Читать книгу Schön und ermordet: Zwei Kriminalromane - Alfred Bekker, Frank Rehfeld, Karl Plepelits - Страница 10

III

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Roth zögerte einen Moment, bevor er die Tür zu seinem angestammten Büro im Betrugsdezernat aufstieß. Er wusste nicht mehr, wann er zuletzt hier gewesen war. Seit er der Soko Heinen zugeteilt worden war, hatte er sich meistens in der Fahndungsabteilung oder der Kriminalbereitschaft aufgehalten, wenn er nicht draußen gewesen war. Auf der Straße, in den Kneipen, Hotels, Bordellen, Bistros, die von Heinen oder seinen Strohmännern kontrolliert wurden. Immer in der Hoffnung, einen Tipp zu bekommen, einen Hinweis, der das Blatt wenden konnte.

Der letzte Hinweis hatte eine Katastrophe ausgelöst.

Roth trat über die Schwelle. Alles war genau so, wie es immer gewesen war. Der zerkratzte Schreibtisch mit den übervollen Ablagekörben stand aus einem unerfindlichen Grund in der dunkelsten Ecke des Raumes. Hinter seinem Drehsessel mit dem zerschlissenen Bezugsstoff breitete sich der Trichterfarn aus. Nachdem Helga, seine Frau, ihn verlassen hatte, war er zu Hause nicht mehr dazu gekommen, den Farn, der seine Lieblingspflanze war, regelmäßig zu wässern. Deshalb hatte er die Pflanze mit ins Büro genommen. Doch obwohl er auch hier nicht dazu kam, sich um sie zu kümmern, entfaltete sie sich hier wie in einem Gewächshaus und drohte, seinen Platz zu überwuchern.

Das Telefon auf seinem Schreibtisch begann zu rasseln. Er ignorierte das Geräusch und riss das Fenster auf, um die stickige Luft hinauszulassen.

Die Verbindungstür zum Nebenhaus wurde aufgerissen. Bettina Seifert, die Abteilungssekretärin, stieß einen erschreckten Laut aus, als sie ihn am Fenster bemerkte. Wie angewurzelt blieb sie im Rahmen stehen.

»Ich gehe schon ran«, sagte Roth. Doch als er die Hand nach dem Hörer ausstreckte, riss das Läuten ab. Roth hob die Schultern und versuchte ein Lächeln. »Hallo, Bettina«, sagte er.

»Oh, Tag, Jürgen, ich wusste gar nicht, dass du ... Wie geht's denn?« Sie wartete seine Antwort nicht ab. Sie deutete hinter sich. »Du, ich muss mich kümmern. Bis nachher, ja?«

Hastig zog sie sich in das Schreibzimmer zurück und schloss die Verbindungstür.

Roth setzte sich in den knarrenden Drehstuhl und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Er wusste nicht, wie lange er so gesessen hatte, als er die Tür hörte. Er wandte erst den Kopf, als er Gräfes Stimme erkannte.

»War's schlimm?«, fragte Gräfe.

Gräfe zog einen Stuhl heran und setzte sich an die Schmalseite des Schreibtisches und stützte sein Kinn in die Hand.

»Peikert ist ganz vernünftig.«

»Er kann einen nur fallen lassen oder zu einem stehen. Dazwischen gibt es nichts. Mich hat er ganz schön durch die Mangel gedreht.« Gräfe steckte eine Zigarette zwischen seine Lippen und zündete sie an. »Seit gestern rauche ich wieder«, erklärte er achselzuckend. »Komm heute Abend mit zu uns. Monika freut sich.«

Roth schüttelte den Kopf.

»Jürgen, du darfst dich jetzt nicht hängen lassen! Natürlich schüttelt man so etwas nicht einfach ab. Aber es war doch nicht deine Schuld! Jeder hätte in der Situation geschossen!«

»Er war vierundzwanzig ...«

»Ein gottverdammter Unfall, Jürgen! Der Portier steckt nicht mit drin, das steht fest. Nelles muss das Zimmer von sich aus mit dem Sailor getauscht haben, ohne dem Portier Bescheid gesagt zu haben. Aus seiner Sicht ein toller Trick. Hörst du mir überhaupt zu, Mann?«

»Ein armer Teufel, den seine Reederei in diesem Schuppen untergebracht hat, weil sein Schiff auseinanderfiel und ins Trockendock musste. Und wird von einem deutschen Bullen abgeknallt, der seine fünf Sinne nicht beieinander hatte.«

»Was redest du da?«, fragte Gräfe flach.

Roth schwang auf seinem Stuhl herum, bis sein Gesicht im Schatten lag.

»Seit Helga weg ist, bin ich nicht mehr bei der Sache. Mit mir ist nichts mehr los, verstehst du das denn nicht? Ich hätte keinen Außendienst machen dürfen. Das ist es. Ich hätte meine Versetzung verlangen müssen.«

»Weißt du, was du da sagst? Denk mal nach! Dann wäre es meine Schuld! Ich bin dein Partner. Ich hätte doch etwas merken müssen! Du warst voll da, Jürgen! Ich weiß es! Verdammt, sieh mich an!«

Gräfe streckte ein Bein und stieß mit dem Fuß gegen Roths Stuhl. Der Stuhl fuhr gegen den Farn und drohte zu kippen. Roth klammerte sich an der Schreibtischplatte fest.

»Lass mich in Ruhe!«, fauchte Roth. »Ich habe abgedrückt, ich! Weil ich Angst hatte, verdammt, ich hatte Schiss!«

Gräfe verzog die Lippen zu einem Grinsen. »Na also! So einfach ist es. Du hattest Schiss. Hätte ich auch gehabt.« Gräfe drückte die Zigarette aus. »Heinen ist wieder draußen, wusstest du das?«

»Interessiert mich nicht mehr«, sagte Roth dumpf. »Lass mich allein.«

»Haftverschonung!«, sagte Gräfe, als hätte er Roths Aufforderung nicht gehört. »Damit räumt die Anklagebehörde ein, dass sie nicht mehr viel in der Hand hat. Allenfalls Steuerhinterziehung. Aber jetzt ist auch Adolphi tot, und da kann Heinen alle Schuld an eventuellen Unregelmäßigkeiten auf ihn schieben. Er zahlt die Steuer nach und steht mit blütenweißer Weste da. Besser als vor acht Monaten.«

»Wir gehören nicht mehr dazu«, sagte Roth.

»Ist dir eigentlich klar, dass er auch Nelles nicht mehr braucht? Der Kiez liegt ihm jetzt auch ohne offenen Terror zu Füßen. Wenn einem ganze Häuserzeilen gehören, fast alle Hotels, die großen Puffs, dann kann er machen was er will. Und er verdient immer noch an jeder Nummer, die für Geld auf dem Kiez geschoben wird. Über die Mieten. Wenn er einen Pächter ruiniert hat, schmeißt er ihn raus. Dafür kann er auch noch die Hilfe der Gerichte in Anspruch nehmen. Und der nächste Zuhälter wartet schon, um seine Hühner in die Bude zu setzen!«

»Hör auf!«

»Das Rauschgiftgeschäft betreibt er schon lange nicht mehr selbst, das hat er in Lizenz vergeben. Und hier im Präsidium hält einer die Hand über ihn.«

»Deine fixe Idee ...«

Roth unterbrach sich, weil die Tür geöffnet wurde und Tondorf seinen Kopf hereinschob.

Im Präsidium war man sich nicht einig, ob Kriminalhauptkommissar Rüdiger Tondorf der richtige Mann war, um gegen den König vom Kiez zu ermitteln.

Weil die Staatsanwaltschaft darauf bestanden hatte, die Leitung der Sonderkommission »Organisierte Kriminalität« nur einem Fachmann anzuvertrauen, war die Wahl auf Tondorf gefallen. Denn Tondorf verfügte über ein abgeschlossenes Studium der Wirtschaftswissenschaften. Mord, Raub, Diebstahl, Betrug, Rauschgifthandel und -konsum waren Symptome, nicht Ursachen der für die Stadt typischen Kriminalität. Und wenn es gelingen sollte, die Kriminalität wirksam zu bekämpfen oder wenigstens einzudämmen, so musste dies mit anderen Mitteln als der bisher geübten Praxis geschehen.

Doch in den eineinhalb Jahren ihres Bestehens hatten sich die Erwartungen, die in die Sonderkommission gesetzt worden waren, nicht erfüllt. Die meisten Kritiker waren der Ansicht, dass ein Fachmann für Wirtschaftsstrafsachen nicht über genügend Erfahrung verfügte, um einen Mann wie Heinen, um den es von Anfang an gegangen war, zur Strecke zu bringen.

Mit vorgeschobenem Kopf, als ob er jeden Moment mit einem Angriff rechnete, ging Tondorf auf die beiden Beamten zu. Unter seinem linken Arm klemmte eine Mappe, aus der blaue Formulare quollen.

»Hier habt ihr euch versteckt, ihr Geier!«, sagte er munter. »Abgeschlafft? Keine Lust mehr?«

Niemand ging auf Tondorfs munteren Ton ein. Roths Verhältnis zu ihm war ohnehin stets reserviert gewesen, weil er Tondorfs Versuche, seinen Leuten so etwas wie ein kameradschaftliches Verhältnis aufzudrängen, für Anbiederung als Folge mangelnder Autorität hielt.

Tondorf warf die Mappe auf Roths Tisch. »Ist noch ein Stuhl frei?«, fragte er.

Gräfe stand widerwillig auf. Tondorf schüttelte den Kopf und drückte Gräfe wieder auf seinen Platz.

»Bleiben Sie sitzen, bleiben Sie sitzen!« Er sah Roth an. »Wir wollen doch den Kopf nicht hängen lassen! Heinen hat nur Haftverschonung. Die Arbeit der Soko geht weiter.«

»Wir gehören nicht mehr dazu«, brummte Gräfe. »Mich hat Peikert abgeschoben, in die Geschäftsstelle ...«

»Das tut mir leid, Herr Gräfe, wirklich, ich habe alles versucht, Sie bei mir zu halten.«

»Hoffentlich haben Sie sich nicht übernommen, Herr Tondorf.«

Das Lächeln blieb wie vergessen in dem glatten Gesicht stehen, während in den Augen ein nichtssagender Ausdruck erschien. Roth warf seinem Freund einen warnenden Blick zu, den der jedoch ignorierte. Roth wusste, dass Gräfe kaum aufzuhalten war, wenn er in eine aufsässige Stimmung geriet.

Tondorf sah Roth an und deutete auf die Mappe. »Auf der Fahndungsliste der Soko stehen immer noch über dreißig Namen! Zeugen, Verdächtige, Beschuldigte, deren Aussagen uns weiterhelfen können. Aus Zeit- und Personalmangel haben wir die Suche nach diesen Personen zu sehr der polizeilichen Routine überlassen müssen. Bis Sie in Urlaub gehen, koordinieren Sie die Fahndung. Heinen soll wissen, dass wir an ihm dranbleiben!«

Roth schüttelte den Kopf. »Peikert hat mich abgezogen ...«

»Ich habe mit Herrn Peikert gesprochen. Er hat Sie zum Innendienst verdonnert. Bis Sie Ihren Urlaub antreten, stehen Sie mir noch zur Verfügung. Danach hat er wohl eine andere Verwendung für Sie vorgesehen. Er sähe Sie gern als Sachverständigen im Erkennungsdienst. Das ist eine große Chance für Sie, Herr Roth. Die haben Sie allerdings auch verdient.«

Roth wich Gräfes überraschtem Blick aus, indem er die Mappe zu sich heranzog.

Gräfe wandte sich an Tondorf. »Was soll das bringen, wenn Sie einen Kellner in die Mangel nehmen, der Heinen mal geholfen hat, bei der Sektsteuer zu schummeln?«

»Dieser Kellner, um bei Ihrem Beispiel zu bleiben, hat Beihilfe zur Steuerverkürzung in erheblichem Umfang geleistet. Jetzt betreibt er vielleicht ein kleines Geschäft auf Mallorca, und weil er das nicht verlieren will, ist er möglicherweise bereit, uns zu helfen.«

»Und was ist mit der ehemaligen Nutte, die jetzt vielleicht als biedere Hausfrau in Passau lebt? Was kann die Ihnen schon weiterhelfen!«

»Die Bewertung eventueller Aussagen überlassen Sie ruhig mir und dem Staatsanwalt, Herr Gräfe«, antwortete Tondorf. »Bei dieser Gelegenheit möchte ich Ihnen noch etwas sagen. Ich weiß, dass Sie nicht viel von mir halten. Sie streiten mir die Fähigkeit und Kompetenz ab, gegen das alltägliche Verbrechen auf dem von Ihnen und Ihresgleichen so mystifizierten Kiez anzugehen. Weil Sie ein Praktiker sind, der sich nicht vorstellen kann, dass es jemanden geben muss, der die Dinge vom Schreibtisch aus, von mir aus auch am Computer, in der Hand behält. Gut, Herr Gräfe, Sie haben ein Recht auf eigene Meinung. Aber lassen Sie sich eins gesagt sein - ich lasse mich nicht zum Narren halten. Und von Ihnen ganz bestimmt nicht.«

Einen Augenblick starrte Tondorf Gräfe böse an, dann strich er mit einer Hand über sein trockenes braunes Haar.

»Was macht Ihnen Kummer, Herr Hauptkommissar?«, fragte Gräfe. Der ironische Unterton trieb Tondorf die Röte ins Gesicht.

»Das wissen Sie ganz genau, Herr Gräfe! Sie hätten mich von Ihrer Absicht, Nelles festzunehmen, um jeden Preis informieren müssen! Und kommen Sie jetzt nicht mit der dummen Ausrede, es sei Gefahr im Verzug gewesen und Sie hätten keine Zeit mehr gehabt, mich anzurufen!«

Ein dünner Schweißfilm bedeckte Tondorfs Oberlippe, als Gräfe keine Anstalten machte, auf den Vorwurf einzugehen.

»Bilden Sie sich etwa ein, ich wüsste nichts von Ihrem Gerede über Korruption im Polizeiapparat?«, fragte er laut.

»Und? Wie stehen Sie dazu?«

»Ich halte mich an nachprüfbare Fakten, statt mich um Kopf und Kragen zu reden«, antwortete Tondorf abweisend.

Gräfe nickte höhnisch. »Deshalb werden Roth und ich getrennt. Roth wird hochgelobt, ich werde abgeschoben.«

Tondorf stand auf. »Darauf hatte ich nicht den geringsten Einfluss«, erklärte er steif. »Sie haben mich nicht informiert, als sie in das Hotel stürmten, und man hat mich nicht gefragt, als man personelle Konsequenzen zog. Das wundert Sie doch nicht, Herr Gräfe, oder?« Bevor er den Raum verließ, wandte er sich noch einmal an Roth. »Kümmern Sie sich um die Fahndungen, Herr Roth. Und sonst nichts. Das ist ein kollegialer Rat.«

»Du bist verrückt, ihn derart anzuscheißen!«, sagte Roth, als die Tür hinter Tondorf zufiel. »Warum tust du das?«

»Weil er eine Pflaume ist«, antwortete Gräfe mürrisch.

»Deine fixe Idee ... Glaubst du etwa, dass er etwas mit Heinen zu tun hat?«

Gräfe lachte trocken auf. »Du denkst zu klein, Jürgen. Du bist eben nur ein Kriminalhauptmeister, genau wie ich, und für uns ist sowieso nichts drin im großen Schmiergeldtopf. Für uns schmeißen sie vielleicht mal 'ne Runde Weiber, wenn wir drauf anspringen. Und Heinen schmiert auch keinen Kommissar, der fängt viel höher an. Und deshalb kommen wir alle nicht an ihn ran, da können wir rumrennen, wie wir wollen. Wir haben's ja getan ...«

»Dann verbrenn dir auch nicht den Mund«, sagte Roth.

Er sah Gräfe unvermittelt an. »Und hör auf, hinter jeder Maßnahme gleich ein Komplott zu wittern.«

»Ich war nur überrascht. Überrascht, es aus Tondorfs Mund zu hören ...«

»Und nicht aus meinem? Ich war noch nicht dazu gekommen, es dir zu sagen. Außerdem hat Peikert nur beiläufig darüber gesprochen, dass ich nicht im Betrugsdezernat bleiben soll. Erkennungsdienst, Aus- oder Fortbildung, oder Logistik. Ich soll darüber nachdenken.«

»Mann, du bist wirklich naiv, Jürgen. Hat er dir auch gesagt, dass du mit mir besser keinen privaten oder dienstlichen Umgang mehr pflegen sollst? Nein? Dann wird das sicher noch kommen. Irgendeinen Preis musst du bezahlen.«

»Jetzt flippst du bald ganz aus«, stellte Roth fest. »Sei vernünftig, Volker!«

»Ich soll vernünftig sein?« Gräfe sprang auf. »Ich werde vielleicht vernünftig, wenn du endlich wach wirst!«

Wütend stürmte er hinaus, und wütend schmetterte er die Tür ins Schloss.

Im Grunde wusste er, dass er Peikert und Tondorf dankbar sein musste, weil sie ihn mit einer sinnvollen Aufgabe betrauten. Er fürchtete sich vor dem Abend, dem kommenden Wochenende, und besonders vor dem Urlaub, den er gar nicht nehmen wollte.

Er begann das Material zu sichten, das Tondorf ihm gebracht hatte, aber er konnte sich nicht auf die Arbeit konzentrieren. Der sinnlose Streit mit Volker Gräfe beschäftigte ihn nachhaltiger, als er sich eingestehen wollte.

Stimmte es, dass man sie auseinanderbringen wollte?

Aber wer?

Und warum?

In einem hatte Gräfe jedenfalls recht. Was auch immer gegen Heinen unternommen wurde, ging schief. Wie zuletzt die Festnahme des Dieter Nelles, obwohl der kaltblütige Mörder einfach Glück gehabt hatte. Dieses Mal noch. Nelles würde der Polizei früher oder später ins Netz gehen, das stand fest.

Was Tondorf ihm aufgepackt hatte, waren nicht die wichtigsten, mit Sicherheit aber die schwierigeren Fälle, die immer wieder zurückgestellt wurden und so etwas wie den Bodensatz der Ermittlungsarbeit bildeten.

Auf den Fahndungslisten standen Dealer und Schläger, Zuhälter und Betrüger, Hehler und Schieber, die auf irgendeine Weise Heinens Umkreis zugerechnet wurden. Oder Kellner und Barmädchen, Geschäftsführer und Stripperinnen, Makler und ehemalige Prostituierte, die irgendwann einmal, direkt oder indirekt, für Heinen gearbeitet oder in einer geschäftlichen Beziehung zu ihm gestanden hatten. Ihre Aussagen, ob als Beschuldigte oder als Zeugen, sollten den Ermittlern einen tieferen Einblick in Heinens illegale Machenschaften ermöglichen.

Es war nicht anzunehmen, dass sich alle gesuchten Personen bewusst der Fahndung entzogen. Trotz Computerfahndung, trotz eines funktionierenden Meldesystems und ständig aktualisierter Fahndungslisten blieb es bei der Freizügigkeit eines modernen Industriestaates nicht aus, dass bei Orts- oder Wohnungswechseln Daten verloren gingen oder unvollständig nachgetragen wurden. Hinzu kam, dass Prostituierte, Stripgirls, Animiermädchen oder Bardamen häufig nicht unter ihren richtigen Namen auf dem Kiez arbeiteten, trotz scharfer Kontrollen durch die Inspektoren der Gesundheitsämter, der Gewerbeaufsicht und nicht zuletzt der AOK. Denn zu oft kam es vor, dass die Geschäftsführer zwielichtiger Unternehmungen die Versicherungsbeiträge ihrer Angestellten unterschlugen.

Bis zum Nachmittag hatte er sich eingearbeitet.

Er hatte einige Vorgänge aussortiert, weil sie überholt waren oder sich von selbst erledigt hatten, zu anderen hatte er ergänzende Informationen angefordert oder Routinemaßnahmen eingeleitet.

Kurz vor Dienstschluss warf ihm der Bote der Poststelle noch einen Hauspostbrief auf den Schreibtisch. Roth telefonierte gerade mit einem Polizeiposten auf der Nordseeinsel Amrum. Er vermutete, dass dort während der Sommersaison eine Serviererin arbeitete, die bereits zum vierten Mal einer gerichtlichen Zeugenvorlage nicht nachgekommen war.

Er klemmte den Hörer zwischen Schulter und Ohr fest, und während er darauf wartete, dass sich der Kollege am anderen Ende erneut meldete, zog er das Fahndungsformular aus dem Umschlag.

Er sah sofort, dass das Fahndungsersuchen vom Gericht kam, aber es musste innerhalb des Polizeipräsidiums an ihn weitergeleitet worden sein, weil es sonst nicht mit der Hauspost gekommen wäre. Das Gekritzel des letzten Absenders in der dafür vorgesehenen Spalte auf dem Umschlag konnte er nicht entziffern. Vermutlich hatten die Kollegen oder Tondorf selbst ihm das Formular zugeschickt, weil er vorübergehend für die Koordinierung der Fahndung innerhalb der Soko Heinen zuständig war.

Er faltete das Blatt auf.

Der Name traf ihn wie ein Fausthieb in den Magen.

Sigrid Wolf.

Langsam legte er den Telefonhörer auf, ohne die Antwort des Kollegen aus Amrum abzuwarten.

Schön und ermordet: Zwei Kriminalromane

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