Читать книгу Augenzeugenbericht des Häftling Nr. 738 im KZ Buchenwald 1937–1945 - Alfred Michael Andreas Bunzol - Страница 7
Der 22. Mai 1951
ОглавлениеHeute ist der 22. Mai 1951. Ich stehe wie immer sehr früh auf, und gehe zum Fenster. Einfach nur am Fenster zu stehen, aus ihm zu schauen, um das draußen zu betrachten. Einfach schön. Das was ich sehe, ist das Wirken von gegenseitiger Anziehung und es machte mir große Freude, nicht nur Freude, sondern auch Dankbarkeit. Der Frühling ist da, nicht nur in der Natur, sondern auch in mir. Blühende Bäume, die Sonne strahlt. Die Welt kann so schön sein. Es wird heute wieder ein herrlicher Tag werden. So ist das halt morgens im Frühling, die Sonne geht auf und die Vögel zwitschern. Es ist ein Pfeifen der Anerkennung, so wie die Männer schönen Frauen manchmal hinterher pfeifen. Der allmorgendliche Blick in die Schönheit der Natur, in die Freiheit, den ich genieße und brauche, ist mir nach Buchenwald zur Gewohnheit geworden. Auch wenn es nur ein kurzer Ausblick ist, ich sauge ihn auf. Er gibt mir täglich neue Lebenskraft. Ein immer wieder faszinierender Anblick, wie es die Sonne schafft, die Natur jeden Morgen zu neuem Leben erwachen zu lassen. Das Licht das die Naturwelt durchströmt, es läßt sich nicht wiedergeben. Man muss es sehen und erleben. Wie in den Urgewalten des Windes die Bäume tanzen. Natur ist etwas Kostbares! Gleich werden die Leute vom NKWGviii kommen, um mich zum „Erfahrungsaustausch“ nach Karlshorst abzuholen. Wieder so ein sinnloses Verhör. Wieder diese bohrenden Fragen zu meiner Gesinnung, meiner Einstellung zur Sowjetunion, was ich über Stalin, den großen Führer denke. Ob ich die Entwicklung in der Sowjetzone gutheiße, die SEDix, die neue Staatsführung, die Deutsche Demokratische Republik (DDR). Warum ich mit einem Zeugen Jehovasx verkehre? Immer wieder diese Fragen, die ich seit meiner „Strafversetzung“ von Weimar nach Teltow hier über mich ergehen lassen muß. Zu der neuen Arbeitsstelle gehört dieses von der Sowjetarmee konfiszierte Einfamilienhaus in Rangsdorf, im Grenzweg, in welches ich mit meiner Familie einziehen durfte. Es lag etwas abseits. In einer schönen Waldsiedlung. Schon in Weimar hat man versucht mich aus dem Verkehr zu ziehen. „Wegen meiner demokratischen Ansichten“, die im sowjetisch besetzten Sektor anscheinend nicht mehr gefragt sind. Hier war ihre Strategie, mich auf Arbeit zu demütigen oder mich kalt zu stellen. Beinah wäre es ihnen gelungen. Ich musste mich in psychiatrische Behandlung begeben, war auch einige Zeit in der Psyachtrie in Jena untergebracht. Diese Demütigungen machten mir anfangs schwer zu schaffen. Als die „neuen Genossen“ in der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands aber merkten, dass sie keine Wirkung mehr bei mir erzielten konnten, wurde ich eben nach Teltow versetzt. Ab da beschäftigte sich der NKWD mit mir. Ein Grund war sicherlich auch, uns Buchenwaldkameraden zu trennen, denn ich war nicht der einzigste von uns, der wegen seiner politischen Gedanken Schwierigkeiten bekam. Oder haben sie vielleicht Angst vor uns Buchenwaldlern? Sehen uns in diesem neuen System als ungebetene Konkurrenten, die unangenehme Fragen stellen? Ich habe meine Konsequenzen aus diesem ganzen politischen Schwindel gezogen, ich werde mich wie schon so viele von meinen Kameraden in den amerikanischen Sektor absetzen. Aus Angst, ja! Vor den demütigenden und erniedrigen Verhören, nein. Vor den Russen, nein. Vor diesen sogenannten neuen Genossen in der SED, nein. Sondern aus Angst vor einer neuerlichen Verhaftung, einer Deportation nach Sibirien, womöglich wieder nach Buchenwald. Wer trauert hat keine Angst mehr, wer liebt auch nicht, aber davor habe ich Angst. Einige der alten Genossen von Buchenwald hat es auf die eine oder andere Weise schon getroffen. Warum, es weis keiner so genau. Ich weis nicht was noch kommen wird in den unendlichen Jahrhunderten. Aber eins weis ich genau, das würde ich nicht nochmals überstehen, nicht mehr durchhalten können. Diesmal würden sie mich zerstören und nicht nur mich, auch meine gesamte Familie. Deshalb kann und will ich in diesem sogenannten sozialistischen System nicht mehr mitmachen. Hoffentlich klappt alles wie geplant. Die Koffer hat Käte schon gepackt. Sie stehen im Flur. Am Wochenende werden wir Rangsdorf in Richtung Hessen verlassen. Es ist schon alles mit meinen Kameraden Briel vorbereitet. Käte weiß aber noch nichts davon, ich will sie und die Kinder nicht unnötig in Gefahr bringen. Sie denkt wir fahren nach Großrudestedt zu ihren Eltern. Ihr geht es nicht besonders, sie ist seit eineinhalb Monaten wieder schwanger, hat es mir vorige Woche gesagt. Wir freuen uns sehr auf das Kind. Kindersegen ist Gottes Segen habe ich Käte gesagt. Dann sind wir eben zu sechst. Die Kinder Hansi, Jutta, Rosa, „das neue“, Käte und ich. Ich freue mich darauf. Hoffentlich wird es ein Junge? Käte braucht mich jetzt. Das spüre ich. Sie braucht viel Liebe und Zärtlichkeit von mir. Sie möchte auch, dass ich für sie da bin, um sie bestmöglichts zu unterstützen. Ich mache leise, um Käte und die Kinder nicht zu wecken. Gehe ins Badezimmer und dusche mich. Im Fenster sehe ich den Wagen vom NKWD vorfahren. Ich gehe und öffne die Haustür, damit sie nicht klingeln brauchen, denn die Kinder und Käte sollen ruhig noch schlafen. Es ist ja erst kurz vor 6.00 Uhr. Es sind zwei neue Genossen. Sie sehen mein verdutztes Gesicht und sagen, da Sergeant Konzef und Major Kowulev, ihn kenne ich persönlich, er wohnt bei Notens, verhindert sind. Notens sind die einzigen Bekannten in Rangsdorf, mit denen wir uns angefreundet haben. Ich bitte sie herein, weil ich noch nicht ganz fertig bin. Sie fragen nach meiner Dienstwaffe und wollen sie sehen. Das wundert mich etwas, aber was soll’s. Ich führe sie ins Arbeitszimmer, wo ich sie in meinen Schreibtisch aufbewahre und gebe sie einem der Genossen. Ich sehe wie der andere das Arbeitszimmer abschließt. Ich setze mich hinter meinen Schreibtisch und frage ihn was das soll und wo er den Schlüssel zu meinem Haus her hat. Das Haus gehört der Sowjetunion war seine Antwort. Wofür wir natürlich auch die Schlüssel haben. Der andere kam auf mich zu. Ich wollte noch den Kopf drehen und ihn anschauen. Zu Spät, er drückt etwas Kaltes, Metallenes an meine Schläfe. Als ich aufschauen wollte, verstärkte sich der Druck. Ich spüre den kalten Druck meiner Pistole, die ich ihm gab. Er entsicherte sie und schoss auf mich. Bums! „Sie legten die Pistole in die Hand ihres Opfers und verließen in aller Ruhe das Zimmer durch das Fenster. Bei ihnen kann keinerlei Hektik auf, den sie gehörten dem Spezialkommando des NKWD an. Und ihr Spezialkommando innerhalb des NKWD war auch für solche Fälle zuständig. Die beiden sind froh, dass alles so schnell und unkompliziert ablief. Den sie wussten, daß auch noch die Frau mit Kindern im Hause waren. Wären sie wach gewesen, hätten auch sie erschossen werden müssen, so lautete der Befehl. Ein Familiendrama eben. Aber auch so würde keiner eine Liquitierung vermuten. Alle werden denken es war Selbstmord. Es hat doch schon so oft funktioniert. Wer sollte, wenn überhaupt, eine Ermittlung einleiten. Es sieht doch alles wie der perfekte Selbstmord aus. Sie waren zufrieden. Es würde wieder ein Lob und vielleicht Sonderurlaub geben. Für sie war es eben nur ein Deutscher, ein Faschist oder in diesen Fall ein Verräter, den sie beseitigten. Sie hatten kein Problem damit, Menschen zu liquidieren, wenn die Partei es verlangte. Denn die Partei wusste schon warum, wenn ein solcher Befehl erteilt wurde. Und in diesem Krieg gegen die Deutschen wurde er ihnen oft erteilt. Für sie immer eine Art Rache für die Vernichtung ihrer ganzen Familie. Nur sie sind die einzigen Überlebenden eines Rachefeldzuges der gehassten Faschisten gegen Ihr Dorf, südlich von Kiew, was nicht mehr existiert, von der Landkarte verschwunden ist. Von der Landkarte verschwunden wie so viele anderen Dörfer und Städte in der Sowjetunion, mit samt ihren Bewohnern, in diesem großen Krieg. Sie erlebten den barbarischen Vernichtungskrieg der SS gegen die Zivilbevölkerung aus nächster Nähe. Sie sahen mit eigenen Augen, wie die Bewohner ihres Dorfes in eine Scheune gesperrt und bei lebendigem Leibe verbrannt wurden. Fassungslos sahen sie die brennende Scheune, hörten die Schreie. Fassungslos sahen sie diese Satiriker, die so etwas taten und dabei noch lachen konnten. Begreifen, nein, das konnten sie nicht. Alle weg, Mutter, Vater, Schwester, Verwandte. Sie waren damals gerade Sechzehn, Kinder. Nur der Zufall rettete sie, warum gerade sie? Sie mussten alles erst begreifen lernen, was nicht zu verstehen war. Sie hatten ihre Familie verloren. Zeit zur Trauer war kaum da. Es wurde der Moment in ihren Leben, den sie nie vergessen werden, auch wenn er schon lange vorbei ist. In ihnen wurden an diesem Tag andere Menschen geboren. Sie lebten zwar noch, waren aber innerlich tot. Ihr bisheriges Leben wurde wie durch Geisterhand zerstör, sie hatten das Wichtigste für immer verloren. Ihre Gesichter, sie alterten um Jahre. Was wäre aus ihnen ohne diesen Krieg geworden? Aus Kolja wahrscheinlich ein Schlosser. Was schimpften die Eltern mit ihm, nichts war vor ihm sicher, alles baute er auseinander. Oder Mischa, der stets der beste Sportler in der Klasse war. Er zu Wettkämpfen bis nach Kiew fuhr. Dort siegte. Wie stolz waren die Eltern, die so schnell verschwanden, wie der Krieg kam. Wer hat sich von diesen deutschen Faschisten schon für das Schicksal eines Mischa oder Kolja interessiert, ihr Schicksal. Nur die Partei, die KPdSU, gab ihnen die nötige Kraft um diese Zeit der Trauer durchzustehen. In dieser für sie absolut verzweifelten Situation. Sie wurde ihre neue Familie. Die Partei hat sie erzogen, sie als Kämpfer gegen ihren Feind ausgebildet, aus ihnen Kommunisten gemacht. Sie wurden lebende Kampfmaschinen, die in diesem Krieg gegen die Deutschen so dringend gebraucht wurden. An Nachwuchs mangelte es ja nicht, dafür sorgten schon die Faschisten selbst, mit ihrem Krieg der verbrannten Erde. Sie wurden Partisanen, später Soldaten in der sowjetischen Armee und sie waren nicht zimperlich gegen die Deutschen. Nach dem Krieg wurden sie zum NKWD delegiert, in besagte Spezialeinheit. Für diese, ihre Partei, würden sie alles tun, ohne nach dem warum zu fragen, denn die Partei hat immer recht. Sie setzten sich zufrieden in ihr Auto und fuhren davon. Keiner hatte sie bemerkt.“ Ich weiß nicht, wie viel Zeit seid dem Knall vergangen ist. Eine Ewigkeit. Die reden irgendetwas miteinander. Ich kann sie nicht verstehen. Diese Stimmen! Sie sind sooo langsam, sooo phlegmatisch, soooo rollend. Genauso langsam, schleichend und phlegmatisch sind ihre Schritte. Der eine drückt mir die Pistole in die Hand. Ich will sie nicht! Wieso gehen sie durchs Fenster und nicht durch die Tür. Mein Blut spritzt auf den Schreibtisch, auf dem mein Kopf liegt. Wie bei einem Huhn, dem man den Kopf abgeschlagen hat. Mit jedem Herzschlag ein Spritzer. Es tat nicht weh, ich spürte wie mein Leben mit jedem Herzschlag, mit jedem Atemzug immer mehr aus meinem Körper weicht. Alfred du musst um Hilfe schreien! Ich kann es nicht mehr. Ich bin zu schwach. Heute ist der Tag für mich gekommen, ich werde sterben müssen. Ich habe keine Angst um mich, nur um die Zukunft meiner Familie. Für sie wird es schrecklich werden. Es entsteht eine seltsame Ruhe in mir. Ich durchschreite einen langen Gang. Links und recht stehen alte Kameraden Spalier, die es nicht mehr gibt. Sie schütteln mir die Hand. Es spielt ein Orchester Musik. Sie spielen diese traurige, aber faszinierende Musik die ich seit Buchenwald höre und die mich seit dem verfolgt. Heute wird sie zum letzten Mal gespielt, nur für mich. Ist dies etwa der Eingang zum Himmel? Ich sehe den Beginn meines Lebensweges, meine Geburt. Im Angesicht des Totes beginnen die Bilder meines Lebens, das am Freitag, dem 31. Mai 1907 in Bielschowitz begann, sich aneinandergereiht in Bewegung zu setzen und ziehen wie in einen Film an meinem inneren Augapfel vorbei. Für mich wird dieser Film das Ende sein. Trotzdem, lässt er mich nicht los, ich muss ihn einfach zu Ende schauen. Danach wird es für mich kein Zurück ins Leben geben. Morgen werde ich die Sonne nicht mehr aufgehen sehen. Das weiß ich!