Читать книгу Ich darf mich nicht verwandeln - Alfred Bekker - Страница 9
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ОглавлениеIch fasste mir ins Gesicht.
Aus irgendeinem Grund dachte ich, dass da Haare wären und ich im Begriff war, mich zu verwandeln.
War aber blinder Alarm.
“Was ist?”, fragte mein Kollege. “Beim Rasieren geschnitten?”
“Nein.”
“Nicht gesprächig heute?”
“Nein.”
“Hm.”
Als wir den Tatort an der Interstate 87, ungefähr zwanzig Meilen südlich der Stadt Kingston erreichten, war es ungefähr zehn Uhr morgens. Schon von weitem konnte man die Einsatzfahrzeuge des zuständigen County-Sheriffs und der New Yorker State Police sehen. Unübersehbar auch der Leichenwagen des zuständigen Coroners.
Wir waren mit insgesamt drei Fahrzeugen unterwegs. Mein Kollege Yancey Blocker und ich fuhren wie üblich mit unserem Sportwagen.
Unsere Kollegen Jay Kronburg und Leslie Morell folgten uns in einem unscheinbaren Chevy aus den Beständen unserer Fahrbereitschaft, während unsere Erkennungsdienstler Sam Folder und Mell Horster mit einem Ford Maverick unterwegs waren.
Gleich am Morgen hatte Mr Brockman, der Chef des FBI Field Office New York uns alle in seinem Büro versammelt und uns darüber in Kenntnis gesetzt, dass der Fall des sogenannten „87er Monsters“ jetzt offiziell in der Zuständigkeit des FBI Field Office New York lag.
Es ging dabei um eine Serie von Morden an Frauen. Die Tatorte lagen entlang des New York State Thruway, der Interstate 87, die den Großraum New York mit Albany, der Hauptstadt des gleichnamigen Bundesstaates verband. Sieben Opfer gab es bis jetzt. Frauen zwischen zwanzig und fünfzig, die vor allem durch ein gemeinsames Merkmal auffielen: Sie waren blond.
Der erste dieser Fälle lag fünf Jahre zurück, die letzten drei hatten sich jedoch im Verlauf dieses Jahres ereignet. Dazu kam noch ein Fall aus Newark, New Jersey, der einige Ähnlichkeiten mit den an Morden des „87er Monsters“ aufwies und nach Ansicht unserer Experten vom selben Täter begangen worden war, auch wenn der Tatort nicht ins Muster zu passen schien.
Die Jagd nach dem „87er Monster“ war zu einem Fall geworden, der inzwischen nicht nur die Grenzen von New York State überschritt, sondern auch die Möglichkeiten des Albany Police Department, das den Fall bisher bearbeitet hatte.
Der Druck der Öffentlichkeit hatte bei der Entscheidung, uns den Fall zu überlassen, sicherlich auch eine Rolle gespielt. Die letzten Morde des „Monsters“ waren innerhalb weniger Wochen begangen worden und so war mancherorts eine regelrechte Hysterie ausgebrochen. Insbesondere natürlich in den kleinen bis mittleren Ortschaften entlang der Interstate 87 Richtung Albany, auf deren Gebiet die Morde geschehen waren.
Wir begrüßten Jay und Leslie.
Jay wirkte ziemlich mitgenommen. Der ehemalige Cop im Dienst des New York Police Department unterdrückte mehrfach ein Gähnen.
„Wir hatten gestern bis spät in die Nacht eine Observation“, entschuldigte ihn Leslie. „Darum sind wir noch ziemlich müde.“
„Aber dieses sogenannte 87er Monster hat plötzlich Priorität und deswegen hat man uns von diesem Fall nun zugeteilt“, ergänzte Jay Kronburg und seufzte hörbar. „Dass man nicht einfach einen Fall in Ruhe zu Ende machen kann.“
„Ich schätze, da haben wir einfach den falschen Job!“, meinte Yancey.
Jay hob die Schultern. „Mag sein. Aber Wünsche wird man ja wohl noch äußern dürfen.“
„Nur leider richten sich die Gangster im Allgemeinen nach allem möglichen – nur nicht nach den Wünschen von FBI-Beamten“, meinte Leslie.
„Lasst uns keine Zeit verlieren“, mahnte ich. Es lag mit Sicherheit jede Menge Arbeit rund um den Tatort und in der weiteren Umgebung vor uns.
Einer der Mitarbeiter des County Sheriffs, an dessen Uniformjacke in Großbuchstaben DEPT. J.MARKOWITZ aufgestickt war, begrüßte uns und brachte uns zum Sheriff, der gerade in ein Gespräch mit einer Frau vertieft war. Sie war schätzungsweise Anfang dreißig, hatte blondes, leicht gelocktes Haar und strahlend blaue Augen. Ihre Garderobe war schlicht und stilvoll, ließ die aufregende Figur, die sich darunter zweifellos verbarg aber erahnen.
„Darry Pendor, FBI“, stellte ich mich vor und hielt meine ID-Card hoch. „Dies sind meine Kollegen Blocker, Kronburg und Morell. Außerdem sind noch die Erkennungsdienstler Sam Folder und Mell Horster dabei.“
„Das ist gut“, nickte der Sheriff. „In dieser Hinsicht überfordert dieser Fall nämlich unsere Kapazitäten. Mein Name ist übrigens Corey Masterson, ich bin der County Sheriff.“
„Angenehm“, sagte ich.
Masterson deutete auf die Blondine. „Das ist Miss Jeannie McNamara, früher Polizeipsychologin beim Albany Police Department, jetzt freiberuflich tätig.“
Ich nickte Jeannie McNamara freundlich zu.
„Freut mich, Sie kennen zu lernen.“
Das war natürlich eine Lüge.
Wenn sie wirklich eine gute Psychologin war, erkannte sie das.
Tat sie aber nicht.
Das sagte alles.
„Ganz meinerseits, Agent Pendor.“
Ich spürte den Drang, mich zu verwandeln. Sie zu zerfetzen. Sie zu zerfleischen.
Immer mit der Ruhe und schön zivilisiert bleiben!, dachte ich und wiederholte diesen Gedanken wie ein Mantra.
„Wenn Sie in den letzten Jahren für das APD tätig waren, haben Sie wahrscheinlich den Fall des 87er Monsters von Anfang an mit bearbeitet“, vermutete Yancey.
“Das ist richtig”, sagte Jeannie McNamara
Albany Police Department, dafür stand APD.
Manche Leute lieben Abkürzungen.
Ich gehöre nicht dazu.
Echt nicht.
Ich kontrollierte kurz meinen Handrücken.
Manchmal fängt es dort an.
Dann fangen dort die Wolfshaare an zu sprießen.
Damit beginnt dann die Verwandlung.
Es kann sein, dass der gesamte Verwandlungsvorgang innerhalb eines Sekundenbruchteils von statten geht. Aber es ist auch möglich, dass es sich über längere Zeit hinzieht.
Jeannie McNamara sagte: “Es war mein erster Fall, an dem ich mitarbeiten durfte, als ich beim APD anfing. Leider einer, der bis heute nicht gelöst ist, was mich ehrlich gesagt auch nie wirklich losgelassen hat.“
„Vielleicht haben wir jetzt die Gelegenheit, den Täter endlich zu überführen“, sagte ich.
„Ich werde jedenfalls mein Bestes dazu tun“, versprach Jeannie McNamara.
Ein Erkennungsdienstler wandte sich an den Sheriff und wies darauf hin, dass die mit Markierungen abgegrenzten Areale auf keinen Fall betreten werden durften. „Wir haben ein paar Fuß- und Reifenabdrücke“, erklärte er. „Näheres kann ich natürlich noch nicht sagen.“
Sheriff Masterson brachte uns zu der Stelle, an der die Tote aufgefunden worden war. Sie saß aufrecht gegen einen Baum gelehnt.
Der Gerichtsmediziner hatte seine Untersuchungen gerade abgeschlossen.
Es war Dr. Brent Claus von der Scientific Research Division, dem zentralen Erkennungsdienst aller New Yorker Polizeieinheiten, den wir auch sehr häufig in Anspruch nahmen.
„Tag, Darry“, begrüßte mich Dr. Claus, mit dem wir schon häufig zusammengearbeitet hatten.
Eigentlich lag der Tatort gar nicht mehr im Zuständigkeitsbereich der SRD. Aber eine Kleinstadt wie Kingston besaß natürlich kein eigenes gerichtsmedizinisches Institut. Normalerweise kamen in diesem County nicht mehr als zehn Tötungsdelikte im Jahr vor, Selbstmorde und Todesfälle mit unklarer Ursache eingerechnet. Die wurden dann je nach freien Kapazitäten auf die gerichtsmedizinischen Institute des Staates New York verteilt. Und da die Kapazitäten des in der Bronx angesiedelten SRD mit Abstand die größten waren, bekam sie in der Regel auch den Löwenanteil dieser Fälle ab.
„Können Sie schon etwas sagen?“, fragte Yancey.
„Jemand hat sie mit ein paar sehr exakt angesetzten Schnitten so verletzt, dass sie innerhalb einer Viertelstunde vollständig ausgeblutet sein dürfte. Ich kann keinerlei Anzeichen für Gegenwehr erkennen. Und die Schleifspuren auf dem Boden sprechen eine relativ eindeutige Sprache.“
„Sie meinen, sie wurde betäubt“, mischte sich Jeannie McNamara ein.
Dr. Claus nickte. „Ja, davon würde ich ausgehen. Genaues kann ich natürlich erst nach einer Autopsie sagen. Wir werden auf diesen Punkt besonderen Augenmerk legen.“
Jeannie McNamara wandte sich an mich. „Das entspricht exakt der Vorgehensweise, die der Kerl bei den bisherigen Taten an den Tag gelegt hat.“
„Sie sind sich bereits sicher, dass es ein Mann ist?“, fragte ich.
„Die meisten Taten dieser Art werden von Männern begangen“, erwiderte sie.
„Es ist noch gar nicht solange her, da hatten wir es in New York einem weiblichen Serientäter zu tun.“
„Ich habe davon gehört. Der sogenannte ‚Barbier’. Der Fall hat in der Fachpresse einiges Aufsehen erregt. Sie haben an dem Fall gearbeitet?“
„Ja“, nickte ich.
„Dann kennen Sie sicher Dr. Gary Schmitt.“
„Er war unser Profiler...“
„...und mein Dozent in Quantico.“
Ich hob die Augenbrauen. „Sie waren an der FBI-Akademie?“
„Ja. Aber ich habe niemals mit dem Gedanken gespielt, in den Dienst des FBI zu treten. Das war im Rahmen einer Fortbildung, die ich auf mein Psychologiestudium draufgesetzt habe.“
„Und doch haben Sie sich beim Albany Police Department anstellen lassen.“
„Wissen Sie, das Erstellen von Täterprofilen hat mich immer interessiert, aber nie so sehr, dass ich nur noch dieser Tätigkeit nachgehen wollte. Ich bin in erster Linie Psychologin geworden, um Menschen zu heilen, nicht um Verbrecher zu überführen.“
„Verstehe.“
„Außerdem habe ich Schwierigkeiten, mich in eine Hierarchie einzuordnen, was die Aufstiegschancen doch ganz erheblich minimiert – gleichgültig ob beim FBI oder dem APD.“
„Wem sagen Sie das...“
„Also habe ich mich selbstständig gemacht, nachdem ich durch meine Tätigkeit bei der Polizei von Albany genug verdient hatte. Jetzt arbeite ich allenfalls noch auf Honorarbasis für die Behörden – und ich sage Ihnen, es ist sehr viel angenehmer, mit dem Gefühl zu arbeiten, jederzeit die Brocken hinwerfen zu können, wenn einem etwas gegen den Strich geht.“
„Konnte die Tote schon identifiziert werden?“, fragte Yancey an Sheriff Masterson gewandt.
Dieser schüttelte den Kopf.
„Nein. Meine Männer haben gleich die Umgebung abgesucht, in der Hoffnung, irgendetwas zu finden, das uns einen Hinweis geben könnte. Sie hatte keine Handtasche und keine Papiere dabei – und in dem Bereich, den wir absuchen konnten, fand sich auch nichts dergleichen.“
Ich ging in die Hocke und sah mir die Tote genauer an. Ihre Augen waren geschlossen. Die Züge wirkten beinahe entspannt, friedlich. Auch das sprach dafür, dass sie betäubt worden war.
„Selbstmord ist definitiv auszuschließen“, sagte Dr. Claus. „Die Schnitte an den Armbeugen und den Handgelenken hätte sie sich natürlich auch selbst beibringen können – aber bei dem Bauchschnitt halte ich das für vollkommen ausgeschlossen.“
„Wir hätten dann auch die Tatwaffe finden müssen“, stellte Sheriff Masterson klar.
„Mit was für einen Täter haben wir es Ihrer Meinung nach zu tun?“, fragte ich an Jeannie McNamara gerichtet.
„Er ist männlich, wahrscheinlich zwischen fünfundzwanzig und fünfundvierzig Jahre alt. Er dürfte von eher zurückhaltendem, introvertiertem Charakter sein und war vielleicht wegen einer Psychose in ärztlicher Behandlung. Vielleicht nimmt er bis heute Psychopharmaka, die ihn stabilisieren. Ich könnte mir vorstellen, dass er ein ziemlich unauffälliges Leben führt, einen Job gewissenhaft erfüllt. Kein Beruf, der Kreativität erfordert, sondern eher etwas... wie soll ich mich da ausdrücken?“
„Langweiliges?“, hakte ich nach.
Jeannie McNamara nickte. „Buchhalter, Handelsvertreter, Prokurist. Vielleicht war er auf der High School ein gewissenhafter Streber mit sehr guten Beurteilungen in den schriftlichen Fächern – und vor allem bei Tests im Multiple Choice Verfahren. Aber spätestens auf dem College, wo mehr Selbstständigkeit gefragt ist, dürfte er ins Mittelfeld abgerutscht sein.“
„Sie reden über den Täter, als wäre er Ihnen persönlich bekannt“, staunte Sheriff Masterson.
„In gewisser Weise ist er das auch. Seit Jahren sehe ich mir die Tatorte an, die er hinterlassen hat und versuche mich in seine Situation hineinzudenken. In die Situation, die ihn dazu gebracht hat, so grässliche Dinge zu tun und Frauen wie geschächtete Tiere ausbluten zu lassen...“
„Handelsvertreter ist vielleicht gar kein schlechter Gedanke“, meinte Yancey. „Schließlich sind doch alle Taten an einer der wichtigsten Verkehrsadern von New York State verübt worden, die unser Mann offenbar regelmäßig benutzt.“
„Ein Trucker scheidet aus?“, fragte Masterson. „Ich meine, diese Strecke ist eine der vielbefahrensten Verkehrsrouten, auf der die großen Trucks manchmal Schlange stehen. Alles, was vom New Yorker Hafen rauf Richtung Kanada geschafft wird, geht diesen Weg...“
„Ich nehme an, College-Absolventen werden nicht unbedingt Trucker“, meinte ich.
„Trotzdem würde ich die Trucker nicht von vornherein ausschließen“, sagte Jeannie McNamara. „Wir suchen schließlich jemanden, der wahrscheinlich beruflich unter seinen Möglichkeiten geblieben ist, weil er zu zurückhaltend war und sich nicht gut genug verkaufen konnte.“
„Und das alles erkennen Sie aus diesem Tatort“, wunderte sich Jay Kronburg.
Sie schüttelte den Kopf. „Nicht aus diesem Tatort allein. Aber wenn man alle Tatorte dieser Serie zusammen betrachtet, ergibt sich dieses Bild.“ Jeannie McNamara atmete tief durch. Ihre Augen verengten sich ein wenig. Sie hatte bis dahin einen sehr kontrollierten Eindruck auf mich gemacht, aber in diesem kurzen Moment konnte man erkennen, wie sehr sie dieser Fall beschäftigte und wie wenig sie es verwinden konnte, dass der Killer noch immer frei herumlief.
Aber das war nicht verwunderlich.
Dies war schließlich kein Fall wie jeder andere.
„Der Mann, den wir suchen, hat kein sexuelles Motiv“, war sie plötzlich überzeugt.
„Auch nicht in sublimierter Form?“
„Nein. Es ging dem Täter auch nicht darum, Macht und Dominanz auszuüben oder um das Ausleben sadistischer Triebe. Im Gegenteil, er war sehr rücksichtsvoll. Schließlich hat er das Opfer vorher betäubt und sie getötet, bevor sie erwachte.“
Ich müsste dich nicht vorher betäuben, dachte ich. Du hättest keine Chance, wenn ich mich verwandeln würde.
Irgendwie mochte ich diese Jeannie nicht.
Ich weiß nicht warum.
Vielleicht war es ihr arrogantes Auftreten.
Ihre Hochnäsigkeit.
Etwas juckte auf meiner Stirn.
Ein einzelnes Wolfshaar.
War nicht so schlimm, vermutlich würde es niemand bemerken. Zumindest, wenn es bei diesem einen Haar blieb, was ich nicht garantieren konnte.
Ruhig bleiben. Ruhig werden. Zivilisiert bleiben.
Diese Gedanken wiederholte ich wie ein Mantra.
Und das half.
Ein bisschen.
„Andernfalls würde sie wohl nicht so friedlich daliegen“, stimmte ich ihr also zu. „Trotzdem. Der Begriff Rücksicht im Zusammenhang mit einem Gewaltverbrechen...“ Ich schüttelte den Kopf. „Tut mir Leid, das passt für mich nicht so richtig zusammen, wenn Sie verstehen, was ich meine!“
„Das verstehe ich durchaus – und genau so widersprüchlich sieht es in der Psyche des Täters aus. Er wollte diese Frauen töten...“
Ich bemerkte jetzt auch ein paar Haare zwischen meinen Fingern.
„Sie bestrafen?“, echote ich.
Ich bemühte mich unwillkürlich, dabei nicht den Mund allzusehr zu öffenen. Sie wissen schon: Wegen der Zähne! Ich fürchtete, dass sie schon etwas gewachsen waren.
Jeannie schüttelte den Kopf.
Sie tat das auf eine Weise wie jemand, der jeden anderen, außer sich selbst, als Idioten ansieht. So war sie. Das war eben ihr Charakter. Ich bemerkte, dass auch Jeannie McNamara schöne Brüste hatte. Fast so schöne wie Lydia. Unter anderen Umständen hätte ich mich für Jeannie also vielleicht interessiert. Aber schöne Brüste wiegen leider niemals einen fiesen Charakter auf. Wirklich niemals. Und diesen Charakter hatte sie mir glücklicherweise gleich in den ersten Momenten unserer Zusammenarbeit offenbart.
So ist das eben.
Wir geben alle ständig kleine Stichproben unseres Charakters, unser wahren Natur. Man muss nur darauf achten und diese Zeichen zu lesen verstehen, dann wird man kaum je von einem Menschen in negativer Hinsicht überrascht.
Ist vielleicht eine Cop-Krankheit, die Welt so zu sehen.
Die Welt. Und die Menschen.
„Nein, sich ihrer entledigen. Das trifft es besser. Aber er hat sie dabei sehr schonend behandelt, was mich zu folgender Theorie geführt hat: Die Frauen starben stellvertretend für eine Person, die ihm sehr nahe stand.“
„Die Mutter?“
„Es kann auch eine Geliebte oder Ehefrau gewesen sein. Jedenfalls sind seine Gefühle dieser Person gegenüber sehr ambivalent. Er liebt sie – daher die Rücksicht. Aber sie muss etwas getan haben, was ihn zutiefst verletzt oder bedroht hat und daher der Hass und die Notwendigkeit, sie zu töten.“ Ein Ruck durchlief ihren Körper. Sie drehte das Gesicht in meine Richtung und sah mich an. „Ich bin überzeugt davon, dass auf den Täter genau diese Merkmale zutreffen.“
Ich sah, dass ihr Blick auf meiner Stirn ruhte und durch irgendetwas irritiert wurde. Das Wolfshaar?
Ich versuchte cool zu bleiben.
Die Falte auf ihrer Stirn ignorierte ich.
Ich wandte den Kopf.
Hoffentlich waren da nicht inzwischen schon ein paar mehr Haare zu sehen.
Du. Darfst. Dich. Nicht. Verwandeln!
Nicht!
Ich tat so, als würde ich eine Fliege von der Stirn vertreiben. Da war nichts, stellte ich fest. Da war nichts mehr! Offenbar hatte ich die Kontrolle über meinen Werwolf-Metabolismus zurückerlangt. Gut so.
Sie sagte: “Die Merkmale, von denen ich sprach, sind für mich fixe Größen in dem Fall.”
„Nur hat diese Einsicht bisher nicht dazu geführt, den Kerl zu fassen“, gab ich zu bedenken.
Sie nickte. „Aber das liegt daran, dass er – abgesehen davon, dass er Frauen umbringt – vermutlich ein sehr unauffälliges Leben führt.“
“Hm.”
“Jemand, der unerkannt uns ein unauffälliges Leben lebt und...”
“...in Wahrheit ein Monster ist?”
“Ja.”
“Das kann ich mir gut vorstellen”, sagte ich.
“Wie bitte?”
“Nichts.”
“Ist irgendetwas mit Ihnen, Agent Pendor?”
“Nein.”
Ich konnte mir sehr gut vorstellen, was sie beschrieben hatte. Der Killer, den wir suchten war jemand, der auf gewisse Weise so war, wie ich.
Der Gedanke mutete im ersten Moment seltsam an.
Aber dann stand er in meinem Hirn und ging nicht wieder weg.
Der Gedanke blieb dort.
Ich ahnte, dass er sich durch nichts wieder vertreiben lassen würde.
Ich fragte:
„Könnte er verheiratet sein und Familie haben?“
„Das ist zumindest nicht ausgeschlossen.“ Jeannie McNamara wandte sich an Dr. Claus. „Könnten Sie mir die Einschnitte noch einmal zeigen?“
„Wenn Sie sich das unbedingt antun wollen – bitte!“, antwortete der Gerichtsmediziner, der seine Arbeit am Tatort erledigt hatte. Alles Weitere würde in den Obduktionsräumen der SRD in der Bronx geschehen.
„Ist Ihnen irgendetwas besonders aufgefallen?“, fragte Yancey.
Jeannie McNamara zuckte mit den schmalen Schultern. „Ich weiß noch nicht“, murmelte sie.
Sie machte jede Menge Bohei um das, was sie uns als ihre Erkenntnis verkaufte.
Große Show, so konnte man das bezeichnen.
Sie ließ außerdem gerne andere doof dastehen. Das schien sie besonders zu genießen. Ein mieser Charakter mit schönen Brüsten, die wenigstens nicht so falsch waren wie ihr Lächeln.
Aber eins musste man ihr lassen, auch wenn das nichts daran änderte, dass ich sie nicht leiden konnte: Sie verstand etwas von Tatort-Analysen. Sie war ein Arschloch, aber kein dummes Arschloch. Immerhin etwas.
“Ich hoffe, wir kriegen das Monster”, sagte ich.
Ich war mir der Ironie dabei durchaus bewusst.