Читать книгу Annke - Kriegsgeschichte eines ostpreussischen Mädchens (1914-1918) - Alfred Hein - Страница 8
Durch Nacht und Schnee ins Ungewisse
ОглавлениеDie Schlacht war im Gange.
Rosillen wurde Quartierort der Russen. Schon am Sonnabend nachmittags waren alle zurückgebliebenen Bewohner auf die Strasse getrieben worden: „Marsch, nach Tilsit!“
Doch als der Zug der Flüchtlinge auf der Landstrasse sich mühsam hindurchwand, die Grossmutter kutschierte den Wagen, der alle Frauen trug, Mutter das kleine schreiende Brüderchen im Arm, das Annke, die neben ihr sass, tröstend streichelte, hiess es plötzlich: Halt!
Ein russischer Offizier ritt herzu und gab dem Pfarrer in gebrochenem Deutsch zu verstehen, dass zwei russische Divisionen im Anmarsch auf der Chaussee seien — ein Durchkommen der Flüchtlinge sei unmöglich.
Dann befahl er — Annke und die Mutter schrien auf, als sie sahen, was nun geschah — den Pfarrer, den Vater, einen achtzig Jahre alten Knecht und den fünfzehnjährigen Bernhard in Haft zu nehmen. Der Wagen mit den Frauen wurde von zwei Infanteristen auf den Weg ins Dorf zurückgeschoben, obwohl die Grossmutter kein Blatt vor den Mund nahm und über die „verdammte Schweinerei und Gemeinheit“ so schimpfte, dass einer der russischen Soldaten ihr das Bajonett vor die Brust hielt.
Annke schluchzte vor sich hin: Väterchen. Herbert und Adolf liefen wie zwei Hündchen neben dem Wagen her, der wieder ins Dorf einfuhr, während die vier gefangenen Männer im Gewühl der Soldaten verschwanden.
„Sie werden sie erschiessen,“ flüsterte Annke.
„Quatsch keinen Kohl! Die glauben doch auch an einen Gott — wir haben nichts getan,“ fuhr die Grossmutter drein.
Als die Frauen und Kinder alle im Schulhaus zusammensassen, ratlos, trostleer, ohne Hoffnung — und draussen dröhnten die Kanonen, erscholl das ewige Gekläffe der Gewehrschüsse, das Getacke der Maschinengewehre in die mit leisem Schnee so friedlich sich niedersenkende Märznacht, als selbst die Grossmutter den Kopf hängen liess und schwieg, da — sprang die Tür weit auf:
Bernhard — der Vater — der Pfarrer der Alte — alle waren wieder da!
„Man hat uns bloss ausgehorcht!“ schrie Bernhard. „Wir haben aber nichts verraten!“
„Weil wir ja gar nichts wissen,“ sagte der Pfarrer.
„Doch wer weiss, was noch geschieht?“ seufzte Vater.
„Jau, jau — dänn man tau,“ nickte der alte Knecht vor sich hin.“
Alles lachte! —
Vierundzwanzig Stunden später, als der Geschützdonner immer näher kam und schon deutsche Granaten in das Dorf einschlugen, als die „russische Dampfwalze“ sich wieder rückwärts bewegen musste, und die gestern noch mit siegesgewissen Mienen vorwärts rasenden wilden Reiter heute mit bangen Gesichtern durchs Dorf zur Grenze galoppierten, da riss die Kriegswoge dies Häuflein im Grenzdorf mutig ausharrender Deutscher noch mit sich in den brandenden Strudel.
Plötzlich zerklirrte eine Fensterscheibe. Noch eine.
„Sie schiessen aus purem Übermut in unsere Fenster,“ sagte der Vater.
„Aus Wut, dass sie besiegt werden,“ Bernhard ballte die Fäuste.
„Alle in den Keller!“
Nun hockten die Gehetzten und Hungernden Stunde um Stunde, während zu ihren Häupten dauernd Marschtritte erschollen, dann und wann Schüsse krachten, in dem düsteren kalten Raum.
„Äpfel?“ schrie Adolf.
„Ach, das Schüttelobst,“ sagte der Vater. „Verteil mal — alles hat Hunger.“
„Wir essen Ihre schönen Äpfel, Herr Hennig, es ist aber alles andere als ein paradiesischer Zustand,“ lächelte der Pfarrer. „Wollen wir eine Zigarre rauchen?“
Die Herren zündeten sich die Zigarren an. Gespenstisch leuchteten die Gesichter der Zusammengedrängten auf.
„Jau, jau — dänn man tau,“ meldete sich der Alte.
„Ach so.“ Der Pfarrer reichte ihm auch eine Zigarre hinüber.
„Ich glaube, jetzt können wir wieder nach oben. Die Aasbande ist weg,“ sagte die Grossmutter.
Der Vater und der Pfarrer gingen voran. Sie traten ins Wohnzimmer. Welch Durcheinander! Der Spiegel zerschlagen, das Sofa mit einem Säbelhieb zerschnitten, Tisch, Stühle und Teppich beschmutzt.
Drei russische Unteroffiziere sassen in dem verwüsteten Zimmer herum. Einer zündete gerade die Lampe an. Sie riefen sich unverständliche Worte zu —
Wenige Minuten später hatten sie ihre Soldaten in den Keller heruntergeschickt, die mit Püffen und Kolbenstössen die Armen vor sich her trieben.
Ein russischer Offizier erschien — gab Befehle.
„In einer Viertelstunde — fort — da — mitgehen.“
Er wies auf einen Unteroffizier und vier Mann, die den Pfarrer, der auf den Offizier einreden wollte, mit harten Fäusten festhielten.
Der Offizier lächelte, zuckte die Achseln — eine Granate schlug in der Nähe ein — da eilte er hinaus.
Als die Jungens Grossmutters Wagen, den die Russen bei ihrer Flucht aus dem Dorf vor einigen Tagen stehen gelassen hatten, anspannten und die Grossmutter auf den Kutschbock kletterte, da schüttelten die Russen die Köpfe und zeigten grinsend auf ihre Füsse, ahmten ein kindisches Laufen nach — das hiess also: zu Fuss.
Durch Nacht und Schnee —
Da zogen sie hin.
Der Pfarrer, der Vater, die Grossmutter und der Alte voran.
Dann die Mutter mit dem Brüderchen, das sie, nur in ein Tuch gebunden, im Arm trug. Neben ihr Annke, Adolf und Herbert.
Bernhard mürrisch und wütend hinterdrein.
Dann die Frau Pfarrer mit der Frau Domscheit und der Frau Blieskat, die auch nicht mehr in ihr Heimatdorf zurück durften, ein jeder trug ein Bündel mit eiligst zusammengerafften Sachen, zum Schluss am ärgsten bepackt die Mägde.
Annke Hennig trug auch einen Rucksack voll in der Hast wahllos zusammengesuchter Dinge. Wichtiges war vergessen, Unwichtiges in der Aufregung mitgenommen. Als sie das Brot aus der Speisekammer holen wollte, war es von den Russen schon gestohlen. Milch für das Kleine ...?
Auf der Landstrasse währte der Weg zur Grenze in friedlichen Tagen eine Stunde. Doch die Russen schüttelten die Köpfe, als der Vater ihnen den geraden Weg nach Garsden, der russischen Grenzstation, wies. Statt nach Osten, führten die Soldaten sie kreuz und quer über verschneite Felder und Sturzäcker, über Gräben und Hügel gen Norden. Denn immer näher kam das deutsche Gewehrfeuer, in wenigen Stunden mussten die braven Landstürmer von Tilsit her wieder in Rosillen sein.
Mächtige Feuerscheine brennender Scheunen und Gehöfte erfüllten die schwarze Nacht. Der Schnee glitzerte golden darin. „Vielleicht steht auch unser Schulhaus schon in Flammen,“ sagte der Vater. Dann wandte er sich abermals an den Unteroffizier und wies nach Osten. Doch die Russen liefen weiter mit ihnen querfeldein. Das Brüderchen schrie, die Mutter stöhnte unter seiner Last, und die Grossmutter fluchte auf die Soldaten, was das Zeug hielt.
Als ihr einer mit dem Säbel drohte, da sagte sie zum Vater: „Hau ihm eins in die freche Schnauze!“
Plötzlich ein rasendes Pferdegetrappel. Russische Kavallerie im Galopp zurück — schon vorbei!
Versprengte Trupps Infanterie tauchten da und dort auf. Riefen den Begleitsoldaten der Verschleppten ängstlich etwas zu. Darauf trieben sie die müde und erfroren Dahinwankenden zur Eile an.
Immer weiter dahin — dorthin. „Ach Gott,“ sagte der Pfarrer, „hier ist ja erst Grambowischken, wir sind im Kreise herumgelaufen.“
Zum Schluss sprach keiner mehr ein Wort.
Annke rieb die Hände. Sie waren ohne Gefühl. Ihre Füsse stapften seltsam hohl und wie Fremdkörper an ihr hängend dahin. Der Rucksack drückte nicht mehr. Die Tränen, die Worte, alle menschlichen Regungen waren versiegt. Nur das Herz klopfte wild und hart gegen die kleine Brust.
Endlich matt erleuchtete Hütten — das da drüben war Garsden — und hier die Ruinen, durch die die hoffnungslose Schar jetzt schritt, war Laugallen, der deutsche Grenzort.
Lieb Heimatland ade — — —
Aber noch immer hofften die Männer, dass irgendwo plötzlich deutsche Reiter auftauchen und sie in die Heimat zurückführen werden.
Der Schnee sank in dicken Flocken. Eisiger Nordwind. Kein Stern am Himmel. Kanonengedröhne. Gewehrgeknatter. Und als wäre die Erde am Tage des jüngsten Gerichtes aufgebrochen, flackerten die Feuerscheine. Ganze Dörfer brannten.