Читать книгу Schön und ermordet: Zwei Kriminalromane - Alfred Bekker, Frank Rehfeld, Karl Plepelits - Страница 11

IV

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Roth blieb im Wagen sitzen, nachdem er endlich eine Lücke für den Dienstwagen gefunden hatte. Er drehte die Seitenscheiben herab, um die kühle Luft hereinzulassen, die jetzt vom Hafen heraufstieg.

Wenn er den Kopf verdrehte, konnte er den Eingang des kleinen Ladens beobachten. Hin und wieder kam sie heraus, um einige Kleider auf dem Metallständer zu ordnen oder einer Kundin behilflich zu sein, die sich dann doch nicht für einen der bunten Fummel entscheiden konnte.

Es war Sommer, und die Touristen, die sich durch die engen Straßen rund um den Großneumarkt schoben, waren einfach zu bieder für die poppige Mode der kleinen Boutiquen.

Sie sah so unglaublich jung aus, jung, schmal und verletzlich. Martina Wolf. Tina, wie Sigrid ihre jüngere Schwester immer genannt hatte. Sigrid hatte oft von Tina gesprochen, obwohl die beiden einander kaum sahen und nicht viel gemeinsam hatten. Tina war elf Jahre jünger als Sigrid. Sie musste jetzt zweiundzwanzig oder dreiundzwanzig sein. Damals, als er mit Sigrid befreundet gewesen war, war Tina erst sechzehn gewesen, ein Kind noch, hatte noch bei ihren Eltern gelebt, während Sigrid längst eine eigene Wohnung gehabt hatte.

Er wandte den Blick von Tinas zierlicher Gestalt und starrte in den tiefer werdenden Schatten der engen Gasse. Warum ging er nicht einfach zu ihr, zeigte ihr seinen Ausweis und fragte sie, wo ihre Schwester sich aufhielt?

Als Erstes hatte er festgestellt, dass Sigrids Name im neuen Telefonbuch schon nicht mehr verzeichnet war. Im Melderegister wurde sie noch unter ihrer alten Anschrift in Harvestehude geführt. Er war sofort hinausgefahren, hatte aber nur festgestellt, dass in der Wohnung ein Lehrerehepaar wohnte, das den Namen der Vormieterin nie gehört hatte.

Irgendjemand suchte Sigrid.

Dieselbe Sigrid, die er vor sechs Jahren verlassen hatte, um Helga zu heiraten. Er hatte Helga geliebt. Aber ihre Liebe zu ihm war nicht stark genug gewesen, um die Belastung, die sein Beruf mit sich brachte, auszuhalten. Vor zwei Monaten hatte sie ihn verlassen. Einfach so. Sie hatte ihre Sachen in ein paar Kartons gestopft, in ihren Mini geladen und war davongefahren. Sie hatte ein kleines Apartment gleich am Wandsbeker Markt gemietet, wo sie bei einem Rechtsanwalt arbeitete.

Als er erneut zu der kleinen Boutique hinüberblickte, ließ Tina schon das Rollgitter herab, obwohl es noch nicht halb sieben war. Er angelte seine Jeansjacke vom Rücksitz und stieg aus.

Sie kam ein paar Minuten später aus dem Hauseingang neben dem Laden. Er folgte ihrem schwingenden Folklorerock zum Großneumarkt hinauf. Sie trug das helle Haar kurzgeschnitten. Ihr Gang war schwungvoll, fast wie der eines Jungen. Unwillkürlich musste er lächeln.

Am Großneumarkt steuerte sie eins der Lokale an, vor denen Tische mit langen Bänken im Freien standen. Sie warf ihre Umhängetasche mitten auf den Tisch und setzte sich ans Ende der Bank. Sie kramte in der geräumigen Tasche herum, bis sie ihre Zigaretten fand. Mit dem Feuerzeug hatte sie dann Schwierigkeiten.

»Nehmen Sie meins«, sagte er, stieg neben ihr über die Bank.

Sie nahm das Feuerzeug, ließ die Flamme aufleuchten und gab es ihm zurück, ohne ihn anzusehen. Bei der Kellnerin bestellte sie ein Glas Weißwein. Sie sah ihn immer noch nicht an, als er sich ihrer Bestellung anschloss.

»Sie sind Tina«, sagte er.

Endlich wandte sie den Kopf und bedachte ihn mit einem ernsthaft prüfenden Blick aus leicht schrägen Augen. Sie zog dabei die Nase kraus und schürzte die Lippen vor Anstrengung, weil sie ihn nicht in ihrem Gedächtnis fand.

»Woher kennen Sie mich? Stellen Sie mir nach? Wieso wissen Sie, dass ich hier bin?«

»Eine Menge Fragen auf einmal«, sagte er bedächtig, »ich habe Ihre Mutter angerufen, und die hat mir gesagt, wo Sie arbeiten.«

»Meine Mutter? Am Telefon? Sie sagt nicht jedem hergelaufenen ...«

Sie unterbrach sich, als die Kellnerin den Wein brachte, sah ihn stirnrunzelnd und ohne Freundlichkeit an.

»Nicht jedem hergelaufenen Kerl, das ist richtig«, sagte er. »Sie erinnerte sich an mich. Ich bin Jürgen Roth.«

Die Flügel ihrer Stupsnase weiteten sich, und die grün schillernden Augen betrachteten ihn plötzlich mit wachem Interesse.

»Sie sind der Bulle!«, stellte sie fest.

Ihre Stimme klang etwas atemlos. Ohne ihn aus den Augen zu lassen, nippte sie an ihrem Glas. Er fühlte sich gemustert und analysiert, und es irritierte ihn, dass er nicht wusste, wie und wo sie ihn einordnete. Als den Typ, der ihre Schwester sitzen gelassen hatte?

»Und was wollen Sie von mir?«, fragte sie schließlich.

»Sigrids Adresse«, sagte er beiläufig. Die hatte Frau Wolf ihm nämlich nicht gesagt. Weil sie sie nicht kannte, hatte sie behauptet, und Roth hatte ihr geglaubt.

»Und was wollen Sie jetzt wieder von Sigrid?«, fragte Tina.

»Sie wiedersehen«, antwortete er im gleichen beiläufigen Tonfall.

In ihren Augen erschien ein misstrauischer, feindseliger Ausdruck. »Warum?«, wollte sie wissen.

Roth sah sich um. Drüben war das Polizeirevier 4, in dem man ihn gut kannte. Noch hatte er nichts zu befürchten, noch hatte er sich nicht unkorrekt verhalten. Er konnte auch morgen noch zu Tondorf gehen und ihm erklären, dass er die gesuchte Sigrid Wolf kannte, sehr gut kannte, dass er lange bei ihr ein- und ausgegangen war, dass sie ihre freien Tage und Nächte miteinander verbracht und sogar gemeinsam in Urlaub gefahren waren.

»Gehen wir woanders hin«, sagte er unvermittelt.

»He, he! Ich gehe nicht einfach so mit einem ...«

»Hergelaufenen Kerl?«

»Mit einem Bullen.« Sie nippte an ihrem Wein.

Er nahm das Glas und schob es zurück, legte einen Geldschein auf den Tisch und fasste ihren Arm.

»Sigrid wird gesucht«, sagte er nah an ihrem Ohr. Ihr Haar roch nach irgendwelchen Blüten.

Sie sah ihn an, ihre Augen weiteten sich. »Im Mordfall Blume?« Sie flüsterte unwillkürlich.

»Natürlich handelt es sich um den Mordfall Blume«, antwortete er gepresst. »Aber nicht so, wie Sie denken! Kommen Sie jetzt!«

Es dämmerte bereits, als sie nebeneinander durch die Wallanlagen gingen. Tina hatte zunächst Abstand zu ihm gehalten und es vermieden, dass sie seine Schulter berührte. Jetzt schien es ihm, als ob sie seine Nähe suchte. Was an der einbrechenden Dunkelheit liegen mochte, und nicht daran, dass sie inzwischen Vertrauen zu ihm gefasst hatte. Denn ihre Stimme klang unverändert abweisend, sogar feindselig.

Sigrid hatte lange genug mit Blume zusammengelebt, um von der Brisanz seiner Arbeit zu wissen. In mehreren Artikelfolgen hatte der Journalist die Existenz einer organisierten Kriminalität nachzuweisen versucht und dabei scharfe Angriffe gegen Polizei und Justiz geführt. In dem Zusammenhang hatte er sich auch nicht gescheut, Heinen beim Namen zu nennen und ihn als das zu bezeichnen, was er war — einen Verbrecher. Er hatte Fakten veröffentlicht, die der Polizei entweder gar nicht bekannt waren oder die sie aus juristischen Gründen oder aus Gründen des Datenschutzes nicht gegen Heinen verwenden durfte.

Roth hatte Sigrids Aussage mit besonderer Sorgfalt studiert, nachdem die Ermittlungsakten der zuständigen Mordkommission bei der Soko Heinen gelandet waren.

Demnach war Sigrid nur wenige Meter von Blumes Boot entfernt gewesen, als er umgebracht wurde, aber sie hatte schlicht erklärt, nichts und niemanden gesehen zu haben. Und auch auf andere Weise konnte sie nichts zur Aufhellung der Tat beitragen. Sie konnte nicht einmal angeben, ob der Nachlass des Journalisten vollständig war, ob nach dem Mord etwa Aufzeichnungen verschwunden waren oder ob an anderer Stelle Notizen, Tonbandprotokolle oder Dokumente existierten.

Vermutlich hatte Blume sie auf den Fall der Fälle vorbereitet, und Sigrid war klug, das wusste Roth. Klug genug, sich an das zu halten, was Blume ihr eingeschärft haben mochte.

Nichts wissen.

Gar nichts.

Ein Prozess gegen Heinen oder Figuren aus seinem Umkreis konnte mühelos verschleppt werden, und keine Polizei der Welt wäre imstande gewesen, eine Zeugin auf Dauer zu schützen.

Auch Roth hätte ihr geraten, zu schweigen, besser noch, nichts zu wissen.

Aber jetzt wurde sie gesucht ...

»Sie sind nicht der Erste, der mich wegen Sigrid anquatscht«, sagte Tina.

»Wer hat Sie angequatscht?«, fragte er alarmiert.

»Irgendwelche Typen«, antwortete sie gleichmütig. »Freunde oder Bekannte von Sigrid. Ich kenne ihre Freunde nicht.«

»Wie viele waren es, die nach ihr gefragt haben? Und wie sahen sie aus?«

»Mann, Sie können einen nerven! Es waren zwei, glaube ich. Einer kam zweimal. Sah gut aus. Wie ein Sportler.«

Roth musste sofort an Makowski denken, den Zuhälter, der in Heinens Hierarchie weit nach oben gekommen war.

»Und der andere?«, fragte er.

Sie hob unbehaglich die Schultern. »Blond, glaube, ja, blond. Nicht sehr groß, aber irgendwie unheimlich. Und brutal. Wie ... wie ein Fleischerhund.«

Roth zog das Fahndungsfoto aus der Tasche. Unter einer Laterne zeigte er ihr Nelles' breiten Kopf mit den dichten hellen Brauen.

»Ist er das?«

Sie legte den Kopf schief und zog die Unterlippe zwischen die Zähne. Schließlich nickte sie.

»Ja, kann sein, ja ...«

Er fasste sie an den Schultern und schüttelte sie.

»Was denn nun?«, fuhr er sie ungeduldig an. »Ist er es? Oder ist er es nicht?«

»Was fällt Ihnen ein!«, fauchte sie. Sie versuchte, sich aus seinem harten Griff zu befreien, aber er hielt sie fest.

»Nach allem, was wir wissen, hat dieser Mann Blume umgebracht! Begreifen Sie jetzt? Sie hat ihn wahrscheinlich gesehen! Und sie muss etwas wissen, mehr, als sie damals ausgesagt hat! Und jetzt sind sie hinter ihr her!«

»Wer soll hinter ihr her sein?«

»Mein Gott, können Sie nicht einmal mit der dauernden Fragerei aufhören? Sie wird nicht von der Polizei oder der Staatsanwaltschaft gesucht. Im Rahmen eines Strafprozesses kann auch der Anwalt den Aufenthaltsort einer Person feststellen lassen, wenn er vorgibt, die Aussage dieser Person im Interesse seines Mandanten zu benötigen. Da genügt ein Vorwand. Verstehen Sie jetzt?«

»Aber wer ...?«

»Sie fragen ja schon wieder! Ich wollte es vermeiden, dieser Frage nachzugehen. Irgendjemand könnte sich fragen, was mein Interesse an Sigrid ist.«

»Und? Was ist Ihr Interesse?«

Roth ließ sie endlich los. Er atmete tief durch. Im Schein der Laterne sah ihr Gesicht blass aus. Ihre Augen konnte er nicht erkennen.

Was war sein Interesse? Diese Frage hatte er sich noch nicht gestellt. Sie war einmal seine Geliebte gewesen, doch das war längst vorbei, eine Erinnerung an eine Phase seines Lebens, die abgeschlossen war.

Oder schien es nur so?

Oder hatte ihn die Erkenntnis aufgeschreckt, dass sie zum Schweigen gebracht werden sollte?

Wäre sie eine fremde Zeugin gewesen, hätte er den Vorwand dieses gerichtlichen Fahndungsersuchens gar nicht erkannt. Gräfes Gerede von einem Mann im Präsidium, der für Heinen arbeitete, war doch nicht ohne Wirkung auf ihn geblieben. Sonst wäre er zu Tondorf gegangen und hätte ihm von seinem Verdacht erzählt, dass Sigrid Wolf nur deshalb gesucht wurde, damit ein Killer sie in Heinens Auftrag für immer zum Schweigen bringen konnte.

»Ich weiß es nicht«, sagte er ratlos. »Ich weiß nur, dass sie verloren ist ohne mich.«

Sie standen immer noch an derselben Stelle in der Nähe der Laterne. Das Licht fiel schräg über ihr Gesicht. Die dunklen Augenlöcher waren reglos auf ihn gerichtet. Plötzlich spürte er eine hilflose Wut.

»Irgendetwas müssen Sie doch wissen! Wo könnte sie sein? Bei Freunden? Wovon lebt sie? Herrgott, überlegen sie doch!«

»Ich habe keine Ahnung«, sagte sie, ebenso hilflos wie er. »Ehrlich nicht ...«

*

Er wusste genau, dass es ein Traum war, aber er wusste auch, dass er den Traum verbüßen musste wie eine Strafe. Immer und immer wieder.

Der Mann lag am Boden, der Kopf war ihm auf die Schulter gefallen. Über ihm klebte die schleimige Blutspur auf der gelben Tapete. Ein Schrei quoll aus Roths Kehle, als sich der Blick der brechenden Augen wieder belebte, als der Mann den Kopf hob und sich an der Wand in die Höhe stemmte wie in einem Film, der rückwärts lief. Gleich würden die beiden Kugeln in seine Pistole zurückkehren ...

Er wusste nicht, ob ihn sein eigener Schrei oder das Schrillen des Telefons von dem Alptraum befreite.

Keuchend fuhr er in die Höhe. Er hatte Mühe, sich zu orientieren. Er hatte vergessen, die Fenstervorhänge zu schließen. Die beiden Rechtecke hoben sich als fahle Umrisse von der dunklen Umgebung ab.

Bevor er den Schalter der Nachttischlampe fand, stieß er das Glas um, aus dem er vor dem Einschlafen getrunken hatte. Schaler Biergeruch breitete sich aus. Ungläubig starrte er auf die Uhr. Es war halb vier.

»Hallo!« Seine Stimme klang belegt. Er räusperte sich. »Hallo, wer ist da?«, fragte er schroff.

»Ich glaube, ich habe da was, ist mir eben eingefallen ...«

Er erkannte ihre kleine, unsichere Stimme sofort. Er setzte sich auf, räusperte sich noch einmal und wollte zu einer Frage ansetzen.

»Sind Sie noch da? Ich bin's, Tina Wolf.«

»Ja, Ja, natürlich.« Er war jetzt hellwach. »Wissen Sie, wo sie ist?«

»Nein, das nicht, aber ich kann Ihnen etwas zeigen.«

»Wo sind Sie?«

»Bei meinen Eltern. He, aber nicht jetzt! Kommen Sie ins Geschäft. Irgendwann. Heute Mittag vielleicht?«

»Wann fangen Sie an?«

»Um zehn.«

»Kommen Sie etwas früher. Neun Uhr?«

Er wartete ihre Antwort nicht ab. Er legte einfach auf.

Schön und ermordet: Zwei Kriminalromane

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