Читать книгу Die drei Sprünge des Wang-lun - Alfred Doblin - Страница 6
ОглавлениеUm Mittag lief es über alle Marktplätze, durch alle Läden und Gassen, in die Teestuben, Weinschenken und Herbergen, in die weiten Höfe der Regierungsjamen Tsi-nan-fus, durch die vier Tore in die Hirsefelder, Gemüsegärten, über den lehmfarbigen Ta-tsing-ho auf die dunklen Hügel, daß Wang-lun, der Fischerssohn aus Hun-kang-tsun, der Stadtschelm von Tsi-nan es war, der den alten Su-koh und seine beiden Söhne in der Maske des Provinzialrichters von Schan-tung befreit hatte, der den Präfekt betrogen hatte mit einem Zug von Lumpen und Verbrechern aus den Tai-schanbergen, mit lackierten Schildern aus einem Pfandhaus, daß Wang-lun jetzt seinen Bruder Su-koh gerächt hätte an dem Hauptmann der Exekutionstruppe. In der Hirschmaske, mit der er die Marktweiber sonst erschreckte, hatte er auf dem offenen Wan-kingplatze den Tou-ssee der Provinzialtruppen vor seinen Soldaten erdrosselt.
Der Mann, von dem die Stadt schnarrte, kletterte um diese Mittagsstunde träge ein paar Felswege in den Bergen. Dann lag er jenseits einer unzugänglichen Schlucht auf dem Gneisschutt ausgestreckt auf dem Rücken, ohne Gefühl für die spitzen kantigen Steine. Er lag regungslos, ohne die schweren Hände zu heben, in dem Sonnenbrand. Im Grunde wartete er und befühlte sich innerlich, ob nun alles gut sei, ob er nun alles gut gemacht hätte.
Die Pein der letzten Woche war unertragbar gewesen. Es trieb ihn umher von einer Hütte auf den nächsten Kamm; vier Tage aß und trank er nichts: er vergaß das Essen über dem Laufen, Augenschließen, Herumwälzen. Wenn das Durstgefühl zunahm, merkte er nicht, daß es Mangel an Wasser war, was ihn lechzen ließ; er glaubte, das Unglück in ihm wuchs und sengte. Es kam ihm oft vor, als ob er sich neue Sachen kaufen müsse, weil man ihm Kleider und Haut abgerissen hatte. Daß er auf einmal furchtbar schwer und furchtbar groß war. Es quälte ihn außerordentlich, daß er so unbeweglich war, sich gar nicht von der Stelle schieben ließ, wälzen ließ. Nicht anders war ihm, als wenn er badete an dem fernen Strand von Hun-kang-tsun bei Beginn der Ebbe: eben trugen ihn noch die starken Wellen, dann schleiften sie ihn wiegend über den Sand; mehr und mehr trat das durchsichtige Wasser zurück; seine braungelbe Brust lag trocken, die Zehenspitzen sahen aus dem Wasser. Das Meer schälte seine Arme und Schenkel bloß: er lag tropfend schwergewichtig auf dem feuchten Boden und mußte sich stemmen, um nicht in die Flut zu rollen.
Ihn trug nichts mehr. Er hob hundertmal wiegend die Arme; sie ließen sich nicht schwingen.
Dazwischen kam das Glitzern der Säbel, war so intensiv, daß er mit den Augen zwinkerte.
Er versteckte sich vor den Bettlern, Dieben und Hehlern. Er konnte mit ihrem Anblick nichts anfangen.
Su-koh war erschlagen: das hatte man ihm angetan.
Dabei fühlte er den überwältigenden Druck des Leidens, im Hinterkopf, auf der Zunge, in der Höhlung der Brust. Und es war eine gewaltsam freiwillige Richtung, die er seinen Gedanken gab, als er sich auf Rachevorstellungen versetzte, Vorstellungen ohne Leidenschaft, erfunden, um ihn zu heilen, zu befreien. Er jammerte sich vor: es wäre Grund sich zu rächen. Aber er glaubte sich nicht, und konnte sich nicht glauben.
Und die Verzweiflung bei diesem Ringen wurde immer mehr zu einer Wut auf den Tou-ssee, der das alles angerichtet hatte. Er fürchtete den Tou-ssee, wie er sich ängstigte vor dem Blitzen seines Säbels. Aber die Wut auf den Tou-ssee setzte sich siegreich durch, gewaltsam durch, setzte von Stunde zu Stunde mehr über die Angst weg. Das Stöhnen des sinnlosen Leidens verwandelte sich in ein Stöhnen des tastenden, suchenden, sicheren Hasses. Die endlosen Tage wurden kürzer, und eines Nachts lief er durch die stummen Straßen Tsi-nan-fus und saß bei Toh in der Kammer. Dachte noch nicht an sein Hirschgeweih, als er an die Kammer pochte. Aber wie er die Schwelle überschritt, wurde ihm warm. Die lustige Maske fiel ihm ein, und daß dies alles vorbei sei; und im selben Moment hatte er eine Bewegung in seinen Muskeln gefühlt: die Maske gefaßt und über den Kopf des Tou-ssee gestülpt, erdrosselt, weggeworfen. Dies war gut. Er war glücklich. Über den Kopf stülpen die Maske dem Tou-ssee, und dann weg. Über den Kopf des Tou-ssee gestülpt, dann weg, weg.
So war der Mord geschehen unter seinen freudigen, delirierenden Händen und Armen.
So lag er auf dem Gneisschutt, befühlte sich mißtrauisch und abgekühlt, ob nun alles gut sei, ob nun genug geschehen sei.
Als er nach Stunden aufstand, fand er sich ruhig. Wie wenn in seinem Brustkorb irgend etwas eingeschlafen sei, umstellt von hohen Spinden und Tischen.
Es dunkelte. Die Mondsichel stand über den scharfen Klippen der Schlucht. Da trabte er aufwärts und saß in einer Halunkenhütte, ein halb umgesunkenes Holzwerk unter einem überhängenden Felsen. Die Hütte war leer.
Bald kamen fünf mit Laternen angeschlichen. Sie wußten von der Tat Wangs, waren stolz, daß er zu ihnen zurückkehrte. Ein krummbeiniger Strauchdieb bot ihm den ganzen Krug des herzerfreuenden Ginseng an, der ihm um den kropfigen Hals hing. Sie krähten von dem hageren Tou-ssee, mimten Wang mit Sprüngen vor, wie sie sich die Erdrosselung dachten. Er trank mit verstopften Ohren. Dann überschrie er sie und bat ihm zu helfen. Sein Blutsbruder Su-koh sei nicht beerdigt worden, sein Leib in Stücke zerschlagen. Er, Wang, müsse in der nächsten Frühe weg; sie sollten ihm helfen, noch jetzt in der Nacht eine Beerdigung für seinen ruhelosen Blutsbruder zu feiern.
Sie liefen in Gruppen, es kamen neue Vagabunden von tieferen Hütten herauf. Huschen der weißen Papierlaternen. Sie benahmen sich leise, als wären sie in einem Totenhause und geboten sich Ruhe. Dazwischen tranken sie.
Mit eingesunkenem Rücken, starren Blicken, wie eine Witwe, saß Wang auf dem Lehmboden neben dem niedrigen Holzgestell, einer Bahre, auf der ein zusammengebundener Zeugklumpen, eine rohe Puppe lag. Wang hielt sein Messer in der Hand, schnitt sich aus dem aufgelösten Zopf eine Strähne ab, legte sie auf den Zeugklumpen. Der älteste der Strolche, ein schwachsinniger gutmütiger Taps ohne Zähne, ein Ausbund von Schmierigkeit, trippelte aus dem Haufen an die Bahre, legte ein Teeblatt in einem Stückchen roten Papier der Puppe auf den Mund. Er wickelte einen langen Schal aus einer zerrissenen Hose um die Beine der Leiche, damit sie nicht aufspringen möge und ruhen bleibe. Von draußen hörte man in dieser Stille ein Knarren, Scharren und Rauschen; vor der Hütte schwang einer ein riesiges Sacktuch an einer Latte wild und unaufhörlich durch die warme Luft, das Seelenbanner; er lockte den Geist des Toten aus der nächtlichen Luft her.
Der kleine dumme Tapps verneigte sich zahllose Male nach den vier Himmelsrichtungen, rief unter Sprüngen und Händeaufheben Kuei-wang, den König der Unterwelt, an, empfahl ihm den neuangekommenen Geist. Und alle zusammengewürfelten jungen und alten Landstreicher dachten in dem Augenblick an das Fest am fünften Tag des siebenten Monats, an dem ein kleines Schiff mit dem Kuei-wang den Fluß herunterzieht, der Dämonenherr in schwarzer Jacke mit dem Kragen aus Tigerfell, dem Schurz und den Stiefeln aus Tigerfell, den Dreizack in der Hand; seine schwarzen Haarbüschel wulsten sich unter dem Diadem weit hervor. Und hinter ihm stehen steif die kleinen drolligen Dämonen, mit der viereckigen Mütze, der mit dem Rindskopf, der mit dem Pferdemaul und die zehn pausbäckigen, puterroten Höllenfürsten und lassen sich angucken.
Sie trugen vorsichtig zu vieren die Bahre mit der Puppe heraus, Wang voran; die andern torkelnd, umschlungen hinterher, mit den Laternen über einen kurzen Weg zu dem steinigen Acker, nach rechts und links Mehlkügelchen streuend für die hungernden Geister. Versenkten die Figur in ein flaches Grab. Kleine Papierstückchen glimmten auf, Geld für den Toten; übel qualmten Lumpen und Lappen, seine Anzüge.
Mit leeren Holzbrettern zogen sie grunzend aufwärts. Die Laternen schwankten. Der Morgen graute über Tsi-nan-fu. Als sie oben in die Hütte stampften, war Wang verschwunden.
Aus Furcht vor den Häschern und aus Furcht vor den Schrecknissen von Tsi-nan-fu floh Wang-lun nach Norden. Er überschritt die Grenzen von Schan-tung, durchquerte die Ebene von Tschi-li im Herbst und erreichte, dem schmalen Hun-ho folgend, unter heftigen Schneestürmen den Schutz der Nan-kuberge im nordwestlichen Tschi-li. Er mied jede Stadt. Meist war er allein. Er hungerte viel; verdiente, wenn die Not groß wurde, durch Lastentragen, Kohleschleppen, ein paar Cent; aber er hielt es nirgends aus. Auch widerte ihn jede längere Arbeit an. Er kannte von Haus aus nicht die pflanzliche Geduld seiner Landsleute. Er bettelte.
Als es kalt wurde und der Herbstregen durch seinen zerfetzten Kittel sickerte, tat er sich mit zehn Wegelagerern zusammen; sie warteten drei Tage und Nächte vor der Kreisstadt Tu-ngan, bis eine wenig bedeckte Karawane mit Ziegeltee ganz in der Frühe ankam. Sie zogen den brüllenden Kaufleuten die wattierten Überjacken aus, ließen sie sonst mit höflichem Spott weiter ziehen.
Den ganzen Winter verlebte er auf diesem Gebirge. Es wimmelte von Einsiedeleien, kleinen und größeren Klöstern; der heilige Berg Wu-tai-schan war nahe. Den ganzen Winter über herrschte ein lärmendes Treiben auf den breiteren Straßen und den schmalen Wegen. Von den nördlichen Pässen strömten die Menschen mit Pferden, Packeseln, Kamelen. Sie brachten Geschenke, Opfergaben nach dem südlicher gelegenen Berg, dessen Klöster sich auf gewaltigen kahlen Felsmauern erhoben; die gelben Steinwände fielen schroff ab; auf ausgehauenen Serpentinen wanden sich die Züge hinauf in die dünne Luft.
An einem nicht breiten Fluß mit tobenden Schnellen hielt sich Wang-lun die harten Monate auf. Der Fluß durchbrach die Granitmassen, ungeheure braune Flächen stiegen senkrecht nieder; vor dem gebieterischen Wasser legten sie sich in sanfter Neigung um. Wenig Geröll ragte über der schwarzen Fläche hervor; darum kreiselten die Wellen weiß mit Gischt. Weiter nach Osten, wo der Fluß der empfangenden Ebene zudrang, wichen die Felsen auseinander, mit neuen Vorlagerungen; ganz fern senkte sich alles.
An einer Felsstraße, unter einem überhängenden Block, dessen Rücken mit immergrünen Tannen bestanden war, wohnte Wang-lun bei einem Einsiedler. Kein Regen, kein Schnee fiel in ihre geschützte Hütte; die eisigen Winde glitten pfeifend aus den Schlünden vorbei. An wärmeren Tagen ging er tiefer herunter, wo an dem Fluß die kleinen Wassermühlen arbeiteten, Pochwerke, in denen Sandsteinhämmer in feste Mörser fielen, um das Holz und den Talkstein für Kerzen zu pochen. Da unten saßen Bettler, entlaufene Verbrecher, Faulenzer, Wegelagerer. Wang führte ein Doppelleben. Er ging unruhig hin und her und saß, auf irgend etwas wartend, bald hier bald da. Nur sekundenweise, mit einem Zusammenpressen des breiten Mundes, einem Runzeln der niedrigen Stirn, dachte er an Tsi-nan-fu, an die mauerumzogene Stadt der Tausende. Nur in dem eindringlichen Blick, der oft ganz inhaltslos haftete, stand etwas von einer kleinen getünchten Mauer, einem Säbelblitzen, einem langen langen Sitzen in einem finsteren Wegeschrein für obdachlose Geister. Sein rechtes Auge, das sich unter einem auffällig tief hängenden Oberlid bewegte, drehte sich in leichten Zuckungen und schielte nach außen.
Im übrigen hatte er schon in der Ebene seine freche, unbehinderte Lustigkeit wiedergewonnen. Er trug sich vorübergehend mit dem Plan, in die Gilde der Dachdecker einzutreten. Er erlangte bei seinen Gefährten am Pochwerk leicht die Oberhand. Daß er kräftig und unverbraucht war, hätte ihm in diesem gewalttätigen Kreise allein nicht viel geholfen. Den Ausschlag gab seine spielende Art Menschen zu behandeln. Er hatte dies bei seinem alten Toh gelernt: demütig und schmeichelnd zuzuhören, unaufdringlich auszuforschen, leicht schon im Wiederholen das Gehörte zu retuschieren, unmerklich und mit wunderlicher Offenheit, die eine Ehrlichkeit vortäuschte, eigene Wünsche zu unterschieben.
Die Strolche, mit denen er tagelang hockte, schwankten in ihrer Auffassung über ihn. Ein paar jüngere nahmen ihn nicht für voll; sie hielten ihn für einen Halbnarren mit entsetzlicher Gewandtheit, eine Art Affenmenschen. Wang wurde bösartig, wenn man seine Späße mißverstand, ließ seine Liebenswürdigkeit wie eine Maske fallen, stieß schlimme Drohungen aus; daß er aber dann sich finster zurückzog, tagelang die Gesellschaft mied, bewies ihnen seine Verworrenheit. Die älteren scheuten ihn. Sie nörgelten nicht an seiner kindischen Verspieltheit; ihnen fielen die nicht seltenen Minuten seiner unheimlichen Entrücktheit auf. Sie hatten ein Gefühl von Ehrfurcht vor solchen Dingen. Sie spürten ein schweres Leiden in ihm, und sie hielten Leiden für eine Fähigkeit, eine Gabe. In den niedrigen Leuten schwang der alte Geist des Volkes; mehr als in den Literaten strömte in den Gestrandeten, viel Erfahrenen das tiefe Grundgefühl: „Die Welt erobern wollen durch Handeln, mißlingt. Die Welt ist von geistiger Art, man soll nicht an ihr rühren. Wer handelt, verliert sie; wer festhält, verliert sie.“ Wang bot ihnen ein heimatliches Gefühl. Sie hingen ihm auf ihre Art an, besorgten sich um ihn brüderlich, um den Stärksten unter ihnen fast mütterlich.
Das feine Klappern der Pochhämmer, das gleichmäßige Gischen des Flusses scholl zu der Einsiedelei hinauf. An der Bergstraße, in deren Wand bei jeder Biegung des Weges eine fromme Inschrift eingegraben war, saß Wang-lun bei Ma-noh.
Zu Ma-noh war er eines Tages betteln gegangen. Wang hatte geglaubt, einen bärtigen Mann in Nachsinnen zu finden, der ihm mit sanften Worten von seinen Vorräten abgab. Statt dessen prallte eine hohe Stimme gegen ihn, wie er die Stiege betrat. Am Eingang der Hütte riß eine Hand an seinem Ärmel, zog ihn herum. Ein spitzes Gesicht fuhr dicht an seines, in einem schwer verständlichen Dialekt wurde gefragt was er wolle. Seine scharfen Augen konnten sich inzwischen an das Halbdunkel gewöhnen. Ma-noh trug einen Mantel aus kleinen bunten Flicken, die wie Fischschuppen übereinander standen. Es war ein kleiner etwas gebückter Mann, der sich wie ein verschrobener Alter gebärdete, ein verblüffend junges frisches Gesicht zeigte, schlanke gebogene Nase, feiner Mund mit Rednerfalten, unsichere Augen, die vor jedem Gegenstand zurückwichen wie aufschlagende Gummibälle. Er pfiff mehr als er sprach. Beim Anblick der Umgebung klopfte Wang das Herz; sie erinnerte ihn an den dunklen Tempel des Musikfürsten Hang-tsiang-tse in einer fernen Stadt. Als er ein paar demütige Phrasen leierte, Ma-noh ihm ein Stück Ziegenkäse in die Hand drückte, stand er noch gefesselt herum, tat Fragen nach den Götterbildern, die auf einem kleinen Regal standen. Ma stellte sich mit dem Rücken vor sie, sprach hastig, was Wang nicht verstand. Der neugierige höfliche Bettler fragte gelassen weiter, erzählte eine erlogene Geschichte von einem Priester in Ki; der Einsiedler sprang, machte eine verwunderte Miene über die Kenntnisse des Strolches. Schließlich erzählte Wang, er sei eine Stunde von hier ansässig, bei einem Pochwerk beschäftigt, bat den weisen Herrn, ihm von der Kraft seiner Götter Kunde geben zu wollen, denn er sei mit seinen Göttern unzufrieden. Widerwillig lud Ma-noh den ungewöhnlichen Gast zum Teetrinken ein.
Und dies war der Anfang ihrer Bekanntschaft.
Der unruhige Mann, der später mit dem Flüchtling aus Schan-tung sein Haus teilte, war ein Mönch, aus Pu-to-schan entwichen, jener herrlichen Insel im Süden.
Stumm und mild saßen seine Buddhas im Hintergrund der Hütte. Die Ohrlappen bis auf die Schultern gezogen, unter dem blauen aufgeknoteten Haar die runde Stirn mit dem dritten Auge der Erleuchtung, weite Blicke, aufgehelltes, fast verdunstendes Lächeln über dem vollen glatten Gesicht, über den aufgeworfenen Lippen, feine Hände preziös zur Brust erhoben, hockend auf runden schlanken Schenkeln, Fußsohlen nach oben gedreht wie das Kind im Mutterleib. Ma gab den Buddhas, oder wie Wang sagte, den Fos verschiedene Namen; sie sahen sich alle ähnlich. Nur ein Buddha war anders, dessen Name schon nach Schan-tung gedrungen war, eine Göttin, die Kuan-yin. Aus Bergkristall stand sie inmitten der andern, mit unzähligen Armen, die sich wie Schlangen aus den Schultern rangen und einem Mund, der sich so zart verzog, wie wenn ein leichter Wind über eine Weidenpflanzung fegt.
Und mit einer aufschließenden Erschütterung hörte Wang, was diese Fos lehrten: daß man keinen Menschen töten dürfe. Ma-noh war verblüfft über Wang; er lachte über ihn; dies lehrten doch eigentlich schon die Richter. Wang, betreten, sagte ja; aber dann schossen seine Brauen hoch, das rechte Auge drehte sich in Zuckungen und schielte nach außen. Er nickte mit dem Kopf: „Die Fos lehren gut. Die Richter lehren gut. Aber nur deine Fos haben recht, Ma.“
Ma liebte ohnmächtig die Buddhas. Zu einer Zeit schrie er ihnen seine ehrgeizigen Wünsche, und was sie ihm nicht erfüllt hatten, in die riesigen Schalltrichter ihrer Ohren und stellte sich bläkend vor sie. Zu anderer Zeit überwältigte ihn die Hoffnungslosigkeit, ohne Sinn streckte er sich auf dem blanken Steinboden. Sie blickten über ihn weg mit dem Lächeln, das fast verwehte. Er mühte sich um sie, fühlte sie als Herren; und sie wurden ihm nichts, wie er sich um sie bemühte.
Und doch war ihm zu keiner Zeit der Gedanke gekommen, den Wang einmal vorschlug, als er wieder dicken Staub auf den Gesichtern der Allerherrlichst-Vollendeten fand: die Bildsäulen auf einen Karren zu laden, nach der Nordseite der Straße zu fahren, und vorsichtig die Fos einen nach dem andern in die Stromschnellen zu schütten.
Ma haßte seinen Gast wegen dieses Gedankens. Er fühlte sich durchschaut, weil Wang zu wissen schien, daß er es nicht konnte. Und ganz inwendig war er neidisch auf diesen Gast, der so einfach einen ungeheuren Plan hinwarf und bereit schien, das Unerhörte sofort auszuführen. Er verfluchte Wang laut vor dem Regale, auf der Kniematte liegend, daß der Amithaba es hörte: wie schlimmes jener geredet hatte und wie er sich jetzt bezwang, sich niederzwang, und seine Zuflucht nahm zu dem Gesetz, zur Lehre, zur großen frommen Genossenschaft, wie die Formel lautete. Er stellte sich ein, unaufhörlich den Namen Omito-fo murmelnd, und ging entzückt über sich wie eine Schleichkatze den Pfad; er sah den Pfad dünn sich hinschlängeln, einen Faden, der ihn nachzog, über die ersten Erhebungen, dann über die vier Stufen zur Seligkeit. Nun in die Strömung eingegangen, nun einmal wiederkehrend, nun keinmal wiederkehrend, nun Archat, Lohan, sündenlos Würdiger, der mit demselben Blick Gold und Lehm, den Katalpabaum und die Mimose, den Sandelbaum und die Axt betrachtet, mit der er gefällt wird. Und oben die Freudenhimmel, wo sich voneinander trennen, wie durch Strahlung voneinander weichen, die sonst zusammenfließen würden: Geister des begrenzten Lichts, die Bewußtlosen, die Schmerzlosen, die Bewohner des Nichts und schließlich jene, welche da sind, wo es weder Denken noch Nichtdenken gibt.
Stumm und mild saßen die Buddhas auf dem Regale; die Ohrlappen bis auf die Schultern gezogen, unter dem blauen aufgeknoteten Haar die runde Stirn mit dem dritten Auge der Erleuchtung, weite Blicke, ein aufgehelltes, fast verdunstendes Lächeln über den aufgeworfenen Lippen, hockend auf den runden schlanken Schenkeln, wie die Kinder im Mutterleib die Fußsohlen nach oben gerichtet. Es füllte eine stundenlange Stille die finstere Hütte des Ma. Wäre sein Abt, der Chan-po, hereingetreten und hätte ihn wie früher an den Schultern gefaßt und mit den kalten Augen das spitze entrückte Gesicht betrachtet, so wäre wieder das stille zornige Lachen erfolgt, das Ma oft gehört hatte. Bevor er noch seinen weisen Lehrer fragen konnte, ging der Alte immer mit Kopfschütteln hinaus. Und Ma, frierend, zerschlagen, beantwortete sich willenlos seine Fragen selbst, während er sich die blaugefrorenen Finger rieb: man fliegt nicht in den Götterhimmel; die Söhne Cakyas gehen den Grat hinauf, über die vier Stufen, die vier schweren Stufen.
Ma konnte nicht gehen, nicht mehr von dem Augenblick an, da er wußte, wohin der Weg ging. Auf Pu-to, der Insel, in der Halle der Versenkung, hatte ihn nach Schluß einer Schiffermesse das Gefühl heimgesucht, das weich und streng zugleich ihn wie ein Balken durchdrang und sich um ihn langsam drehte; und darauf kam eine schmerzliche bittere Hingerissenheit, und darauf ein doppeltes Winken von seidenen Tüchern, rot und gelb, von zwei Seiten her. Die Tücher, groß wie Laken, schlossen sich unaufhörlich rollend, bewegt zusammen; in der Mulde, in dieser mittleren Mulde glitt er hin. Seine Füße waren wie die eines Toten mit Binden umwickelt. Der Luftzug von den Tüchern hob ihn etwas an, und doch glitt er in einer Linie weiter. Eine Fächerpalme kam. Etwas Graues, Großes schnellte näher, ein Ei, eine riesige graue Perle. Bei ihrem Anblick wallte es in ihm wahnsinnig; er ächzte, richtete sich auf, lief über die Ähren eines Feldes, schwamm händeringend um die Perle, gegen die er sich in einer züngelnden Welle verlor.
Ma wußte nichts von seinem Traum, als er aufwachte. Sein Ächzen war das einzige, was ihm ins Ohr scholl. Mit solchen Träumen aber schlug die Welle von Unruhe in ihn hinein. Er fing an, Maßregeln der Klosterdisziplin zu kritisieren. Statt Versenkung nach Versenkung, Überwindung nach Überwindung zu klimmen, wie die Lehre fordert, wartete er auf die letzten höchsten Zustände, wie ein Verliebter auf das Rendezvous. Und wußte dabei mit schneidender Deutlichkeit, daß er sich in jeder Versenkung betrog, daß die goldenen Buddhas ihm so fern, so undurchdringlich waren.
Und doch mußte er sie erreichen, wenn er nicht endlos wiedergeboren sein wollte; er mußte das Ufer der Rettung erreichen, wenn er nicht ertrinken wollte; so peitschte das Tha-mo ein, das gute Gesetz von den Welten, den atmenden Wesen, der Zerstörung und Erneuerung der Welten. Er lief eines Tages an den Strand; ein Bootsknecht setzte ihn über; seine Wanderschaft fing an. Es hatte sich nichts während der zehn Wanderjahre durch die Provinzen Ngan-wei, Kiang-su, Ho-nan in ihm geändert.
Ma-noh betrat kein Kloster mehr. Er verschrullte, wo er wie ein Kakihändler seinen Karren mit den Buddhas schob und sich zuletzt an der Bergstraße auf Nan-ku ansiedelte. Er umschlich den heiligen Wu-tai-schan, konnte sich nicht losreißen von diesen Dingen, an die ihn nur seine Unzulänglichkeit bannte. Der Fischersohn von Hun-kang-tsun wurde ihm rasch zu einer tieferen Quelle des Nachsinnens als die hundertacht Figuren auf der Fußsohle des Cakya-muni und die achtzehn Bedingungen der Unabhängigkeit. Dieser Bursche, der ihn auf Schritt und Tritt belog, gehörte ohne Zweifel zu den Strolchen, mit denen das entlassene Heer die Provinz überschwemmte. Er drängte sich seinem Wirt auf. Seine Fragen, seine haftenden Blicke beleidigten ihn. Am meisten aber beleidigte es Ma, wie Wang mit den fünf Buddhas umsprang, zuerst wie jeder rohe Chinese, als hätte er Angestellte oder Rechtsanwälte vor sich, die man nach Erfolg lobt oder wegschickt. Später mit einer zudringlichen Nähe, die Ma quälte. Und darum quälte, weil er fühlte, daß alles Verleumden nichts half, daß Wang unerklärliche Fühlung zu diesen stummen milden Wesen gewann. Ma schloß neidisch tagelang seine Klause, ließ den bekannten Gast nicht ein, ahmte drin vor dem Regale Wangs Mundspitzen, Kopfsenken, stilles Schielen nach. Wenn ihn nichts von Ruhe überkam, bewarf er Wang mit Vorwürfen, spuckte sich auf die Füße, weil er so dumm war, die Eifersüchteleien des Klosters wieder einzulassen. Ja dieser Netzflicker kniete auf der Bambusmatte vor dem Regal, als wäre Ma-noh nur sein Tempelverwalter, vor den Buddhas, die Ma zehn Jahre vor sich geschleppt hatte durch die endlosen Provinzen Ngan-wei, Kiang-su, Ho-nan, der Strauchdieb, der sicher einen Menschenmord auf dem Gewissen hatte.
Es gab ein Ringen zwischen ihm und Wang, Wiederkauen der Vorwürfe, langsames Vollaufen von Unwillen. Wang kam ununterbrochen, konnte sich an Sutren und Sentenzen aus den heiligen Büchern nicht sättigen; Ma-noh mußte ihm widerstrebend mehr geben; der große Mensch nickte dazu, als hätte er dies und jenes schon erwartet. Schamlos erschien dies Ma-noh, und er rang die mageren Hände, gab sich in seiner eigenen Wohnung verloren, war gehemmt, vor Wang die Tür zu verriegeln. Wenn der Strolch auf der schmutzstarrenden Matte kauerte, Lehren auf seine plumpe Art wiedergab, setzte sich der kleine Mönch atemlos neben ihn, fühlte sich ängstlich an ihn heran, beschnüffelte ihn. Zweimal wies er Wang in einer Aufwallung die Tür.
Ein stiller Augenblick, der das Gebirge um Ma-noh weit werden ließ, war es dann, als sich Ma einmal abends nach Wangs Fortgang vor seiner Tür bei etwas Merkwürdigem ertappte: wie er in einer zerfließenden Versunkenheit den schneeschweren Himmel betrachtete und dabei klar wußte, daß er Wang unterlegen sei und nicht litt. Plötzlich in der folgenden Nacht trat vor ihn die Erinnerung an diese Versunkenheit. Dumpfes Staunen hinter diesen Zustand: „Und nicht litt.“ Er war Wang unterlegen und litt nicht. Das Gefühl zog sich eng über seine Haut, machte das Herz zu einer Feder; zart und schlecker dachte es in ihm hin zu Wang unter kniebrechender Knechtung: „O wie gut ist es, Ma-noh zu sein.“
Nur Minuten.
Dann wehrte er sich, knirschte alles bedächtig herunter, legte sich vorn über seinen Leib und zersprengte das Gefühl.
Erschrak zum Schluß über sich und das ganze Geschehnis. Zerrte sich in den Schlaf.
Konnte in den nächsten Tagen Wang nicht unter die Augen treten; schämte sich vor ihm, und sich selbst stach und biß er. Unberührt aber verharrte dieses Gesicht in ihm: „Schneeschwerer Himmel, und ich bin Wang unterlegen.“ Es trat aus seiner Brust heraus und zog ihn hinter sich, wachsend, wachsend. Er überlegte manche Nacht, ob er nicht wieder wandern sollte. Blieb zu seinem eigenen Staunen. Näherte sich leidend Wang. Ihre sonderbaren Gespräche nahmen einen Fortgang. Es folgten die Tage, wo Ma-noh ungeduldig wurde, wenn der Strolch nicht hereintrampelte, wo er sich erkundigte, was er vorhatte, auf das Halunkenpack hetzte.
Der Priester belehrte den Strolch mit einer Empfindung von Angst. In ihm rüstete sich alles, die Waffen zu strecken.
Eine eisige Kälte stellte sich zu Beginn des neuen Jahres ein. Die Felsenwege wurden ungangbar unter der Glätte. Auf höheren Partieen des Gebirges lag der Schnee wie Daunen meterhoch geschichtet. Trat man in die weißen Massen, so schrumpften sie nicht weich zusammen; es gab ein zartes Klirren wie von tausend Schieferplatten, der Schnee riß Wunden in die Hände. Die Luft, zuerst von einer tiefgrünen Durchsichtigkeit, nahm einen grauen Ton an.
Eine mongolische Karawane, die von den nördlichen Pässen herüberkam, zog dicht bis an die Nan-kuberge. In einer Nacht erfroren fünfunddreißig Maultiere; zwei Bären saßen am hellen Morgen unvertreibbar mit rot unterlaufenen drohenden Augen bei einem Pferde, von dem man nicht wußte, ob es erfroren oder lebend zerrissen war. Die Tee- und Seidenballen, die mächtigen Pelze blieben auf dem letzten Paß liegen, die Pilger überwinterten in einem rückwärts gelegenen Dorfe.
Nach dieser Karawane kam niemand mehr über die Straßen zum Wu-tai-schan. Es sollten die Menschen zur Erstarrung, die Berge zum Springen gebracht werden. Die Pochwerke hatten ihre Arbeit eingestellt. Der Fluß, schmaler als sonst, blies durch die Täler seine Luft, die von der Kälte zum Ersticken verdichtet war.
Die Wegelagerer und Verbrecher hatten sich zu einem kleinen Teil in die Dörfer geschmuggelt, welche westlich und östlich der Berge lagen. Die übrigen warteten eine kleine Zeit auf die Pilgerzüge, von denen sie lebten. Dann schlossen sich überall größere und kleinere verzweifelte Haufen zusammen. Die Wege, hinter die sich die Höhlen und Hütten der Heimatlosen verkrochen, mußten bald unübersteigbar werden; dann gab es kein Hin und kein Her.
In mehrere gewundene schmale Höhlen, die vor dem Wind geschützt waren auf der Straße oberhalb Mas Einsiedelei, hatte sich der Haufen geflüchtet, zu dem auch Wang hielt, etwas über fünfzig Mann. Aber nach zwei Tagen, als fünf nach verhungernden, erfrierenden Genossen suchen gegangen waren auf den zugänglichen Straßen, Abhängen, Tälern, waren es achtzig geworden. Es gab keine lange Beratung. Die neun Geachtetsten unter ihnen bestimmten, daß das etwa sechs Stunden entfernt gelegene Dörfchen Pa-ta-ling gleich geplündert und eingenommen werden sollte.
Unterwegs während des Abwärtskletterns kamen einzelne überein, und es verbreitete sich unter die andern, daß von den Bewohnern des Dörfchens niemand entweichen dürfe; man müßte sie entweder einschließen oder niederschlagen. Es gab beim Abwärtsrennen der Männer, zu denen kurz vor dem Dorfe noch ein kleiner Haufen von dreißig Ratlosen stieß, ein unaufhörliches Schreien, Zusammensinken, Wimmern um Mitnehmen. Die Kräftigen hielten vor Hunger den Mund offen und bissen in den Wind; sie liefen besinnungslos. Sie trugen abwechselnd die älteren und leichten Vagabunden auf dem Rücken. Sie liefen den letzten Rest des Weges durch ein welliges Tal völlig schweigend in einer langen Linie, die nach hinten breiter wurde; die Starken wie Windhunde voran, ohne Gedanken an die Folgenden.
Das Dorf hatte fünfzig Häuser, die an einer einzigen Straße lagen bis auf vier Häuser, die um einen immergrünen Eichbaum beim Eingang der Straße von den Hügeln her standen. Von diesen Häusern sahen die Leute zuerst das Springen von Menschen über die Schönn-i genannten Felsenklippen, das Fallen und Aufraffen immer neuer Menschen. Sie näherten sich rasch über den weißblauen Schnee, es schien als ob sie verfolgt wären. Ihre Zöpfe flogen wagerecht; man sah sie über die Schultern wie Peitschen schwingen.
Die Frau des Bauern Leh gellte zuerst auf dem Hofe: „Banditen, Banditen, Banditen!“ Es rannten Frauen, Kinder, zuletzt Männer, Betten hinter sich, die Dorfstraße herunter, schlugen an Hoftore, verschwanden in den Häusern. Winseln, Kreischen wirbelte über den Höfen, von Dach zu Dach getragen, zitterte über der leeren Landstraße.
Von den Hügeln her kam das Trappen, das ungleichmäßige Knistern und Knarren, weitausgreifendes Bewegen, das nicht einmal zu atmen schien. Gebleichte Gesichter mit reglosen Zügen, Hände, die im Schwung wie Keulen hin und her schaukelten. Körper, die empfindungslos liefen. Rümpfe, die steif auf Schenkeln saßen, welche wie Pferde ritten. Hinter der langen Linie der Einzelläufer schwammen schwarze Gruppen, Hand an Hand gefaßt. Aufgelöste Nachzügler schleuderten die Arme wie Hämmer, um vor sich Löcher in die Luftmauern zu schlagen.
Die wenigen auf dem Dorfe, die vor ihrer Türe standen und den langgestreckten Keil heransausen sahen, sahen auch die schwarzen krächzenden Vogelschwärme, die mit den Vagabunden die Berge verlassen hatten.
Die ersten Räuber warfen sich mit Steingewicht gegen die Tore. Sie prallten hintereinander auf, drangen ein. Die nächsten an die folgenden Tore. Sie überrannten einander. Das Kreischen ließ nach; die Bergläufer in den Häusern strömten Eiskälte aus und das Grausen von Sterbenden; sie konnten ihre Kiefer nicht öffnen; ihre Augen zwinkerten nicht. Die letzten Häuser waren verrammelt. Ein Heulen entstand draußen, ein Gebrüll verwundeter Tiere, daß sich die Frauen verkrochen. Die Lebenden draußen hoben die Körper der Hinstürzenden auf, rannten mit den kopfschüttelnden Rümpfen gegen die Holzpfosten an. Dann öffneten plötzlich die Bauern die Tore, fällten die Wimmernden mit Beilen, liefen in die Nachbarhöfe, hackten in die keuchenden Münder. Nachzügler, die Stärksten, mit den Lahmen auf den Rücken, hetzten ins Dorf, warfen ihre Last in den ersten Hof, folgten dem Schreien, zerquetschten die Bauern wie Geschosse, würgten sie, zerschmetterten ihre Kinder auf der Dorfstraße, wortlos ohne die Mienen zu verziehen.
Die Toten froren dünn und steif auf dem Wege.
Die Lumpen drängten sich zitternd in den Häusern. Die rohen Gesellen umarmten und streichelten sich. Die Starken und Schwachen befiel ein Schütteln. Sie brachen in ein dumpfes Greinen aus, von dem sie sich nach Stunden noch nicht erholten. Sie schlangen flennend herunter, was sie vorfanden. Es wurde keiner in den Häusern angerührt von ihnen.
Als die Dunkelheit herunterfiel, gingen zwanzig von den jüngeren Burschen von Haus zu Haus, verteilten Beile, Dreschflegel, bestimmten Nachtwachen.
Es wurde von der Bande geplant, solange die härteste Kälte anhielt, im Dorf zu bleiben, dann gemeinsam auszuziehen. Die Hausbewohner wurden davon verständigt; an den Ortsvorsteher konnte keine Nachricht erfolgen; er war mitsamt seiner Familie erschlagen.
Man hatte nichts zu fürchten von Verrat während dieser Zeit, der nächste Ort lag sechs Stunden entfernt, und der Weg ungangbar.
Einen ganzen Monat lag das Dorf von jedem Verkehr abgeschnitten. Eine Verbrüderung fand unter den Banditen statt. In der Zeit erlangte Wang über die hundert Männer die Gewalt, die ihm die Rolle des Bandenführers aufnötigte. Bei den täglichen Streitigkeiten, der Regelung des Verkehrs mit Ansässigen, der Beaufsichtigung, dem notwendigen Kundschafterdienst setzte sich seine Körperstärke und schonende Diplomatie durch; die Achtung der älteren Leute schob ihn vor.
Schon nach zwei Wochen besprachen die Wegelagerer unter sich, nach Auszug aus dem Dorf nicht auseinanderzugehen, sondern ein bequemeres Leben unter Wangs Hauptmannschaft weiterzuführen. Wang trennte sich eines Morgens von ihnen, verschwand auf zwei Tage ins Gebirge.
Er lief zu Ma-noh, fand ihn munter, unter Massen Decken und Werg vergraben, in einer Ecke seiner Hütte grinsend liegen, brachte ihm Reis, Bohnen und Teeblätter.
Nach seiner Rückkehr sprach er Tage und Nächte viel mit den Älteren. Daß sie arme ausgestoßene Menschen seien. Daß man ihnen nichts tun dürfe, wie sie selbst keinem etwas täten. Daß nichts schrecklicher sei, als wenn Menschen sich töteten, und der Anblick nicht zu ertragen. Ma-noh, der Einsiedler aus Pu-to-schan, habe ihm viel Gutes und Kostbares von den goldenen Buddhas erzählt, besonders von der Frau Kuan-yin, welche tausend Arme an beiden Schultern hätte und den Weibern Kinder schenkte. Sie seien seine Freunde und sollten tun wie er. Soviel Leiden bringe schon das Schicksal allein, soviel Leiden; warum sie der Himmel hasse, wer wisse das? Er werde, wenn das strenge Wetter nachließe, durch die Dörfer gehen und allen Leuten, auch den Mandarinen sagen, was er denke; dies sei er fest entschlossen.
Die Vagabunden, die ihn von den Pochwerken her kannten, erstaunten keineswegs, als sie Wang so reden hörten; sie hatten solche Gespräche aus seinem Munde erwartet. Sie dachten nicht daran, sich von ihm abzuwenden; seine Meinung stimmte völlig mit ihrer überein; der Himmel haßte sie; man durfte es nicht schlechter machen.
Sie waren gesellige Menschen mit besonderen Vorstellungen über allerhand Dinge, mit großer Lebenskenntnis, in vielen Dingen überlegen dem Durchschnitt ihrer Volksgenossen. Es gab kaum fünf unter ihnen, die sich nicht verjagt und getreten vorkamen und den Eindruck hatten, ein unfreies, gezwungenes Leben zu führen.
Manche waren die Opfer eines starken Triebes geworden, den sie nicht beherrschen konnten, auch nicht beherrschen wollten, die alle Schlauheit in sich aufboten und schärften, um diesem Triebe zu dienen, mit dem sie sich gleichsetzten. Einige Opiumraucher, Spieler von feinerem Gesichtsschnitt, ältere Leute. Nicht wenige, die ein Gewerbe trieben, ab und zu betrogen, entdeckt und bestraft wurden, nun sich schikaniert von den Polizisten fühlten, Schabernack auf Schabernack, Gehässigkeit auf Gehässigkeit folgen ließen, die Grenzen überschritten, und im Grunde froh waren, mit einem Schlage vogelfrei zu werden, der brütenden Gesetzlichkeit entflohen. Dies waren die Glücklichen, die wenig Bitterkeit in ihrer Freiheit fühlten.
Am schlimmsten waren die Hitzköpfe, die Rachsüchtigen, die Zügellosen dran. Sie hatten sich, meistens jung, wegen eines Ehrgeizes, einer Verliebtheit, einer Eifersucht, zu einem verhängnisvollen Schritt reißen lassen, standen außerhalb ihrer Familie, Sippschaft, Heimat, in deren Rahmen ihre Triebe wie ihr Verbrechen sinnvoll wurden, gingen mit bösen Blicken herum, verfluchten sich, kauten an dem unzerreißbaren Gummi ihrer Leiden. Ihnen nützte nichts; sie waren zu allem fähig; man durfte sie nicht anrühren. Sie waren nicht mitteilsam, überall dabei, wo etwas vorging und geplant wurde, machten ihrer Grausamkeit Luft, wo sie konnten, wurden von den Kameraden scharf beobachtet.
Dann kamen viele, die warteten, die sich angeschlossen hatten, nur um irgendwo in den achtzehn Provinzen zu hausen. Das waren die entlassenen Soldaten, die noch ihre zerrissenen blauen Kittel trugen und auf neue Anwerbung hofften. Krüppel, die aus kleinen Ortschaften stammten, wo man sie nicht ernähren konnte, und die nun die Wallfahrtswege belagerten. Tüchtige ernste Menschen, die ihre Familien durch Überschwemmungen verloren hatten; solche, bei denen der Mißwachs auf den Äckern ein jährlicher Gast war; solche, die erst vorübergehend aus Scham in die fernen Berge zum Betteln liefen, dann schwer loskamen und keinen Ausweg sahen.
Es gab besondere auffallende Erscheinungen, unter ihnen Wang-lun; unruhige Geister, die es nirgends hielt, die hier wie überall unter Vertrauten auftauchten und verschwanden; derartige Menschenwellen wogten in dem ungeheuren Reiche viel.
Den harten und unbeweglichen Kern aller Bergläufer bildeten die vier, fünf alten Verbrecher, welche seit Jahren die Plage der Pässe und höheren Wege ausmachten. Sie waren freundliche, etwas falsche Gesellen, die viele Anekdoten zu erzählen wußten, gutmütig die andern aushorchten, über die jüngeren grobe Späße machten. Einer hatte in seiner Körperfülle das Aussehen eines würdigen Mandarins; es fehlte ihm an seiner Mütze nur der Knopf. Er hielt sehr auf respektvolle Behandlung und bediente sich eines komischen Höflichkeitszeremoniells bei den kleinsten Dingen im Verkehr, wobei gestört er in unsäglich gemeines Schimpfen ausbrechen konnte. Er war Hypochonder, äußerst wehleidig und verbrachte das meiste Geld, das er durch Diebstahl und Raub erwarb, bei kleinen Wurzelfrauen, Hökerinnen in den Nachbarorten, bei denen er nach Medikamenten ein und aus ging. Er hatte eine Masse Eigenheiten, schnitzte sehr gewandt Tabaksdosen mit Blumendeckeln, suchte bei jedem frisch Ankommenden zu erfahren, was es für Neuigkeiten darin in den Städten gäbe, bemühte sich auf die furchtbarste Art, wenn er es wollte und es für ihn nötig wurde, die Muster zu beschaffen. Er seufzte seinen Hökerfrauen vor, die ihn als feinen Herrn behandelten, wie ein armer Mensch seine Haut zu Markte tragen müsse, um auch nur eine Spielerei zu erwerben. Wenn er einbrach, war er der zähste, sicherste Mensch, mit Muskeln von Stahl, einer unbezwinglichen Geduld und Kälte. Vor Leuten, besonders jungen Männern, die ihn überraschten und die er angreifen mußte, hatte er einen Ekel, wenn sie sich nicht wehrten oder um Schonung bettelten, nachdem er sie gefaßt hatte. Er hatte zwei Kaufmannsgehilfen einmal, die vor Entsetzen auf ihrem Ofenbett laut schrien, als er in ihr Zimmer nachts eindrang, mit einem Eisenstück erst betäubt, dann aber, als die kräftigen Menschen trotz seines Befehls unter ihrer Decke weiter wimmerten, sie mit der ersten besten Schnur einen nach dem andern erwürgt, war toll, ohne etwas zu nehmen, in die Berge zurückgerannt. Er führte seitdem den Namen „Seidenschnur“.
Ein anderer dieser fünf Gesellen war ein großer hagerer Kantonese mit einer Hornbrille. Dieser liebte weder Totschlag noch Einbruch, er war Gelehrter und verfaßte Gedichte, gesellschaftliche und sittenfördernde Abhandlungen, Betrachtungen über allerhand Themata, auch aus der Tierwelt, Geologie, Astrologie. Sein Wesen blieb den meisten der Vagabunden dauernd fremd. Er hielt sich völlig fern von ihnen; sie kamen in seine Höhle, um sich über vielerlei Dinge, besonders Krankheiten und günstige Tage, Rats zu erholen. Es war ein Mann von einer gewissen Bildung, der viele Dichter abschrieb und saubere Charaktere malte. In diesen großen ruhigen Menschen kam alle paar Monate eine Veränderung. Die ihn besuchten, merkten das vorher; er hörte ihnen nicht mehr geduldig zu; es herrschte Unordnung in seiner sonst ziemlich gerichteten Wohnung im Felsen. Er erklärte selbst, wenn ihn einer fragte, daß er jetzt viel mit eigenen Sachen beschäftigt sei, nur diese Tage; sie sollten sich nicht abstoßen lassen; er würde über die Sache, die sie ihm vortrügen, später noch genau nachdenken und ihnen Auskunft geben. Dann kamen die paar Tage, wo die Banditen sich nicht von ihrem Gelächter erholten. Wo der gelehrte Mann schmierig und zerfetzt von oben bis unten über alle Wege kletterte, bei allen Bekannten vorsprach in diesem Aufzug unter einem Schwall hochtrabender unverständlicher Worte und Brocken, dazwischen mit kolossalen Schlüpfrigkeiten, die an ihm sonst unbekannt waren, um sich warf, und selbst aus dem Lachen nicht herauskam, das sein Gesicht unter tausend trockenen Fältchen vergrub. Auf diesem Hin und Her, bei dem er sich keine Ruhe gönnte, kaum ein paar Stunden tags schlief, ohne sich zu erschöpfen, versteckte sich die hagere Gestalt auch gelegentlich hinter einem Block bei Mondlicht an einer Straßenbiegung, fiel mit lautem Geschrei ganze Karawanen an, die nicht selten auseinanderstoben vor ihm, stieß einen einsamen Pilger, nachdem er lange hinter ihm her mit Wutbläken geschlichen war, unter einem Freudenjuchzer in den Abgrund, verging sich bei Marktflecken in viehischer Weise an Frauen und Kindern. Nach ein paar Tagen saß er wieder in seiner Höhle, zeigte ernst seinen Gästen die Schrunden und Beulen, die er davongetragen hatte. Er behandelte diese Verletzungen in den ersten Tagen wie eine heilige Sache, kam rasch in das alte Geleise, in die gelehrte Arbeit, bei der ihn keiner, unter schwerster Gefahr, an die unruhigen Tage erinnern durfte. Der Einfluß dieser Männer auf die andern war gering; schon unter sich kannten sie sich wenig; unter den andern allen galten sie als gefährliche Sonderlinge, die zu keiner gemeinsamen Sache zu bewegen waren.
Die Vagabunden sprachen geheimnisvoll über Wang-lun in den überhitzten Stuben des Dörfchens. Seine langen Besuche bei dem Zauberer Ma-noh brachten sie zum Erschauern; alle gaben zu, daß dahinter etwas stecke. Er war ein Verfolgter, der nicht zur Ruhe kam. Ein Buckliger in dem Hause, das auch Wang bewohnte, schlug auf den Tisch: „Diesem Wang ist in Schan-tung etwas passiert, er will Gespenster bannen lernen, um sich an jemand zu rächen. Auf dem Liang-fu-schan sitzt einer, der hat in Krügen die Dämonen der ganzen Provinz gefangen.“ Ein anderer stimmte bei: „Ma-noh wohnt schon lange oben; er kennt alle Berggeister. Was soll Wang von ihm wollen?“ Der Bucklige: „Ich habe ihn einmal an der Pochmühle sitzen sehen; er schlug mit den Händen an seinen Augen vorbei. Warum? Er hat Dämonen gesehen und wollte sie zerquetschen.“ Ein Alter legte sich über den Tisch und grinste: „Ein Gelehrter ist Wang-lun. Er trägt etwas mit sich herum. Was ist dabei wunderbar, wenn er zaubern kann? Wer eins kann, kann das andere.“
In Wang überwucherte unter dem Einfluß der Gespräche mit Ma die Versonnenheit und der Ernst. Er beruhigte sich. Die Wände und Vorhänge, mit denen sich etwas Dunkles in ihm umstellt hatte, fielen; er ebnete und bewältigte sich in der größten Heimlichkeit. Der Zickzack in ihm kam nur gelegentlich zum Vorschein; in Possenstreichen, die andere vor den Kopf stießen, in stundenlanger grundloser Gleichgültigkeit, in vorübergehender Böswilligkeit, Widerspenstigkeit. Die älteren Vagabunden wußten, daß etwas Heiliges dahinter steckte, wenn er Späße machte; daß dies nicht anders war, als ob er sich in einem Krampf wälzte.
Gegen Ende ihres Aufenthalts in Pa-ta-ling stampfte Wang eines Abends kältegeschüttelt in die Stube; er lachte, brüllte, sprang an den Wänden herum. Er hätte auf einem frischen, völlig frischen, eben gefallenen weißen Schneehaufen, sie sollten einmal denken und sich das vorstellen, einen großen verschlossenen Lederbeutel mit dem kaiserlichen Kriegssiegel gefunden; und wenn er in den Beutel griffe, hätte er lauter runde Goldkugeln in der Hand. Er warf einen schwarzen Beutel auf den Tisch. Zehn glattrasierte bezopfte Köpfe stießen über dem Beutel zusammen, ein freudiges erschrecktes Schnattern erhob sich. Einer griff und hatte dicken Kohlestaub bis an den Ellenbogen; ein anderer faßte vorsichtig hinein, es ging ihm ebenso. Und so zwei andern. Sie sahen sich verblüfft über dem Tisch mit der Öllampe an, schwiegen betreten, blinzelten gegen den langen Wang, der ruhig am Ofenbett stand, sahen sich wieder einer nach dem andern an, schüttelten die Kohle von den Händen. Ein feister hellfarbiger hielt den Beutel hoch gegen sein Ohr, schüttelte ihn, horchte. Auch die vier, die in den Beutel gefaßt hatten, drängten sich durch und legten den Kopf an den Beutel. Der erste stellte den Beutel auf die Tischplatte, wich von dem Tisch zurück, sagte, ohne Wang anzublicken, mit einem bestürzten Gesichtsausdruck: „Er hat recht. Wang hat recht.“ Er war so fassungslos, daß er nicht tat, was einem andern, dem Buckligen, nach einer Pause einfiel: nämlich, ohne den Beutel zu berühren, Wang zu bitten, ihnen das Siegel des Kaisers zu zeigen und zu fragen, ob es das Siegel Khien-lungs oder eines früheren Kaisers sei. Wenn er es ihnen aber nicht zeigen wolle, ihnen doch etwas noch zu sagen über das Siegel; auch über die vielen Goldkugeln. Sie seien zwar erschreckt, sehr erschreckt, er auch, aber sie würden es doch gern hören und den andern sagen.
Der lange Wang-lun hatte inzwischen längst aufgehört zu lächeln. Mit einer Miene, die immer ängstlicher wurde, stand er am heißen Ofenbett; seine linke weite Hose schwälte am Rost, ohne daß er es merkte und den feinen sengenden Rauch beachtete. Er ging langsam und ganz unsicher von einem zum andern, zog ihn an der Hand zur Lampe, sah ihm suchend ins Gesicht: „Was ist denn? Was ist denn? Was meint ihr denn?“ Er stemmte beide Hände auf die Tischkante auf, hinter dem Tisch stehend, beäugte den Beutel von allen Seiten, bückte sich, strich furchtsam über ihn. Dann umspannte er ihn mit der linken Hand, ging mit ihm in die Nachbarkammer, immer Blicke nach rechts und links auf die Männer werfend, als erwarte er Schläge von ihnen. Eine dünne Spur des Kohlenstaubs rieselte hinter ihm her. Die Kammertür versperrte der lange Wang und hockte am Boden in dem engen Raum, in dem nur Krüge, leere Tonnen und Ackergeräte herumstanden, drehte eine Holzhacke in der rechten Hand, legte sie vorsichtig neben sich. Dann hob er den fast ausgelaufenen Lederbeutel, auf beide ausgebreitete Hände gelegt, an sein schweißtriefendes Gesicht und fiel mit dem Kopf so auf seine aufgestellten Knie. Er sagte mit klappernden Zähnen laut, daß die nebenan es hörten: „Was ist denn? Was wollen sie von mir?“ Die Kleider klebten ihm an den Gliedern. Er stand auf, besah das Loch in seiner Hose. Es befiel ihn eine so lautlose schwindelnde Angst, daß er sich im Kreise drehte, auf die Holzdiele unter seinen Filzsohlen blickte, den Boden befühlte mit der Hand, die krummen Finger gegen die Wand drückte.
Er stand, mit dem runden Rücken in einen Winkel gelehnt, die Arme unter den weiten langen Ärmeln ineinander verschränkt, sann mit hervortretenden Augen, was ihm passiert war. Plötzlich erstarb alles in ihm. Er ging ruhig zwischen dem Gerätekram an das offene Fenster. Die schneidende Luft wehte. Wang-lun, den Kopf hinaus in die Dunkelheit gesteckt, wußte nicht, was er hier blickte. Die kleinen Häuser drüben standen sehr fern, die Finsternis des Himmels stand nicht ferner. Er betrachtete alles mit Befremden.
Er mummelte sich in seinen Kittel, zog den Kopf zwischen die Schultern, ging in das Nachbarzimmer, wo fünf der Vagabunden saßen und mit Figuren spielten. Ihnen fiel auf, wie stier sein Blick und wie ausdruckslos sein Gesicht war. Er blieb am Tische stehen. Er sagte leise zu dem Buckligen, den er umfaßte, ohne aber den Blick höher auf ihn als bis zu den Schultern zu richten, daß er noch einmal durch das Dorf gehen wolle.
Und dann ging er durch die leere Straße; kehrte um, ging hügelwärts weiter. Lief, indem er die Schwärze der Nacht Schale um Schale, Panzer um Panzer, durchbrach. Ehe er verstand, was geschah, hatten seine Arme das Schwingen der Keulen angenommen, war eine Sichel aus seiner Stirne gewachsen, mit der er die Nacht durchschnitt. Er sprang über die Schönn-i genannten Klippen. Sein Körper lief schon empfindungslos weiter; er ritt ruhig atmend auf federnden Schenkeln. Er freute sich, daß etwas ihn mitgenommen hatte und mit ihm davonlief. Über die Hügel, auf die Felsen. Zu Ma-noh, zu Ma-noh. Der mußte die Gemse hören, die zu seiner Hütte heraufkletterte aus der liegenden Nacht.
Es war noch kein Zeichen des Morgens am Himmel, als Ma-noh seinen Namen rufen hörte, die Stiege zu seiner Hütte hinuntersprang.
Der trübe Docht blakte. Stumm und mild saßen die Buddhas im Hintergrund; die Ohrlappen bis auf die Schultern gezogen, blauer Haarknoten, weite Blicke, ein verschwimmendes Lächeln um die prallen Lippen, auf runden glatten Schenkeln hockend. Wang lag mit der Stirne vor der tausendarmigen Göttin aus Bergkristall, anklagend, bettelnd, verwirrt. Gewillt, hier liegen zu bleiben, nicht fortzugehen. Durcheinander stammelnd, was ihm geschehen sei.
„Was Su-koh geschah, ist nichts gegen dieses. Su-koh haben sie mit fünf Säbeln niedergeschlagen an der kleinen Mauer. Sie haben ihn gefangen genommen und dann über den Nai-ho geschickt. Mich haben sie verlockt, in ihre Mitte geschlossen, bezaubert. In meine Brust wollen sie einen Dämon zaubern, der Bucklige will das, alle wollen das. Ich bin gut zu ihnen gewesen, habe jeden Zank ausgewischt. Mancher von ihnen lebte nicht mehr ohne mich. Ich bin die Dorfstraße heruntergegangen. Es war Kohle in dem Beutel. Ich kann nichts dafür, es war nur Kohle. Und es ist doch kein Gold und kein Siegel. Warum soll es Gold sein, wie soll das Siegel des Kaisers in den Lederbeutel kommen? Warum verlangen sie das von mir? Sie sollen es nicht wollen; sie sollen es nicht wollen. Sie sollen mich wieder gehen lassen; ich habe nichts gesagt von dem Lederbeutel. Ich bin der Wang-lun aus Hun-kang-tsun. Ich bin ein Mörder; kein Mandarin hilft mir jetzt. Ich lasse mich nicht verhetzen. Ihr sollt mir helfen, ihr fünf Fos; Ma-noh, hilf mit; bete mit mir; hilf mir sie bezwingen.“
Er richtete sich auf den Knien auf, hielt Ma-noh an der Brust fest, der sich schon neben ihn geworfen hatte. „Oder bin ich schon verzaubert? Sag, Ma-noh? Es kommt schon zu spät bei mir, nicht wahr, ja, es kommt schon zu spät.“
Heulend stieß er, von den Buddhas abgewandt, lange Schreie aus, öffnete immer die Arme und schlug sie wieder zusammen. „Was soll geschehen, Ma-noh? Was soll mit Wang-lun geschehen? Die bösen Geister haben ihn befallen. Wang-lun haben die bösen Geister befallen.“
Ma-noh drückte Wangs verklammerte Finger von sich ab, ließ ihn auf den Boden rutschen, legte einen dünnen gelben Mantel mit roter Borte über sein Flickkleid, setzte die viereckige schwarze Mütze auf, das Dach des Lebens, schlug den Rasselstab, schüttelte die Klapper. Die pfeifenden Worte, die er ausstieß, gingen unter in dem blechernen Geklirr; und während er die eklen Schlangengötter mit Flüchen anrief, die Nagas, die Lus und ihre Könige, während unter dem Dröhnen der Klapper die Garudavögel gebannt aufschwirrten aus dem Kreise, die grünschwingigen Garudas mit roten Menschenbrüsten, weißem Bauch, auf ihren schwarzen Vogelköpfen standen zwei Hörner, zitterte in Ma-noh das Herz vor Glück. Er tanzte, selbst träumend und hingerissen, um Wang, der den Kopf duckte; er verstand alles, was Wang sagte; er bückte sich, strich ihm über die Schultern, den Scheitel, und hätte sein Knurren und Zischen in Lachen verwandeln mögen. Wang dachte an seinen Vater und seine Mutter, und wie seine Mutter eingeschlafen war, als der Vater unter Hundegekläff in einer Tigermaske hin und her sprang vor der Frau und über die Hingesunkene schnaufte und flüsterte. Ihn fror plötzlich sehr unter der Achsel, an den Knien, an den Fersen.
Er lag schwindlig, lang auf den Leib gestreckt am Boden. Ma häufte Decken über ihn, drückte das Licht aus. Eine weiße Helligkeit trat durch die verklebten Fenster. Ein Scharren und Kratzen an der verriegelten Tür, Füße und Schnäbel von hungrigen Krähen. Dann lief es einmal weich über die Stufen, kroch über das niedrige Dach, schnuppernd, schlüpfte wieselartig über Balken weg. Alle Augenblicke krachte es ganz weit; fernes Schieben, Schurren, Poltern folgte. Schneemassen kamen ins Rollen, stürzten in die Schluchten.
Ma-noh, in der schwefelgelben Kutte, mit roter Schärpe, auf dem Schädel die vierzipflige Mütze, öffnete die Tür. Brausen des Flusses drang in das dumpfe Zimmer, in dem die Klapper nicht mehr lärmte. Blendende Weiße warfen die Schneemassen herein. Ma pfiff und gluckste. Er hielt die große Almosenschale in der Hand, mit Körnern und Brocken gefüllt. Die Krähen stießen wütende Schreie aus. Er hielt die zudringlichen Vögel mit spitzem Lachen zurück. Weit über die Stiege, in den hohen Schnee der Straße flogen die harten Stücke.
Obwohl Wang schon am ersten Abend unruhig drängte, hielt Ma-noh ihn über drei Tage auf dem Berge fest. Am Morgen des vierten klopften Männer an Mas Tür, fünf Räuber aus dem Dorf. Sie hatten Wang gesucht und brachten die Nachricht, daß sie verraten seien, daß gestern nachmittag dreißig Berittene, abgeschickt aus der Unterpräfektur Cha-tuo, unter einem riesigen Pa-tsoung in das Dorf einfielen. Sie hätten, unterstützt von Dorfbewohnern, die Soldaten verjagt, ein Pferd lahmgeschlagen; es konnte aber nicht verhindert werden, daß vier ältere Wegelagerer, darunter ein Kranker, von den Soldaten ergriffen und auf den Pferden mitgeschleppt wurden. Als sie den Raub bemerkt hätten, waren die Reiter schon im Galopp und schossen mit Pfeilen nach rückwärts. Die Brüder drängten sehr fort, berichteten sie. Auch die gutmeinende Dorfbevölkerung bäte, rasch abzuziehen, weil sonst beide, Banditen wie Dörfler, verloren seien. Alle Wege wären gut passierbar, das Wetter erträglich, es werde ein rasches Frühjahr geben.
Von den Männern, die zu der Einsiedelei geschickt waren, gehörten drei zu den engeren Freunden Wangs von den Pochwerken. Es waren die erfahrensten, zuverlässigsten Männer.
Auf das erregte Bitten Wangs blieben sie fast einen halben Tag gemeinsam in Ma-nohs Hütte.
Wang konnte sich schwer bezwingen. Er ging ratlos in einem Durcheinander von Empfindungen an den niedrigen glühenden Herd, über dem der Wassertopf an einem rohen, schlecht geschnittenen Eichmast hing. Sein breites Gesicht schrumpfte unter der Hitze. Er wandte sich und streifte mit den fliegenden Ärmeln die goldenen Buddhas, die ihre bezaubernde, flimmernde, irisierende Miene zuwandten dem stummen Ma-noh, der ihre Blicke aufzufangen suchte, dem Wanderer Wang, den hockenden fünf Vagabunden, die die Köpfe zusammensteckten, teeschlürfend die Nachbarorte durchhechelten. Über und über waren sie bepackt mit zerlumpten Kitteln, Tuchfässer, schwer bewegliche Fleischpakete.
Wang schwankte unter einer Aufwallung und einem unertragbaren Sieden in der Brust die Stiege herunter, und seine schrägen schmalen Augenschlitze kniffen sich zu, geblendet vom Weiß, das entgegenprallte. Er stand am Rand der Bergstraße. Aus dem Flußtal schleiften Nebelschlieren. Von einem drehenden Windstoß gerafft zogen sie sich schlangenartig rasch hoch und pufften, breitschleiernd, über Wang und die lange Bergstraße. Das Rauschen der Schnellen klang unglaublich nah. Das Tal kochte kalt und war verschüttet in den brodelnden Dunst. Muskellose weiche Schneearme streckten sich herauf.
Sie berieten in der kaum mannshohen Hütte unter dem Felsen. Ma-noh mit welkem spitzen Gesicht, im bunten Flickmantel und aufgewundenen Zopf, höflich, leicht gnädig, im Inneren aufgebläht, erwartungsvoll erregt. Wang, zwischen den andern am Herd, bog den Rücken rund; seine Blicke wanderten von einem Augenpaar zum andern.
Er fing an zu sprechen, die Hände auszustrecken, die Freunde zu beschwören: „Die vier Alten haben die Reiter mitgenommen, und man wird sie ins Gefängnis werfen und ihnen die Köpfe abschlagen. Sie konnten nicht so schnell laufen wie ihr. Den Lahmen hab ich auf meinem Rücken getragen, als wir vom Berg herunterliefen. Es wird ihnen keiner glauben, wie elend wir sind und daß der Frost so schlimm war. Der Lahme muß daran glauben, daß ihm ein Bootsmann das Bein zerschlagen hat. Sein Unglück ist groß, man wird ihn an einem ungünstigen Ort verscharren, sein Geist muß betteln, wie im Leben hungern, frieren. Sein Bein war zu kurz und die Soldaten hatten Pferde. Uns nimmt man alles. Wir sollen in den leeren Bergen erfrieren, die Raben sind mit uns ausgezogen, keiner konnte mehr leben, keine Karawane gab zu essen. Unsere armen Brüder nimmt man uns. O, wir sind arm.“
So jammerte Wang-lun, blickte ihnen allen in die traurigen gesenkten Gesichter und litt. Mit einmal kam die Angst wieder und die Befremdung vor ihnen. Er wandte sich, schluckte an dem Kloß hinter seinem Gaumen. Er preßte es gewaltsam herunter, hielt seine eiskalten schwitzenden Hände über den Herd. Sie taten ihm nichts, sie wollten nichts von ihm, es war nur ein Gerede gewesen, er wollte sie gar nicht fragen. O, war das Leben schwer. Dazu blitzte es ihm vor den Augen; bald schienen es von dem Herd verwehte Funken zu sein, bald fuhr es so rasch und glatt zusammen, fünf Säbel und eine kleine getünchte Mauer.
Ein breitschultriger alter Mann unter den abgesandten, ein Bauer, dem sein Land mitsamt seiner Familie fortgeschwommen war, veränderte seine entschlossene Miene nicht bei den zitternden Worten Wangs: „Wir müssen unsere Brüder wieder holen. Wenn du ihn in das Dorf getragen hast, Wang, mußt du ihn zurückbringen. Hätten wir Pferde und Bogen wie die Soldaten, wäre nichts geschehen. Der Unterpräfekt von Cha-tuo soll ein kluger Mann sein aus Sze-chuan. Aber er ist zu feingebildet für uns in Nan-ku. Sag selbst, Chu, Ma-noh, wir müssen mit unserer Sprache herauskommen.“
„Der Unterpräfekt Liu von Cha-tuo,“ fiel ein jüngerer großer neben ihm ein, auffallend helle Gesichtsfarbe, große scharfe Augen, „der ist aus Sze-chuan gekommen, aber der klägliche Sü weiß, woher Liu seine Täls genommen hat. Er hat sie nicht aus den kanonischen Büchern herausgelesen, die Lieder des Schi-king sollen keine Goldschnüre um den Hals tragen. Ich habe gehört von einer großen Stadt Kwan-juan, als ich einmal über den Ta-pa-schan herüberwanderte. Da kam in das Jamen des glanzvollen Unterpräfekten ein Kurier vom Vizekönig von Sze-chuan; es sollten neue Steuern für den Krieg mit dem und dem erhoben werden auf das und das. Der klägliche Sü weiß die Antwort, die der glanzvolle Liu an den erhabenen Vizekönig zurücksandte, weil er nämlich dem heimwandernden Kurier einen Strick um die Beine legte, um ein paar Käsch beim Betreten einer so großen Stadt zu besitzen. Liu, besorgt um die Stadt, wie ein echter Vater, lehnte die Steuer ab für Kwan-juan: „Die Stadt ist zu arm, die schwarzen Blattern grassieren, die Reispreise unerschwinglich für den kleinen Mann.“ Aber als ich selber nach zwei Tagen entzückt über solche Landesliebe in die glücklichen Mauern eintrat, klebten schöne lange Zettel an jeder Wand mit dem Stempel des glanzvollen Liu, in deutlicher würdevoller Sprache. Er gab dem mächtigen Vizekönig zuerst das Wort: „Himmelssohn, Krieg mit dem und dem.“ Und zum Schluß Steuern auf das und das, für jeden eine Gabe, diese Gilde jene Gilde. Die guten Leute wußten auf einmal, wie unbezahlbar bei ihnen in den Mauern alles war, das und das und das. Sie waren sehr glücklich und priesen Liu, der sich um die Hebung ihrer Stadt so wohl verdient machte, priesen seine Eltern und Großeltern und zahlten drei Jahre die Likinabgaben für — Liu, den weisen Unterpräfekten.“
Der hellfarbene Mann lachte wie berauscht. Ma sah ihn streng an; Wang erkannte, daß Sü nicht zu halten war. Einer neben Wang stieß seinen Nachbarn an, dessen Gesicht glühte von dem heißen Wasser, flüsterte, er solle doch reden; das sei besser, als halblaut fluchen vor den Fenstern anderer Leute.
Wang wurde von seinem Schmerz gefaßt und mit eisernen Händen unter ein dickes dunkles Moor zum Ersticken gehalten. Er keuchte. Das war alles falsch, was hier gesprochen wurde.
Während die zwei neben ihm verlegen gestikulierten und heftig auf sich einsprachen, Sü prahlerisch eine neue Geschichte schmetterte, fing Wang an zu klagen, Ma-noh neben sich auf den Boden zu ziehen. Er redete hilflos schnappend, drehte den Kopf, seine Lippen bebten: „Ma, bleib sitzen hier. Seid nicht aufgeregt, liebe Brüder. Sü, du bist gut, es ist richtig, was du sagst. Ich will euch ja nicht langweilen, aber mir fiel etwas ein, wie Sü erzählte von dem Unterpräfekten aus Kwan-juan in Sze-chuan, der uns die vier Armen hat rauben lassen. Wir wollen sie ihm gewiß nicht lassen, liebe Kinder. Habt mich nicht im Verdacht, liebe Kinder, als ob ich das tun wollte. Mir fiel nur ein von Schan-tung etwas, als ich in der Stadt Tsi-nan-fu war, in dem großen Tsi-nan-fu und bei einem Bonzen diente; er hieß Toh-tsin. Ihr werdet ihn nicht kennen, es war ein guter Mann, der mich sehr geschützt hat. Da war mein Freund ein Mann, den sie auch totgeschlagen haben. Ich will euch alles erzählen von Su-koh, so hieß er. Ihr werdet mir glauben, daß ich unsere armen Vier nicht dem Unterpräfekten lassen werde. Nachdem mir das passiert ist in Tsi-nan-fu, und sie mir meinen Freund Su-koh totgeschlagen haben. Er war ein Anhänger des westlichen Gottes Allah, der seinen Anhängern vieles erfüllen soll. Aber in Kan-suh fingen Unruhen an, als diese Leute plötzlich laut beten wollten, und Su-kohs Neffe las zuerst aus einem alten Buch laut vor, und sie haben ihn in Stücke geschlagen mit seiner Familie. Dann haben sie nach meinem Freund in Tsi-nan-fu gesucht, er war ein so würdiger ernster Mann, er hätte die höchsten Prüfungen bestanden. Es kam, wie es will. Sie haben ihn wieder gefaßt, als ich ihn schon herausgeholt hatte mit seinen beiden Söhnen. Er sagte, sie dürften ihm nichts anhaben, er wolle schon auswandern, erst müsse er seine Schulden bezahlen und sein Haus verkaufen und sein Priester müsse ihm einen günstigen Tag angeben. Aber es gab ein Trommeln. Eine Eidechse, ein weißer Tiger, ein dünnbeiniger Tou-ssee gab ihm einen Stoß von hinten mit dem Degenknauf, neben seinem Haus an einer kleinen getünchten Mauer. Dann haben sie ihn eben, wie er sich umdrehte, mit fünf Säbeln totgeschlagen. Ihr müßt nicht lachen, weil ich nichts dabei getan habe. Sein Geist, der eben aus ihm geflogen war, muß in meine Leber gefahren sein, denn ich war besessen die Tage darauf. Und dies ist mir in Tsi-nan-fu an meinem eigenen Freunde passiert. Der Tou-ssee lebt nicht mehr, ihr werdet es mir glauben. Aber es ist zum Weinen, um selbst über den Nai-ho zu gehen: sie kommen immer wieder und nehmen etwas weg. Sie geben keinen Frieden und keine Ruhe. Sie wollen mich und euch und uns alle ausrotten und nicht leben lassen. Was wollen wir machen, liebe Kinder? Ich, euer Freund Wang aus Hun-kang-tsun, bin schon wie weich gerittenes Fleisch, wie stinkende Zeugmasse. Ich kann nur weinen und jammern.“ Wang hatte die Haltung eines kranken Kindes angenommen vor Ma-noh, und in einem Stöhnen, Keuchen und Schluchzen arbeitete seine Brust.
Das Wasser stürzte ihm aus Auge und Nase, sein breites derbhäutiges Gesicht war ganz klein und mädchenhaft. Er lehnte gegen Ma-noh in einer Art Betäubung.
Er log nicht von Su-koh. Man hatte ihm in Su-koh einen Freund weggerissen. Wang, der Gassenläufer und Ausrufer in Tsi-nan-fu, war in der Herberge dem Mohammedaner begegnet. Das ernste gelassene Wesen fesselte ihn stark. Es zog ihn intensiver an, als er sich bewußt wurde in dem unruhigen Treiben der Stadt. Er hatte rasch das völlig unklare Gefühl, hier etwas Verhängnisvolles zu treffen, etwas so Tiefes, daß er sich davon abwenden müßte. Er kam wenig mit Su-koh und seinen Söhnen zusammen; ihre Gespräche betrafen tägliche Dinge. Dann kam die Verhaftung Su-kohs, und sie deckte ihm die Stärke seiner Beziehungen zu dem Mann mit Furchtbarkeit auf. Nicht kam er zu einer Vorstellung, worum es sich handelte zwischen ihm und dem Mohammedaner; er merkte nur die Hingerissenheit und unbedingte Teilnahme an Sus Schicksal. Wang hatte das schwerlastende Empfinden, daß man ihn selbst, etwas in ihm von einer schaurigen Verborgenheit, angriff. Und es war nicht die Roheit des Eingriffs, die ihn erschreckte, sondern das Entsetzen vor dem Verborgenen, das ihm vor Gesicht kam, das er nicht sehen wollte, nicht jetzt schon, vielleicht später, viel viel später. Die fünf Säbel und die kleine Mauer fuhren vor seinen Augen zusammen, immer erneut, jede Stunde jede Minute; es war nicht zu ertragen, es mußte überdeckt, vergraben werden. Und so kam die Rache für Su als etwas Erdachtes, Erzwungenes. Erst als er sein Hirschgeweih in Händen hatte in der Kammer des Bonzen, als er sich flüchtete zu den Erinnerungen an die Späße, die mit dem starken Geruch des Geweihs in ihm aufstiegen, an die Jagden über Marktplätze, Jonglieren über Dächer, da wußte er sicher, daß er den Tou-ssee töten würde, mit der Maske glatt und fest alles zustülpen würde. Diese Bewegung machte ihn damals glücklich und sicher: zustülpen. Er wollte sich noch einmal wegtäuschen über die Zukunft, vor der er sich schämte und graute. Es war schon nicht mehr nötig, daß er am Morgen aus dem Wegeschrank aufstand und auf den Übungsplatz lief: er hatte in der Nacht schon zehn, fünfzigmal den Hauptmann erstickt unter der Maske, es war schon alles geschehen. Aber er lief hin; er mußte sich dabei sehen, es sich tief einprägen. Und so geschah der Mord, als ein Opfer, das er sich brachte. So rächte Wang den Mohammedaner, seinen Freund.
Die scharfe nüchterne Stimme des Mannes, den vorher Wangs Nachbar gedrängt hatte, übertönte das Durcheinander von gezischelter Wut und Drohworten. Er rief, es möchte derjenige, welcher am nächsten der Türe sitze, die Hütte umgehen und nachsehen, ob einer draußen sei; er wolle dann sprechen. Als die Türe aufgestoßen wurde und ein langer Bursche mit vorgestrecktem Kopf aus der Hütte verschwand, war es für eine Minute still in der Hütte, so daß man zum erstenmal das Geräusch des Flusses und der stürzenden Schneemassen hörte. Der Bursche kam grinsend zurück: es hätte nur etwas Totes neben der Hütte gesessen. Und er zog das Fell einer graubraunen Zibetkatze aus seinem Kittel hervor. Ma-noh schüttelte sich vor Abscheu; er wollte den Burschen davonjagen, bezwang sich und schnüffelte erregt, als er die andern überernsten Gesichter sah.
Der Mann am Herd, dem unter dem Kinn ein kleiner grauer Bart wuchs, stand auf, stellte sich an die Tür, die er mit seinem Rücken versperrte, sprach leise scharf; fuchtelte sonderbar in der Luft, als ob er Fliegen fange. Er zupfte seinen Bart. Sein altes Gesicht mit den großen Augensäcken war lebendig wie eines schnurrenden Katers. Die schlaffe Haut tat dem Spiel seines Ausdrucks keinen Eintrag; es kräuselte, blitzte, rollte über das platte Gesicht mit dem weit vorgeschobenen Unterkiefer. Er klappte oft laut die Zähne zusammen, man sah seine dünne rosa Zunge spielen, er bog den dickgepolsterten Rücken, machte dies und dies Knie krumm. Von dem Mann wußte man, daß er ohne Grund aus seiner Heimat aufgebrochen war in geachteter Stellung. Er hauste seit Jahren in den Nan-ku-Bergen, tat in Dörfern ehrbare Dienste. Leute aus seiner Heimatstadt, die von dem neugierigen Gesindel nach ihm ausgefragt wurden, berichteten kopfschüttelnd, daß er ohne mindeste Veranlassung alles habe stehen und liegen lassen. Sie waren überzeugt, daß der Alte der Aufdeckung eines Verbrechens zuvor gekommen sei, das aber dann nicht aufgedeckt wurde, eine Geschichte, die sie viel belachten und zur Beleuchtung seines ebenso furchtsamen wie geheimtuerischen Wesens benutzten.