herum.

Als sie stille hielt, konnte Dunston den Namen lesen, der dort eingetragen war.

Rita Greedy.

„Das dauert wohl noch eine Weile“, meinte sie.

Dunston blickte auf die Uhr.

„Zu lange für mich.“ Er kippte den Leichenwecker mit ein paar kräftigen Schlucken hinunter und legte einen Schein auf den Tresen.

Ich darf mich nicht verwandeln

Подняться наверх