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Prämissen: Marx als Philosoph und Philosophiekritiker
ОглавлениеBei alledem ist eine Prämisse zu beachten, die den in diesem Band entwickelten Themenschwerpunkt »Marx als Philosoph« inwendig betrifft. Denn gewiss ruft bereits diese Kennzeichnung Widerspruch hervor: Haben nicht Marx und Engels nach anfänglichen Verwicklungen ausdrücklich ihren Abschied von der Philosophie erklärt und ihren Willen bekundet, mit ihrem »ehemalige[n] philosophischen Gewissen abzurechnen«?1 Hieß es nicht in der Deutschen Ideologie klar und deutlich: »Man muß die Philosophie beiseite liegenlassen, […] man muß aus ihr herausspringen und sich als gewöhnlicher Mensch an das Studium der Wirklichkeit geben, wozu auch literarisch ein ungeheures, den Philosophen natürlich unbekanntes Material vorliegt.« Und noch drastischer im selben Kontext: »Philosophie und Studium der wirklichen Welt verhalten sich zueinander wie Onanie und Geschlechtsliebe.«2 Haben wir also nicht allen Grund, Bertolt Brecht zu folgen, der in seinem Aphorismen- und Anekdotenband Me-ti. Buch der Wendungen die Frage stellt – »Soll man Philosophen als Philosoph gegenübertreten?« – um diese mit dem Versuch eines Überblicks über Etappen des Marxschen Erkenntnisprozesses so zu beantworten:
»Me-ti sagte: Meister Ka-meh trat den Philosophen zu verschiedenen Zeiten seines Lebens verschieden gegenüber. Zuerst näherte er sich ihnen als Philosoph und zerpflückte ihre Behauptungen von ihrem eigenen Standpunkt aus. Dann behandelte er sie als Nichtphilosoph und zeigte lediglich an ihrem Beispiel, zu welchen Abgeschmacktheiten es führt, wenn man lebt um zu philosophieren, statt philosophiert um zu leben. Am Ende befaßte er sich nicht mehr mit Philosophen, sondern beschäftigte sich nur mit praktischen Forschungen, ab und zu Philosophen wie lästige Fliegen abwehrend.«3
Bei allem Witz der Brechtschen Aphoristik, der letzten Wendung hätte Schmidt nicht vorbehaltlos zugestimmt, und zwar aus drei Gründen: Zum einen kann er gewichtige Argumente gegen die Auffassung ins Feld führen, Marx habe sich vom philosophischen Denken gänzlich befreit, um zur ökonomischen Forschung übergehen zu können, und damit den Standpunkt der Philosophie verlassen, um den der Wissenschaft einzunehmen; diese These entspreche zwar weitgehend dem von Marx formulierten Selbstverständnis, nicht aber der Art und Weise, wie der Kritiker der politischen Ökonomie in seinen materialen Analysen seinen Erkenntnisgegenstand erfasste und sein Erkenntnisverfahren organisierte. In seinem Nachwort zu Henri Lefèbvres Schrift Probleme des Marxismus, heute erklärt Schmidt hierzu:
»Indem Marx in der Deutschen Ideologie die ›auf rein empirischem Wege konstatierbaren Voraussetzungen‹ der historischen Praxis hervorhebt, verfährt er ›wissenschaftlich‹, indem er jedoch bei der Unmittelbarkeit des Konstatierten nicht verharrt, sondern es als von Menschen gemacht und folglich veränderbar darstellt, verfährt er ›philosophisch‹. Damit verliert zwar die ›selbstständige Philosophie‹ ihr ›Existenzmedium‹, aber es bedarf keiner Frage, daß der Marxsche Vorwurf, bei den ›abstrakten Empirikern‹ werde die Geschichte zu einer ›Sammlung toter Fakta‹, nur von einer Position aus erhoben werden kann, die mit Hegel in begrifflichen Operationen mehr sieht als ein Ordnen sinnlicher Daten. Philosophie und Wissenschaft lassen sich im Marxschen Denken nicht säuberlich voneinander scheiden. Beide gehen als gebrochene und damit in ihrer Qualität veränderte Elemente in einen Begriff von Kritik ein, der die Gegebenheiten ebenso als solche anerkennt wie verwirft und die erscheinende von der wesentlichen Realität zu unterscheiden versteht.«4
Marxens Ausgangsposition betreffend, müsse – mit Herbert Marcuse gesprochen – »gesehen und verstanden werden: daß Ökonomie und Politik auf dem Grunde einer ganz bestimmten philosophischen Interpretation des menschlichen Wesens und seiner geschichtlichen Verwirklichung zur ökonomisch-politischen Basis der Theorie der Revolution geworden sind.«5 Zweitens: Der Materialismus-Forscher Schmidt erteilt dem in der Frage nach dem Verhältnis von Marx zur Philosophie weiterhin Orientierung Suchenden den folgenden Rat:
»Das Wesen des Marxschen Materialismus wird so lange verfehlt, als man ihn bloß als innerphilosophische, gar weltanschauliche Alternative zu einem wie immer gearteten Idealismus interpretiert. Er ist aber ebenso sehr die – freilich selbst noch philosophisch motivierte – Kritik und Aufhebung der Philosophie als Philosophie. Gesamtgesellschaftlich-historisch orientiert, vermag er sich insofern über die Philosophie zu erheben, als er die innerphilosophischen Fragen, ohne deshalb ihren Sachgehalt zu leugnen, als ein Abgeleitetes und Vermitteltes durchschaut. So büßt auch, was Engels in seiner Feuerbachschrift als die ›höchste Frage der gesamten Philosophie‹ bezeichnet, die nämlich ›nach dem Verhältnis des Denkens zum Sein, des Geistes zur Natur‹, sehr an Gewicht ein, hat man sich einmal verdeutlicht, daß Begriffe wie Denken und Sein, Geist und Natur ebenso wie die naturwissenschaftlichen Erklärungsweisen der Praxis entsprungene Produkte sind, mit deren Hilfe die Menschen geschichtlich begrenzte, keine ewigen Probleme zu lösen suchen.«6
Drittens: Es ist Schmidts Anliegen zu zeigen, dass gerade das Studium der Geschichte des Materialismus auch darüber belehrt, dass Brechts Wendung vom Philosophieren »um zu leben« keine Absage an Philosophie bedeutet; mit ihr wohl aber ein anderes Verhältnis der Philosophie zur Wirklichkeit zur Debatte gestellt wird. Hier ist die Stelle, an der der Materialismus-Forscher Schmidt die oben angekündigte Prämisse ins Spiel zu bringen weiß, die Brechts Fingerzeig ein relatives Recht belässt: »Der Begriff einer ›materialistischen Philosophie‹ ist in sich paradox«, räumt Schmidt ein; denn er verweist auf »die Schwierigkeit des Materialismus insgesamt: daß er etwas thematisiert, was sich systematischem Zugriff verweigert, ins Philosophische erhebt, was der Philosophie spottet.«7 Gelänge es aber, ein Philosophieren »um zu leben« im Sinne der lebenspraktisch sich zur Geltung bringenden Einspruchshaltung gegen gesellschaftliche Zumutungen und gegen einen bornierten Zeitgeist in Gang zu bringen, dann kann Philosophieren selbst zur praktisch-politischen Wirkung gelangen, ja, von Konflikten der Praxis inwendig bewegt, Praxis mitgestalten. Schmidts hierfür angeführtes Beispiel berührt Fragen einer materialistisch gewendeten, lebenspraktisch bedeutsam werdenden Anthropologie:
»Daß der Mensch von den materialistischen Aufklärern als rein physisches Wesen betrachtet wird, daß sie lehren, der moralische Mensch sei der physische, nur unter einem besonderen Aspekt gesehen, hat unmittelbar politische Auswirkungen. Wenn das irdische Dasein, diese endliche Existenz, wirklich ein Letztes ist, dann muß sich für die Menschen die Notwendigkeit ergeben, den herrschenden Zustand zu beseitigen, der sie um ihr Glück betrügt. Glück heißt hier nicht bloße Innerlichkeit, sondern sinnlich-materielles Glück.«8