Читать книгу Der Zirkel von Versailles: Die Seherin von Paris 3 - Alfred Bekker - Страница 5

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„Merde!“, schimpfte Marie de Gruyére, wenig damenhaft zwar, aber dennoch nicht unberechtigt.

Letzte Nacht erst hatte sie einen Traum geträumt, von dem sie sofort gewusst hatte: Dies ist eine Vision. Sie hatte Robert de Malboné vor ihren Gemächern auf Schloss Versailles gesehen. Dabei hatte alles in ihr danach gedrängt, unbedingt zu diesem Zeitpunkt ebenfalls vor Ort sein zu müssen. Um ihm zu begegnen. Weil es wichtig sein würde.

Und jetzt, da sie es hinter sich hatte, zweifelte sie genau daran: War es wirklich so wichtig gewesen?

Jedenfalls hatte sie sich rechtzeitig auf den Weg gemacht und hatte sich unweit ihrer Gemächer auf die Lauer gelegt. Und tatsächlich: Ihre Vision erfüllte sich erwartungsgemäß. Robert de Malboné kam.

Es war, als wäre er nur ihretwegen gekommen, obwohl er vor der Tür stehenblieb und zögerte. Erst als er sich abwandte, um weiter zu gehen, hatte Marie ihr Versteck verlassen, um ihn unmittelbar darauf anzusprechen.

Das hatte sie einfach tun müssen. Weil es sie regelrecht danach gedrängt hatte.

Mon dieu, was hatte dieser Mann mit ihr eigentlich angestellt? War er so etwas wie ein Hexer? Obwohl man ihm genau das Gegenteil nachsagte, dass er nämlich an all solche Dinge grundsätzlich gar nicht glaubte?

Natürlich hatte Marie auf dem Schloss Erkundigungen über ihn eingeholt. Es war zwar nicht sehr viel gewesen, was sie dabei hatte in Erfahrung bringen können, doch es genügte vorerst, um sich ein gewisses Bild zu machen über diesen Mann.

Und wieso trat er immer wieder in ihren Visionen auf? Ja, ohne ihre Visionen hätte sie wohl niemals seine Bekanntschaft gemacht. Was wollten ihre Visionen ihr dabei sagen? Was war der eigentliche Grund dafür, dass ihre seherische Begabung ihn für dermaßen wichtig hielt?

Sie wäre ansonsten nämlich nie und nimmer zurückgekehrt zum Schloss, weil da auch noch eine ganz andere Vision vorherrschend war, die dieser mit Robert de Malboné gewissermaßen konträr gegenüber stand: Sie war enttarnt worden!

Ausgerechnet von Baron Pedro de Cunha, dem Gesandten Spaniens am Hofe Frankreichs.

Er hatte ihr immer wieder ganz offensichtlich Avancen gemacht. Doch jetzt wusste sie, dass er mehr als nur Interesse an ihrer Weiblichkeit gehabt hatte. Die ganze Zeit über schon. Zwar hätte sie sich niemals auf ihn eingelassen, aber selbst wenn: Er hätte sie dennoch verraten.

Von wegen, er sei einfach so ein wenig an okkulten Praktiken interessiert. Das war bei ihm mehr als nur ein Spiel. Soviel stand inzwischen fest. Nicht, dass er nicht geschickt genug gewesen wäre, seine wahren Absichten zu verschleiern: Marie hätte ihn niemals durchschaut, hätte sie nicht jene Vision von ihm gehabt, in der der er sich mit dunklen Gestalten getroffen hatte.

Sie hatte die Traumszene noch ganz genau vor den Augen: Die Gestalten waren ohne Gesichter gewesen. Nur das Gesicht des Barons hatte sie erkennen können. Und er hatte lebhaft zu den Gestalten gesprochen und dabei immer wieder auf sie gezeigt.

Eine Szene natürlich, wie sie nicht in der Realität eingetreten war, sondern nur symbolisch verstanden werden musste. Eindeutig der Verrat an ihr.

Es bedurfte nur wenig Fantasie, um sich auszumalen, wer mit diesen dunklen Gestalten gemeint war. Denn ihr ärgster Feind hieß Circle Rufucale. Durch diesen Zirkel hatte sie alles verloren, was sie geliebt hatte, und sie hatte sich geschworen, sich an ihm zu rächen. Koste es, was es wolle.

Deshalb hatte sie ja auch jenes Ritual in einem der Irrgärten innerhalb der weiträumigen Außenanlagen von Schloss Versailles vorgenommen. Ausgerechnet Baron Pedro de Cunha war mit dabei gewesen. Hätte sie zu diesem Zeitpunkt auch nur geahnt, welch falsches Spiel er spielte ... Aber leider waren ihre Vorahnungen wie schon viel zu oft in der Vergangenheit auch in diesem Fall eher zu ungenau gewesen.

Das Ritual hatte ihr zumindest beweisen können, dass es die Präsenz des Zirkels längst gab auf Schloss Versailles. Das war ihr zwar schon vorher klar gewesen, doch sie hatte mehr Gewissheit benötigt und durch dieses Ritual auch zweifelsfrei erlangt.

Dass einer der Repräsentanten des verhassten Zirkels sich dabei unmittelbar neben ihr befunden hatte, war als eine ganz besondere Ironie zu werten.

Aber anstatt sich nun von allem erst einmal zurückzuziehen, um nicht selber Opfer des Zirkels zu werden, war sie der gegensätzlichen Vision gefolgt und erneut diesem Robert de Malboné auf Schloss Versailles begegnet. Um nach dieser Begegnung endlich dem warnenden Gefühl in ihrer Brust zu gehorchen und in Richtung Paris zu fliehen.

War sie dort tatsächlich sicherer als auf dem Schloss?

Sie lauschte unterwegs in sich hinein, fand dort aber keine Antwort auf diese fundamental wichtige Frage.

Das war eben das Problem mit ihren Visionen, dank derer man sie die Seherin von Paris nannte: Sie waren und blieben unberechenbar, unterlagen nicht ihrem Willen, was sie zuweilen willkürlich und somit weitgehend unzuverlässig erscheinen ließen.

Mit anderen Worten: Sie traten niemals dann auf, wenn sie es selbst so wollte. Sie kamen von selbst oder blieben ganz einfach aus. Manchmal wurde sie nächtelang davon gequält, und es wurden so viele, dass sie gar nicht mehr wusste, wie sie all diese Eindrücke überhaupt einordnen konnte. Und dann gab es tage- beziehungsweise nächtelang gar nichts.

Nur wenn größte Gefahr drohte, dann waren sie zumindest einigermaßen zuverlässig. Und wieso widersprachen sie sich dann diesmal dermaßen? Wieso empfahl die eine Vision, sie sollte sich schleunigst irgendwo verstecken, wo der Zirkel sie nicht finden konnte, und die andere Vision verleitete sie gleichzeitig, doch noch zum Schloss zu gehen, nur um diesen Mann zu treffen?

Oder war er vielleicht doch ein Hexer, der sie ohne ihr Wissen verhext hatte?

Sie lauschte abermals in sich hinein und versuchte, zumindest auf diese Frage eine Antwort zu finden.

Fehlanzeige. Da war ein ganz anderes Gefühl, das sich gegen ihren Willen in ihrem Herzen eingenistet hatte und das sie vergeblich versuchte zu verdrängen. Weil sie schon ahnte, was es für ein Gefühl war, das sich sogar anschickte, ihren Verstand zu lähmen und sich womöglich sogar auf ihre Visionen nachteilig auswirkte. So dass diese noch mehr an Zuverlässigkeit verloren.

Es war ein Gefühl, das man landläufig ... Liebe nannte!

Und dieses Gefühl hatte absolut überhaupt nichts mit Hexerei zu tun. Obwohl es wie Magie war. Sonst hätte sie sich dagegen wehren können, was sie ja die ganze Zeit über schon versuchte, wenngleich völlig vergebens.

Und dann: Wenn sie es recht bedachte, erging es diesem Robert de Malboné auch nicht anders. Sie hatte es ihm nur zu deutlich angesehen.

Gab es gar nur deshalb solche sich widersprechende Visionen? Weil die eine Vision echt war und die andere nur von diesem dummen Gefühl namens Liebe diktiert?

Also nur ein sehnsuchtsvoller Traum, den sie von ihm gehabt hatte, und nicht wirklich eine Vision?

Aber wieso war es dann genauso eingetreten wie in diesem Traum? Mit dem einzigen Unterschied: Im Traum hatte sie ihn nicht angesprochen. Weil sie vorher schon erwacht war. Angesprochen hatte sie in nur in Wirklichkeit.

Wobei sie nur unnötig Zeit verloren hatte, nüchtern betrachtet. Zeit, die sie besser verwendet hätte, um sich endlich und damit vielleicht noch rechtzeitig vor dem Zirkel in Sicherheit zu bringen.

Immerhin hatte ihr Robert de Malboné bei dieser Begegnung erzählen können, dass er irgendwelche Briefe gesehen hatte, angeblich im Besitz des Barons. Briefe mit einem Absender, der eindeutig auf ihre Pariser Adresse hinwies, wenngleich verschlüsselt.

Sie schüttelte unwillig den Kopf. Weil sie völlig sicher war, dass aus ihrem Haus niemand dem Baron Briefe auf das Schloss geschickt hatte. Nein, das Ganze musste eine andere Begründung haben.

Und da blieb sie plötzlich stehen, wie angewurzelt. Weil es ihr buchstäblich wie Schuppen von den Augen fiel: Robert de Malboné hatte nichts über die Schrift gesagt, in der diese Briefe abgefasst waren. Was, wenn es sich dabei um die Schrift des Barons handelte? Was, wenn er diese Briefe selbst geschrieben hatte, um sie über einen Boten jenen zukommen zu lassen, denen er damit verschlüsselt ihre Identität verraten wollte?

Was, wenn er die Briefe dann doch nicht jenem Boten mitgegeben hatte, aus welchen Gründen auch immer, um sich lieber persönlich nach Paris zu begeben und sich dort mit jenen zu treffen, denen er alles über sie verraten wollte, was er bei seinen Nachforschungen in Erfahrung hatte bringen können?

Hatte Robert de Malboné denn nicht auch erzählt, dass er der Spur des Barons nach Paris gefolgt wäre, um dort letzten Endes zwar nicht auf den Baron, aber dafür schließlich auf sie zu treffen? Zumindest hatte er sie beobachtet, als sie das Haus verlassen hatte. Um daraufhin erfahren zu können, dass sie diese Doppelrolle spielte: Als Adelige namens Marie de Gruyére auf Schloss Versailles einerseits und als die Wahrsagerin Madame de Marsini in Paris anderseits.

Er hatte sie zumindest beobachtet, als sie das Haus verlassen hatte.

Also war es doch nicht so völlig unsinnig gewesen, dass sie zurückgekehrt war auf das Schloss, trotz der ihr dort drohenden Gefahren, nur um Robert de Malboné zur Rede zu stellen? Sie hätte ja dies alles niemals von ihm erfahren können ansonsten.

Wenn sie das jetzt richtig bedachte, wurde alles auf einmal viel klarer: Robert de Malboné hatte die Briefe mit Inhalt und verschlüsseltem Absender natürlich gänzlich missinterpretiert. Sie musste es ja wissen, weil in dem Haus, in dem sie als die Wahrsagerin Madame de Marsini eine Wohnung gemietet hatte, garantiert niemand wohnte, der mit dem Zirkel gemeinsame Sache machte. Und vor allem niemand, der den Baron persönlich kannte, so wie sie. Und sie selbst hätte dem Baron niemals einen Brief geschrieben. Schon gar nicht mit ihrem Absender aus Paris, ob nun verschlüsselt oder nicht.

Sie lief weiter, von noch größerer Unruhe gepackt. Wobei sie mit jedem Schritt deutlicher spürte, dass sie eigentlich in die falsche Richtung lief. Sie wollte zurückkehren in ihre Pariser Wohnung, doch genau das konnte womöglich ein großer Fehler sein. Jetzt, da diese Wohnung dem Zirkel bekannt war.

Es konnte eigentlich nur so sein, dass der Baron sie heimlich beobachtet hatte und von daher wusste, wo sie als Wahrsagerin tätig war.

Nun, vielleicht würde sie ja nie erfahren, wie er ihr auf die Spur gekommen war und wie viel er dabei überhaupt hatte in Erfahrung bringen können. Vielleicht ja nur dann, wenn es dem Feind gelang, ihrer habhaft zu werden? Aber genau das sollte sie auf jeden Fall vermeiden.

Und wieso wechselte sie trotzdem nicht die Richtung und lief stur weiter? Was, wenn ihre Wohnung inzwischen endgültig zur Falle für sie geworden war?

Sie wusste es selbst nicht zu sagen. Sie wusste nur, dass sie gegen diese äußerst widersprüchlichen Gefühle in ihrer bebenden Brust einfach nicht ankam. Weil das Gefühl, das sie regelrecht zum Weiterlaufen zwang, damit sie auf dem kürzesten Weg in ihre Pariser Wohnung zurückkehrte, ihr zu signalisieren schien, dass es trotz der Gefahr, in die sie sich dabei höchst wahrscheinlich begeben würde, das Richtige sein würde.

Es fehlte allerdings die Begründung. So wie immer bei ihren Visionen und Vorahnungen. Auch dann, wenn sie eine deutliche Gefahr kommen sah, die sie gleichzeitig dennoch nicht vermeiden durfte.

Es war, als wäre dafür ein höheres Wesen verantwortlich, das sie über ihre Visionen und Vorahnungen zu lenken vermochte.

Und dieses höhere Wesen war eindeutig zu mächtig, als dass sie die Kraft hätte aufbringen können, sich dagegen zur Wehr zu setzen.

Der Zirkel von Versailles: Die Seherin von Paris 3

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