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Die Russen kommen

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Die Winterschlacht in Masuren war gewonnen. Noch einmal sind die Russen in Südostpreussen eingebrochen und haben abermals zerstört, was sich seit dem Augusteinfall langsam im Wiederaufbau befand. Wieder wurden Tausende verschleppt, waren Hunderttausende auf der Flucht.

Doch Hindenburg schlug den Feind zum zweiten Male entscheidend. In Gewaltmärschen führte er quer über die gefrorenen Seen und durch die tiefverschneiten Wälder Ostpreussens seine tapferen Divisionen an den Feind heran und begann mit dieser achttägigen Februarschlacht, in der wieder mehr als hunderttausend Gefangene entwaffnet wurden, den grossen Siegeszug von 1915 nach Polen.

An der Nordostgrenze, von Memel bis Schirwindt, hielten indes eine alte brave Landsturmdivision und ein Regiment Badenser Dragoner die Wacht. Seit den Augusttagen hatte der Russe hier noch nie einen ernsthaften Versuch unternommen, vorzudringen. Gewiss gehörte es zum täglichen Geschäft, Schüsse dann und wann hinüber und herüber zu wechseln. Von Zeit zu Zeit wurde das Feuer, besonders um das schon arg zerschossene Garsden, auch heftiger. Und manchmal verstummte dann ein braver Landwehrmann, der gerade sein Pfeifchen anzündete und an seine Kinder daheim dachte, ob sie auch alle gesund wären und sich auf seine Heimkehr freuten — da war es plötzlich vorbei ...

Ein Kamerad hob das noch brennende Pfeifchen auf, schüttete es traurig vor sich hinsinnend aus und schickte es mit ein paar tröstenden Zeilen denen, die ihn nie mehr erwarten durften. Ein Holzkreuz über einem stillen Grab, das neben vielen anderen in einer weltverlorenen Lichtung am Waldrande sich hügelt, trägt den Namen eines unbekannten stillen Helden.

Die badischen Dragoner hatten seit Wochen keine Verwundeten mehr. Die Kosaken zeigten sich kaum, die deutschen Batterien schossen zu gut. So waren den braven Badensern die täglichen Patrouillenritte fast ein Vergnügen.

„Das ist ja schon langweilig,“ meinte so mancher. „Hier kriegt man höschtens ein Eischernes Kreuz im Rücken vor lauter Einfrieren auf dem Sattel —“

„Bei uns daheim isch jetzt schon der Frühling do —“

Drei Dragoner, ein Unteroffizier und zwei Mann, ritten wie immer die Strasse von Rosillen nach Garsden entlang, sie wussten ihre alltägliche Meldung voraus: „Alles beim alten.“ Die breite Landstrasse lag im sonnenblitzenden Schnee, als sie plötzlich ein Surren in der Luft hörten, und von russischer Seite näherte sich ein immer grösser werdender Punkt.

Feindlicher Flieger!

In dem gleichen Augenblick Pfiffen Gewehrkugeln vom Waldrande her — das Pferd des Unteroffiziers, in der Flanke getroffen, brach zusammen. Verstreute Landwehrleute kamen querfeldein gelaufen — zurück, zurück! Sie kommen mit zehnfacher Übermacht. Garsden ist von den Russen genommen. Sie marschieren auf Memel.

Die Kanonen begannen zu wüten. Ein Gewitter von Granaten, Maschinengewehren und Flintenkugeln, von Handgranaten und Minen erhob sich — alles vergebens — die Deutschen waren zu schwach, sie mussten zurück.

Die Dragonerpatrouille machte kehrt, meldete dem Rittmeister das eben Geschehene, der wusste es bereits vom Divisionsstab, und im nächsten Augenblick rasten die drei deutschen Reiter schon mit einer neuen Meldung durch Rosillen ins Hinterland, um Verstärkung zu holen. Am Abend des 17. März standen die Russen vor Memel.

„Diesmal wird es bös, Vater. Gutsbesitzer Reinhold ist schon fort, hättest ihnen ein gutes Wort geben sollen, wir wären auch noch auf einem der Leiterwagen mitgekommen.“ Ein heftiger Knall neben dem Schulhaus. Im Birkenwäldchen drüben war eine deutsche Batterie aufgefahren und schoss.

Das kleine Brüderchen begann zu weinen, Annke tröstete es, ihre Stimme zitterte vor Angst. Die drei Jungens wollten zu den Soldaten hinaus, der Vater verbot es ihnen. Doch wenigstens am Fenster durften sie stehen, dessen Scheiben bei jedem Abschuss klirrten, und in der Nachmittagsdämmerung sehen, wie die Schüsse aufblitzten.

„Die Granaten fliegen im Bogen über unser Dach, zehn Kilometer weit.“

Wumm — tüü — krachte das Geschütz los und die Granate pfiff dahin.

„Sie werden es schon schaffen,“ sagte zuversichtlich der Vater. Es klopfte. „Herein — ah, der Herr Pfarrer.“

„Alles ist ausgerissen, mein lieber Herr Hennig.“

„Diese Kleingläubigen. Hindenburg wird die Russen auch hier heraustreiben.“

„Wenn er nicht genug noch an der Südgrenze unserer Heimat zu schaffen hat — hören Sie nur, wie das Vieh in den Ställen brüllt.“

„Sind alle ausgerissen, wie sie gingen und standen?“

„Ja, wie sie gingen und standen. Die Russen! Die Russen! Nun—“ der Pfarrer strich seinen langen weissen Bart und schaute durch seine Brille in weite Ferne, „es steht nicht besonders um uns — ich sprach vorhin mit dem Artillerieleutnant, der da im Birkenwäldchen noch schiessen lässt — er fürchtet, sie werden zurückgehen müssen, bald — da —“

Alles schrie auf und sah sich erschreckt an.

„Das Schusterhaus — das Schusterhaus brennt — eine russische Granate.“

Die letzten, die noch sich in den verödeten Wohnungen versteckt hielten, liefen aufgelöst die Dorfstrasse entlang — ohne Gruss standen sie in der Tür.

„Herr Pfarrer, Herr Hauptlehrer — fort, fort!“

„Zu Fuss in die Nacht? Alles im Stiche lassen? Geht das Vieh füttern — verliert nicht den Kopf — wir stehen in Gottes Hand,“ sagte der Pfarrer.

„Wir bleiben,“ entschied auch der Hauptlehrer.

„Und wenn — sie — kommen?“

„Wir wehrlose Menschen. Wir werden für den Feind tun, was wir können. Zu essen sollen sie haben und ein Dach über dem Kopf. Was sollen sie uns dann antun?“

„Na ja, is man jutt, Herr Präzentor (Bezeichnung für Hauptlehrer im Memelland). Dann wollen wir mal nach dem Vieh sehen.“

Die deutsche Batterie schoss bis in die Nacht hinein. Keine russische Granate liess sich mehr in Rosillen nieder.

„Morgen pfeifen wieder nur ein paar Gewehrkugeln — schlaf nur, Annke, schlaf,“ streichelte der Vater das von den plötzlichen Kriegsereignissen erschütterte Mädchen.

Doch Annke schlief die ganze Nacht nur halb. Immer wieder erschienen ihr die drei Kosaken vom Kriegsanfang auf der Wiese, der lächelnde Russe am Fenster, der fromme Pilger am Weihnachtsabend — endlich schlief sie fest und wie tot.

Eine rauhe Hand griff in ihren Schlaf.

Annke fuhr auf.

Kein Schrei kam aus der Kehle.

Ein russischer Soldat. Seine breitrandige Tellermütze über die wirren schwarzen Locken gestülpt. Betrunken.

„Marsch — raus — ich — schlaf.“

Annke sprang aus ihrem Bett, nahm ihre Kleider und flitzte hinaus.

„Ein Russe — ein Russe!“

Da standen auch schon russische Soldaten mit Bajonetten vor dem Vater.

„Wo ist die Kasse vergraben?“ fragte einer, der Deutsch zu sprechen verstand.

Der Vater zuckte die Achseln.

Die Mutter flüsterte Annke zu, sie hätten den Vater mit dem Spaten aus dem Garten kommen sehen, wo er tatsächlich die Kirchenkasse vergraben hat.

Annke schaute in den Garten hinaus. Da trampelten zwanzig bis dreissig Mann kreuz und quer über den Beeten herum.

„Uurra!“ schrie jetzt einer.

Sie hatten die Kasse gefunden.

Alle, bis auf einen, der in Annkes Bett seinen Rausch ausschlief, waren mit dem Geld im Nu verschwunden. Im Wirtshaus, wo nur noch ein lahmer alter Knecht zurückgeblieben war, lockten sie mit den gestohlenen Talern das letzte an Schnaps und Wein aus dem Keller.

Der Vater und der Pfarrer berieten, ob sie fliehen sollten. Die Jungens wurden nach einem Fuhrwerk ausgeschickt. Vorsichtig schlängelten sie sich zwischen den Trupps der meist betrunkenen russischen Soldaten hindurch. Adolf erhielt einmal einen Fusstritt, dass er lang hinfiel und sein Knie aufschlug.

„Pst — nichts sagen — nicht reizen,“ ermahnte ihn der ganz kleinlaut gewordene Bernhard, da ihn, der schon ziemlich gross und kräftig aussah, die Soldaten besonders argwöhnisch musterten.

Sie gingen von Haus zu Haus. Nirgendwo auch nur ein Handwagen.

Als die drei Jungens, am Dorfrand auf einem Geländer des Abflussgrabens hockend, sich ausruhten, sahen sie plötzlich einen Wagen die Strasse von Memel im Galopp herkommen.

Hei — das war doch —? So knallte doch nur eine mit der Peitsche:

„Grossmutter!“

„Ja, Jungens, was moakt ihr denn hier?“

„Aber Grossmutter — es ist doch Krieg — die Russen sind drin.“

„Auch bei euch? —Ich dachte, hier sind sie noch nicht — na so etwas —“

„Wir wollen alle fort — wart mit dem Wagen hier. — Ja, wen hast du denn da mit?“

„Zwei aus unserem Dorf, Frau Domscheit und Frau Blieskat, die wollten bloss nach ihrem Vieh sehen, das sie beim Plimbeitis in Pflege haben.“

„O Gott, o Gott — überall diese Russkis — haben sicher schon alles fortgetrieben?“

„Vorläufig sind sie nur betrunken — also wart hier, Grossmutter.“

Bernhard, Adolf und Herbert liefen ins Schulhaus zurück: „Die Grossmutter ist mit dem Wagen da — packen, packen.“

Das liess sich keiner zweimal sagen. Annke raste treppauf, treppab, holte ihre kleinen Habseligkeiten zusammen, vor allem Andersens Märchen, ihr Lieblingsbuch, und eine kleine, kaum fingergrosse Puppe, für die sie schon mindestens dreissig Kleidchen mit zierlichsten Borten genäht und gestickt hatte. Dann half sie der Mutter und der jungen Magd, die aus der Goldaper Gegend stammte und immerfort weinte: „Ich will nach Haus,“ die Kleider in einen Bettbezug stopfen, raffte etwas Butter, Wurst und Brot in einem Bündel zusammen, stopfte in den grossen Koffer Vaters Pelz.

„Los, los, los!“ Der Vater, die Jungens standen fix und fertig da. „Hol Pfarrers, Herbert — hintenherum gehen wir über die Rodelbahn an der Pumpe und der Dorflinde vorbei.“

Sie schlichen davon.

Auf der Hauptstrasse des Dorfes sah man in der Winterdämmerung die torkelnden johlenden Gestalten. Manchmal ganz nah die gutmütig klingende Stimme eines siegesfrohen Russen.

Dass sich Menschen einander so viel Leid zufügen, dachte Annke.

Da war schon die Dorflinde. Hier hatten sie so manchen Abend, alle Kinder aus dem Dorf und einige Mägde dazu, gesessen und friedliche fröhliche Lieder gesungen, und haben getanzt und gespielt.

Vorbei — Für immer?

Ist die Jugend aus?

„Wo ist denn der Wagen?“ fragte der Vater.

„Da stand er doch?“

„Grossmutter — Grossmutter!“

„Dort — Vater.“

Auf dem Kutschbock sass ein Russe und kitzelte Grossmutter übermütig mit der Peitsche. Ein anderer wollte sie umarmen. Da holte die Grossmutter aus.

„Oh — das sitzt!“ schrie Bernhard in Erinnerung an manche Tachtel, die er bei Besuchen auf Grossmutters Gütchen bekam.

Alle mussten lachen, denn in dem Augenblick klatschte es wirklich. Der Russe liess ab und sah sie voller Respekt an.

Der Vater trat herzu: „Das ist meine Mutter!“

Doch der Wagen wurde von den Russen beschlagnahmt. Eine Flucht schien nun unmöglich.

Annke schlief diese Nacht auf dem Sofa. In ihr Bett, das der unheimliche Russe mit seinen Stiefeln beschmutzt hatte und das nach Schnaps und Tabak widerlich roch, wollte sie sich nicht mehr legen. Sie schlummerte gleich ein und hatte keinen Traum. Zu verworren und wildbewegt war dieser Tag dahingegangen, das Herz hatten tausend Ängste gejagt, bis es gleichgültig im ewigen Takt weiterschlug: Lebst du noch? Lebst du — noch?

Annke - Kriegsgeschichte eines ostpreussischen Mädchens (1914-1918)

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