Читать книгу Islamische Kultur und Zivilisation - Али Акбар Велаяти - Страница 10
ОглавлениеErstes Kapitel: Allgemeines
1. Bedeutende Ereignisse und ihre historischen Grundlagen
Der historische Anfang des Islams ist mit dem ersten Aufruf des Propheten, dem Islam zu folgen auf das Jahr 610 n. Chr. in Mekka zu datieren und findet seine unmittelbare Verbindung mit der Auswanderung (hiǧra) Muḥammads von Mekka nach Medina (Yaṯrib) und der Gründung des islamischen Staates. Der junge Staat, der bald Gestalt annahm, war von den alten Kulturen Irans, Byzanz und Ägyptens umgeben, die ihn mit ihrer Kraft durchdrangen und deren Erbe er später antrat.
Nach dem Abschluss des Friedensvertrages von Ḥudaibīya im Jahre 628 mit den Mekkanern, in welchem die Herrschaft des Islams über die arabische Halbinsel zu sichern war, sandte der Prophet Briefe an die Machthaber der Nachbarländer, um Kontakte herzustellen und diplomatische Beziehungen zu pflegen, wie es später auch unter den ersten vier Kalifen, den Umayyaden (reg. 661-749) und Abbasiden (reg. 749-1258) gängige Praxis war. Einen ersten Höhepunkt fand die Ausdehnung des Islams etwa in der Mitte der Herrschaftszeit der Abbasiden im asiatischen, afrikanischen und europäischen Raum. Zu dieser Zeit grenzte das islamische Hoheitsgebiet im Osten an China sowie im Westen an die äußere Küste Afrikas, einschließlich Marokko, während im Norden sämtliche Gebiete von Transoxanien und Südsibirien zum Einzugsbereich des Islams zählten. Außerdem gehörte ein beträchtlicher Teil von Kleinasien wie auch die östliche und südliche Küstenlandschaft des Mittelmeers bis hin zu den Pyrenäen, welche die Grenze zwischen Spanien und Frankreich bilden, zum islamischen Gebiet. Im Süden hat sich der Islam auf die Inselkette von Südostasien, die Jaffna-Halbinsel auf Sri Lanka und die südliche afrikanische Sahara ausgedehnt. In diesen gewaltigen geographischen Gebieten lebten Völker unterschiedlicher Sprachen und Herkunft, die in der vorislamischen Zeit oft blutige Kriege gegeneinander führten, im Zuge der Islamisierung aber in den Genuss gleicher Rechte kamen. Hier prägte sich eine Zivilisation aus, die als Schmelztiegel der alten Kultur bezeichnet werden kann.1
In der nächsten Phase formierten sich „Lehre und Kultur des Islams“ unter der Berücksichtigung vorangegangener Kulturen, jedoch nach der Maßgabe der koranischen Überlieferung. Sie begann im zweiten Jahrhundert nach der hiǧra und erreichte ihren Höhepunkt im vierten Jahrhundert als die islamische Literatur erblühte, die bis zum siebten Jahrhundert ihren Höhenflug fortsetzte. Der theoretische und praktizierende Mystizismus erlebte zwischen dem vierten und sechsten Jahrhundert seinen Höhepunkt und hielt sich bis zum neunten Jahrhundert. Das Kunsthandwerk gewann im fünften und sechsten Jahrhundert an Strahlkraft und legte eine lange Phase der Entwicklung zurück, bis es im zehnten und elften Jahrhundert zu einem Zeitpunkt stagnierte2, als auch die islamische Kunst und Kultur wegen innerer und äußerer Umstände ihrem Niedergang entgegenging. Der kulturelle Stillstand, der sich als Zwischenstation in der islamischen Kultur- und Religionsgeschichte herausstellte, hätte nach Einschätzung von Experten für die Gesamtentwicklung der Gesellschaft und ihrer Kultur Konsequenzen haben können, wenn ein Wiedererwachen des Islams nicht stattgefunden hätte. Was wir heute mit diesem Terminus bezeichnen, geht auf die Ideen muslimischer Vorkämpfer für den Islam zurück, die sich gegen den europäischen Modernismus stellten, wie etwa Sayyid Ǧamāl ad-Dīn Asadābādī, Šaiḫ Muḥammad ʿAbduh und ʿAbd ar-Raḥmān al-Kawākibī. Wie andere Gleichgesinnte kämpften sie unermüdlich für die islamischen Werte und beschworen so erneut ein Zeitalter der Einladung zum Islam auf Basis der koranischen Lehre herauf. Von diesem Zeitpunkt an sind wir Zeugen zahlreicher Bewegungen, welche die Gründung eines islamischen Staates der absoluten Vollkommenheit wie in der Zeit des Propheten Muḥammad in Medina zum Ziel hatten und neben anderen Faktoren letztendlich die Gründung der Islamischen Republik Iran unter der Führung von Imām Ḫumeinī ermöglicht haben. Diese Bewegungen blieben nicht nur auf den Iran begrenzt, sondern dehnten sich auch auf andere Länder aus, in denen man islamische Werte und Gesetze pflegte.
2. Definition von Kultur und Zivilisation
Für die Untersuchung der islamischen Kultur und Zivilisation ist es von größter Bedeutung, beide Begriffe unter Berücksichtigung ihres gegenseitigen Bezugs näher zu definieren.
2.1. Kultur (pers. farhang)
Basierend auf den modernen soziologischen Wissenschaften gründet in der Tradition der alten logischen Denkweise der Begriff Kultur auf der Unterscheidung des Menschen von den Tieren, der nach der Phase als Jäger und Sammler mit dem Anbau von Nutzpflanzen begann, Siedlungen gründete und sesshaft wurde. Im Bewusstsein seiner Fähigkeiten zähmte er Tiere und bewies auf diese Weise seine Überlegenheit. Wahrhaftig ist der Mensch ein höheres Lebewesen. Geprägt durch seine Intelligenz weiß er sowohl die angeborenen Charaktereigenschaften als auch die äußeren Lebensumstände gut zu beherrschen und ist im Stande, diese ihm innewohnende Eigenschaft Schritt für Schritt fortzuentwickeln.
Allgemein unterscheidet man die geistige von der materiellen Kultur. Im Gegensatz zur letzteren mit ihren gegenständlichen, von menschlicher Hand geschaffenen Errungenschaften umfasst die geistige Kultur Werte wie Traditionen, Gebotsregeln, Wissenschaften, Literatur, Philosophie und weitere Ergüsse des Geistes. Somit umschließt der Begriff Kultur stoffliche und geistige Elemente des gesamten gesellschaftlichen Lebens, in welchem der Mensch lebt und sich entfaltet. Die Psychologie verwendet in diesem Zusammenhang den Begriff Sozialisation und zeigt, dass der Mensch als Lebewesen mit einer kulturellen Identität ausgestattet ist, von der auch sein Alltag im Wesentlichen geprägt ist. Sämtliche Handlungen, die in der Psychologie als bewusst und unbewusst bezeichnet werden, basieren auf der soziokulturellen Umgebung, in welche der Mensch hineingeboren wird, in der er aufwächst und sich als Persönlichkeit entfaltet. Analog zur Lebensspanne des Menschen mit seiner Geburt, Entwicklung und dem Tod, können auch die Kulturen betrachtet werden in ihren Phasen des Entstehens, Erblühens und des Niedergangs. In den Untersuchungen der historischen Philosophie der verschiedenen Kulturkreise geht man zunächst von einer primitiven Phase aus, der mit der Gründung von Wohnsiedlungen und Städten die Phase des Aufbruchs folgt, in welcher wirtschaftlicher und technischer Fortschritt erlangt wird. Große Reiche werden gegründet, in denen Schrift, Literatur, Philosophie und Wissenschaft in Abhängigkeit vom Grad der sozio-ökonomischen Entwicklung ihrer Gesellschaft entstehen. Diese Kulturen können kurzlebig sein oder lange fortbestehen, sie können als gesund oder auch als ungesund bezeichnet werden. Gesunde Kultur wird in dem Zusammenhang durch Werte und Normen repräsentiert, die von den Menschen angenommen werden und ihnen ein Gefühl von Integration und Sicherheit vermitteln. Auf dieser Basis kann ein funktionierendes System wachsen, das allen Belangen der Gesellschaft gerecht wird und in der Lage ist, den Beginn einer weltweiten Kultur einzuleiten und eine bedeutende historische Entwicklung zu beschreiten. In einer kranken Kultur dagegen verlieren Werte und Normen ihre innere Bedeutung, sie verkommt zur Maske, die ihre Krankheit zu verbergen sucht. Ein solches System hat keine Anziehungskraft auf die Massen und wird sie nicht für sich gewinnen, da sie sich ihrer Belange nicht annehmen wird. Wie auch gegenwärtig in der Welt zu beobachten, beginnt der Niedergang einer Kultur dort, wo die grundlegenden, das Funktionieren einer Gesellschaft garantierende, Verhältnisse nicht mehr miteinander harmonieren und unpassende Elemente aufgenommen werden. Der Materialismus wie auch die Einführung moderner Techniken führen heute bei traditionell orientierten Gesellschaften zu einer unübersehbaren inneren Krise.1
2.2. Zivilisation (pers. tamaddon)
Die beiden Begriffe Kultur und Zivilisation werden in den anthropologischen Untersuchungen des 19. Jahrhundert sowohl für die primitiven Kulturen als auch für die Hochkulturen in Asien, Afrika und Europa oft parallel verwendet und synonym verstanden. Historiker und Kulturkenner haben daher den Versuch unternommen, die Begriffe näher und eindeutiger zu definieren: Während Zivilisation die materiellen Errungenschaften eines Kulturkreises, wie Architektur, Städtebau, Technik usw. bezeichnet, steht Kultur in der Regel für die inneren Werte und geistigen Leistungen wie Traditionen und Statuten, Religion und Wissen. Zivilisation deutet auf einen großen politischen, sozialen, wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Kulturkreis hin, der - wie etwa ein Imperium mit hochentwickelter Kultur und Schrift - eine Einheit bildet und in einem großflächigen geographischen Raum beheimatet ist. Kultur dagegen kann sich, wie dies auch bei primitiven Völkern zu beobachten ist, in jedem Clan, Volksstamm oder Volk entwickeln.1
2.3. Zusammenhänge zwischen Kultur und Zivilisation
Trotz der engen Verbindung zwischen Kultur und Zivilisation bedingen beide einander nicht. Es ist durchaus möglich, dass ein Volk durch kulturellen Fortschritt Zivilisation erlangt. Eine Gesellschaft kann auch durch bloße Anlehnung an eine fremde Zivilisation, die ihr bis dahin unbekannt war Fortschritte erzielen und sich auf diese stützen. Wahr ist jedoch auch, dass eine Gesellschaft auch ohne nennenswerte Zivilisation immer noch eine eigene Kultur besitzen kann, wie man am Beispiel der Ureinwohner von Australien oder bestimmter Stämme aus Afrika, die eigene Sitten, Bräuche und religiöse Vorstellungen haben, sehen kann. Jede Gesellschaft, selbst der primitivste Stamm, kann also eine eigene Kultur besitzen.2
2.3.1. Wirksame Gründe für Entstehung und Aufstieg von Kulturen
Verschiedene Faktoren können hierbei eine Rolle spielen. Sicherheit und Frieden führen zu Reduzierung von Sorgen, Spannungen und Ängsten in der Gesellschaft. Stolz oder nationaler Zusammenhalt, was Ibn Ḫaldūn (gest. 1406) mit ʿAṣabiyat (leidenschaftliche Ergebenheit, Fanatismus, Patriotismus) bezeichnet, sind die Basis einer jeden Kultur. Zusammenarbeit und Solidarität innerhalb einer homogenen Gesellschaft mit den einenden ethischen Grundlagen der Nachsicht, Geduld, Selbstbeherrschung und Verantwortung für nationale Einigkeit, wie auch die Frömmigkeit können bedeutende kulturbildende Faktoren sein. Ebenso können relativer Wohlstand und ein gewisser Druck finanzieller oder gesellschaftlicher Art die Entstehung von Kulturen begünstigen. Während ersterer eine wesentliche Grundlage für die Entwicklung jeder Kultur ist, kann letzterer die Schwächen einer Gesellschaft aufzeigen, sie zusammenschweißen und so zur Entwicklung und Förderung der Kultur beitragen.1
2.3.2. Gründe für die Stagnation oder den Niedergang von Kulturen
Einige Wissenschaftler sind der Auffassung, dass jede Kultur entwicklungsbedingt verschiedene Phasen durchläuft. So ist Durant der Meinung, dass im Zuge ihrer fortschreitenden intellektuellen Entwicklung die Menschen in jedem Kulturkreis mit der Zeit sich von geistigen Werten entfernen und materielle Dinge an Bedeutung gewinnen. Der Zwiespalt zwischen Werten und Wissen bedingt so den Verschleiß der positiven menschlichen Energien und macht Stagnation und Niedergang unvermeidbar.
Aus der Sicht von Ibn Ḫaldūn durchläuft jede Kultur drei Stadien: Die anfängliche Phase der Anstrengung, die Phase der Allmacht und Unterdrückung und letztlich die Phase der Pracht und Verderbtheit, die zu ihrem Niedergang führt. Auch der zeitgenössische algerische Wissenschaftler Malek Bennabi (gest. 1973) untermauert die Dreiphasentheorie von Ibn Ḫaldūn mit seiner Meinung, dass die islamische Kultur auf den drei Hauptpfeilern Geist, Intellekt und Instinkt stehe. Seit dem achten Jahrhundert nach der hiǧra (15. Jh.) habe der Instinkt über den Geist die Oberhand gewonnen und dadurch eine Phase der Stagnation in der islamischen Kultur eingeleitet.2 Für den Niedergang von Kulturen werden auch andere Gründe angeführt: der Mangel an Einigkeit und Ordnung in der Gesellschaft, feindliche Angriffe von Außen, Desorganisation im Aufbau von Strukturen und letztlich auch Affektiertheit und Nepotismus.
3. Zusammenfassung der islamischen Geschichte und Kultur vom Zeitalter der Einberufung bis zur Periode der Eroberung
Historiker teilen die arabische Geschichte in drei Phasen ein:
1. Die Periode der Sabäer und Himyariten, deren Beginn im Dunklen liegt.
2. Die Periode des Heidentums, welche im sechsten nachchristlichen Jahrhundert beginnt und bis zur Etablierung des Islams fortbesteht.
3. Die Periode des Islams vom Beginn bis heute.
Gemäß historischen und archäologischen Zeugnissen hing man auf der arabischen Halbinsel unterschiedlichen Glaubensrichtungen und Sekten an. Abraham [Ibrāhīm] war der erste Prophet dieses Landes. Die Araber des Stammes der Banū Ġassān und Banū Manḏar, welche in Mesopotamien bzw. im Norden der Halbinsel lebten, sowie die Bewohner von Naǧrān und Yemen im Süden waren Christen. Der Mittelpunkt des gesellschaftlichen Lebens war der bāzār (arab. sūq), von denen einer ʿUkāẓ hieß, welcher den Literaten und Dichtern als Versammlungsort diente. Die Dichtung bildete in jener Zeit die wichtigste kulturelle Basis Arabiens und jeder Clan rühmte sich seiner Dichter.1
Die gesellschaftlichen Verhältnisse dieser Zeit lassen vermuten, dass politische Ämter traditionsgemäß nicht nach Qualifikation und Fähigkeit vergeben wurden, sodass zahlreiche Begabte mittellos auf der Strecke blieben. Durch den Segen der Kaʿba führten die Mekkaner in ihrer Stadt ein geregeltes und ruhiges Leben. Sie praktizierten gemeinsam ihre heidnischen Rituale und verteidigten ihre Stadt wie auch ihre Werte und Traditionen gemeinsam. Als Händler waren sie weitblickend. Die Bewohner von Yaṯrib (später Medina) dagegen trieben Landwirtschaft und galten als sehr fleißig.
Das waren die gesellschaftlichen Gegebenheiten, als der Prophet Muḥammad sich ca. im Jahre 610 offenbarte. Seine Anhängerschaft sah sich aber bald mit feindlichen Parolen und Drohungen der Mekkaner konfrontiert. Im elften Jahr der Berufung [621] stellte der Prophet des Islams bei einem Treffen im Ort namens ʿAqaba sich selbst und seine Religion einer medinensischen Gruppe des Clans der Banū Ḫazraǧ vor, die von der Pilgerschaft nach Mekka zurückkehrte, um ihre Sympathie zu gewinnen. Ein Jahr später sprachen zwölf Männer und eine Frau des Stammes in ʿAqaba ihren Treueid auf den Prophet Muḥammad aus, welcher als erster seiner Art in die Geschichte eingegangen ist. Auf dieser Grundlage entsandte der Prophet Musʿab ibn ʿUmair nach Yaṯrib, um die Menschen in die Lehre des Islams einzuführen. Nachdem deutlich wurde, dass Yaṯrib ein geeigneter Aufenthaltsort für den Propheten und dessen Anhänger war, beschloss er seine historische Übersiedlung dorthin. Das geschah am 12. Tag des Monats Rabīʿ al-awwal im 14. Jahr seiner Berufung - der Stichtag, ab welchem seine Anhänger in zwei Gruppen, nämlich jener der Übersiedelten aus Mekka und jener der Helfer aus Medina, geteilt werden. Der Prophet des Islams gründete die islamische Gemeinde in Medina, die sich auf drei Pfeiler stützte: Die Errichtung einer Moschee, brüderliche Beziehungen zwischen Auswanderern [muhāǧirūn] und Helfern [anṣār] sowie die Vereinbarung der Zusammenarbeit zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen. Die islamische Gesellschaft nahm in Medina allmählich Gestalt an. Hier vereinigte sie alle Eigenschaften eines funktionierenden Staates in sich, verfügte über Grund und Boden, Rechtsprechung, Verwaltung und eine Exekutive. Auch besaß sie eine weitere spezielle Eigenschaft, die in der Geschichte der Menschheit einzigartig war: das Gesetz und seine Anwendung stand nun an aller erster Stelle und galt ausnahmslos allen Mitgliedern. Eine Gemeinschaft ohne Diskriminierung war entstanden.
Auf dieser Grundlage, wie auch durch weitere von Muḥammad persönlich eingeleitete Maßnahmen, entstand eine funktionierende politische und religiöse Gesellschaft, die seinen persönlichen Stempel trug. Mit Blick auf die Durchsetzung der religiösen Vorschriften und die Verbreitung des Glaubens gewann seine Gemeinde kontinuierlich an politischer und administrativer Bedeutung. Während seines zehnjährigen Aufenthaltes in Medina fanden 80 größere und kleinere Schlachten statt, die vom ihm geleitet wurden. Bei Abwesenheit überließ er das Kommando einem anderen fähigen Krieger aus seinen Reihen. Diese Kriege spielten bei der Positionierung des Islams als politische und religiöse Macht innerhalb der damaligen Welt eine besonders wichtige Rolle. Darüber hinaus vereinbarte er zahlreiche Verträge mit verschiedenen Völkern, Stämmen und Religionsgemeinschaften, darunter auch Juden und Christen, wodurch er dem jungen islamischen Staat in Medina seinen Platz unter den Nachbarn sicherte. Ebenso sandte er Briefe an die benachbarten Könige und Herrscher, so nach Iran, Rom, Ägypten, Yemen und Äthiopien - eine Maßnahme, die seine Außenpolitik in Gang bringen sollte.1
Wie dem Inhalt der medinesischen Suren des Korans entnommen werden kann, wurden somit die Fundamente einer islamischen Kultur und Zivilisation bereits zu Lebzeiten des Propheten Muḥammad errichtet. Im Gegensatz zu den mekkanischen Suren berichten sie von religiösen und gesellschaftlichen Vorschriften, die bei der Urgemeinde noch nicht existiert hatten.
Später richtete der Prophet seine Aufmerksamkeit auf die Einrichtung einer funktionierenden Verwaltung mit persönlichen Sekretären, denen er bestimmte Aufgaben übertrug. Außerdem wurde geeignetes Personal für die Festigung und Ausführung der islamischen Vorschriften bestimmt. So fanden sich Personen, die Almosen und Spenden einsammelten und solche, die sich um gesellschaftliche Belange kümmerten. Über diese zehnjährige Periode der Etablierung des islamischen Staates und seiner Gesetzgebung finden sich auch Hinweise in der göttlichen Offenbarung (Suren des Korans). Es wurden weitere Maßnahmen ergriffen, die bei näherer Betrachtung Einblicke in die inneren Beweggründe des Propheten gewähren und ein realistisches Bild von seinem Auftrag in Medina zeichnen. In diesen zehn Jahren hat Muḥammad die Grundlagen eines islamischen Gemeinwesens geschaffen. Man spricht in diesem Zusammenhang auch von der Bildung der Arabischen Nation, da er den größten Teil der Stämme Arabiens angegliedert hatte. Im Arabsichen wird seine Anhängerschaft bzw. Gemeinde daher als Umma bezeichnet.1
Nach dem Dahinscheiden des Propheten gab es Differenzen über seine Nachfolge im Amt, die mit den Ereignissen in der Säulenhalle von Saqīfa Banī Sāʿda und der Wahl von Abū Bakr (gest. 634) ein Ende fanden.2 Während der zweijährigen Amtsführung Abū Bakrs, die von Streitigkeiten gekennzeichnet war, gelang es ihm, alle Stämme der arabischen Halbinsel unter seiner Zentralregierung zu vereinigen. Darüber hinaus führte er einen Krieg gegen Šām (Syrien) und Irak, mit dem Ziel, den Islam dort einzuführen. Bevor Abū Bakr verstarb, ernannte er ʿUmar ibn al-Ḫaṭṭāb (gest. 644) als Nachfolger für das Amt des Kalifen, in dessen Amtszeit große Eroberungszüge der inzwischen sehr gestärkten muslimischen Armee in Ägypten, Iran, Syrien und Afrika angestrengt wurden. Erwähnenswert ist die Feststellung, dass Iran und Rom bzw. Byzanz langjährige erbitterte Kriege gegeneinander geführt hatten, die von Ermüdung und kriegerischem Verschleiß gekennzeichnet waren und den muslimischen Eroberungszügen nicht mehr standhalten konnten. Darüber hinaus war die Bevölkerung mit ihrer Staatsführung unzufrieden und begrüßte die Muslime als Befreier, sodass sie binnen eines halben Jahrhunderts ganz Iran und große Teile Nordafrikas eroberten. Die Eroberer kamen mit den Sitten und Gebräuchen der unterworfenen Länder und Völker in Berührung, welche maßgeblichen Einfluss auf die gesellschaftlichen Strukturen in Medina hatten. Die Verwaltung der eroberten Gebiete, die mit der allmählichen Bildung einer funktionierenden Administration Hand in Hand ging, stellte für die Araber aber eine enorme Herausforderung dar.
1 Für eine ausführliche Darstellung vgl. Mūsawī Buǧnūrdī (Hrsg.): Dā’erat al-Muʿāref-e bozorg-e Islāmī, Bd. 8 (Islām); im Nachfolgenden „DMBI“.
2 Zaydān: Tārīḫ at-Tamaddun al-Islāmī, S. 100-150 und 551-559.
1 Āšūrī: Taʿrīf-hā wa mafhūm-e farhang, S. 114-123.
1 Vgl. Ebd., S. 128; Huntington: Naẓariyye-ye barḫūrd-e tamaddon-hā, S. 407; Henry Lucas: History of Civilization, Bd. 1, S. 7 and 16.
2 Ǧaʿfari: Farhang-e pīruw, farhang-e pīšruw, S. 11-73.
1 Lacoste: Ǧahān-bīnī-ye Ibn Ḫaldūn, S. 9 und S. 33-38.
2 Vgl. Ibn Nabī: Šurūṭ an-nahḍa.
1 Šahīdī: Tārīḫ-e taḥlīlī-ye Islām, S. 4-15.
1 Aḥmadī-Miyānǧī, S. 20-50.
1 Halm: Der Islam, S. 20-21. (DÜ)
2 Vgl. Newid: Der schiitische Islam in Bildern, S. 15 ff. (DÜ)