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Kapitel 1

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Es war einer dieser nasskalten Spätherbsttage, an denen man sich am liebsten mit einer warmen Decke und einem guten Buch gemütlich zuhause vergräbt und höchstens ab und an mal durch das Fenster einen Blick in die langsam immer kahler werdende Landschaft wirft, aber selten freiwillig vor die Tür geht. Draußen nieselte es. Der unbarmherzige Ostwind wirbelte das ockerfarbene Laub der Bäume durch die verlassenen Straßen. Anna und ich saßen wie fast jeden Samstagnachmittag im Café Laos. Wir hatten es uns in unserer Lieblingsecke hinten rechts gemütlich gemacht. Ich nippte an meinem Chai-Latte. Der würzige Geschmack von Kardamom und Zimt stimmte mich an diesem Tag auf die schon bald bevorstehende Weihnachtszeit ein. Meine achtwöchigen Semesterferien hatten gerade begonnen. Ich erfreute mich bester Laune. Wir waren mitten in unsere Frauengespräche über Annas Intimleben vertieft. Plötzlich ging die Eingangstür auf und Aljoscha betrat in weiblicher Begleitung das Café. Mir rutschte fast das Herz in die Hose. Ich spürte wie meine Kehle sich langsam aufwärmte und zuschnürte. Die Situation erschwerte mir das Atmen. Dieses beklemmende Gefühl, das einen fast ohnmächtig werden lässt. Ich hatte ihn eine gefühlte Ewigkeit nicht mehr gesehen und an diesem Nachmittag hätte ich auch gut darauf verzichten können. Anna, die mit ihrem Rücken zum Geschehen saß, sah mich fragend an. Drehte sich dann aber mit neugierigem Blick nach hinten in Richtung der Beiden um. Ruckartig schaute sie wieder in meine Richtung.

»Oh, nein! Muss der hier aufkreuzen?«

»Naja, Taktgefühl hatte er ja noch nie.«

In diesem Augenblick wäre ich am liebsten im Erdboden versunken oder hätte mich in Luft aufgelöst. Früher oder später wäre es ohnehin geschehen. Also dachte ich mir insgeheim: Augen zu und durch! Möglichst unauffällig musterte ich die Beiden. Seine Begleitung war das absolute Gegenteil von mir. Endloslanges, blondes Haar - wahrscheinlich Extensions-, künstliche Bräune und ein absolutes Tussi-Outfit, das an Geschmacklosigkeit nur schwer zu überbieten war.

Während Aljoschas Begleitung fragend in die Gegend blickte, sondierte er den Raum nach einem freien Tisch.

»Ach du liebe Zeit! Weißt du wer das ist?« Annas Tonlage verriet ihre Empörung. Sie schaute mich sichtlich entsetzt an.

»Auf jeden Fall nicht seine Neue«, entgegnete ich.

»Nein, mit Sicherheit nicht. Das ist bestimmt nur was für unten rum, aber so wenig Niveau hätte ich ihm jetzt gar nicht zugetraut.«

»Die arbeitet bei der Katja!«

Die Beiden nahmen an einem der vorderen Tische an der Fensterfront Platz. Verstohlen musterte ich die Beiden. Aljoscha sah immer noch so verdammt gut aus. Er war etwas dünner geworden, aber das änderte nichts an seiner unglaublich männlichen Erscheinung. Der Mann war Sex pur. Seine dunkelbraunen Haare fielen ihm leicht von der Seite über die Stirn und er trug wieder seine schöne, cognacfarbene Lederjacke. Und wie er lachte. Ich hatte ganz vergessen, wie schön sein Gesicht war. Wie konnte ich das vergessen? Wenn ich an unsere Beziehung zurück denke, werde ich noch immer sentimental. Unsere Trennung lag zwar schon drei Monate zurück, aber an meinen Gefühlen ihm gegenüber hatte sich wenig geändert. Das wurde mir jetzt klar. Zum Glück hatte er uns nicht gesehen. Jetzt konnte ich die Beiden wenigstens ungestört beobachten.

»Emelie, hörst du mir überhaupt zu?«

»Sorry! Woher kennst du die?«

»Die arbeitet in Katjas Kosmetikstudio. Als ungelernte Nageldesignerin«, fügte Anna grinsend hinzu.

»Meinst du echt der vögelt die?«, fragte sie mich nun noch viel entsetzter.

Ich musste es mir bildlich vorstellen und der Gedanke tat mir sehr weh, obwohl dieses Mädel nicht meine Kragenweite besaß.

»Klar!«entgegnete ich.

»Mensch Emelie, du musst den Kerl langsam mal abhaken. Der Typ ist ein riesen Arschloch. Der hatte dich doch gar nicht verdient. Schau dich doch mal um. Es gibt so viele tolle Männer auf dieser Welt und die meisten würden dich mit Kusshand nehmen. Der Daniel hat auch letztens wieder von dir geschwärmt.«

Anna schaute mich eindringlich an und hob dabei ihre Augenbrauen.

»Was will ich denn mit dem? Der studiert schon im 14. Semester Soziologie auf Magister«, entgegnete ich.

»Das bildet auch«, erwiderte Anna lachend.

Ich mochte sie so. Sie wusste genau was mich aufbaute. Aber das änderte auch nichts an der unangenehmen Situation. Plötzlich schaute Aljoscha zu uns. Ich drehte mich reflexartig weg, um seinem Blick auszuweichen. Blöde Situation, so ein erstes Zusammentreffen und dann auch noch mit so einer Schnalle im Schlepptau. Irgendwie aber auch gut zu wissen, dass er bisher nichts Besseres gefunden hat.

»Oh, nein! Jetzt kommt er auch noch her.«Oh, bitte! lass ihn an uns vorbeigehen. Sofort bekam ich wieder ein flaues Gefühl in der Magengegend.

Selbstsicher kam Aljoscha langsamen Schrittes auf uns zu. Während Anna ihn provokant musterte, schaute ich verlegen an die Wand, die Pino mit neuen Bildern dekoriert hatte.

»Hallo, die Damen! Lange nicht gesehen.«

Ich musterte ihn kurz. Seine Haut war etwas fahler geworden und seine großen, braunen Augen hatten irgendwie den Glanz verloren. Und schon bewegten sie sich weiter- diese zarten, vollen Lippen.

»Wie geht’s dir Emelie?«, fragte er.

»Wunderbar, ich kann nicht klagen. Alles so wie es sein sollte«, entgegnete ich schnell mit aufgesetztem Grinsen.

»Freut mich zu hören«, erwiderte er mit leicht hochgezogenen Augenbrauen.

»Und bei dir? Hat sich denn mittlerweile etwas in Florians Firma ergeben?«

»Ja, ich arbeite seit fünf Wochen dort. Habe es mir eigentlich wesentlich stressiger vorgestellt. Von daher. Wurde auch sofort fest agestellt und direkt befördert.« Jetzt lächelte er.

»Gratuliere! Und privat stehen die Zeichen jetzt auf blond?« Ich konnte es mir einfach nicht verkneifen. Wie blöd von mir! Hätte ich das nur nicht gesagt. Seine Miene verzog sich und er schaute plötzlich ziemlich ernst. Es war mir im Nachhinein so unglaublich peinlich.

»Nicht was du denkst. Das ist so ne Art Verflossene vom Florian.«

Also ein billiges Flittchen, mit der er sich die einsamen Stunden am Wochenende vertreibt, dachte ich mir insgeheim. Anna grinste und schüttelte langsam den Kopf.

»Ah, das ist dann wohl die eine Verlagsbloggerin, von der Mike mir letztens erzählt hat?«, fragte sie ihn. So eine ausgefuchste Frage konnte nur von Anna kommen.

»Ja, kann sein, dass er von ihr erzählt hat«, entgegnete Aljoscha etwas irritiert, aber sichtlich erleichtert. Die Frage kam ihm gerade recht und mit seiner Antwort hatte er nicht gelogen. Die Konversation wurde ziemlich schnell unterbrochen, als Aljoschas Begleitung mit giftigem Blick ebenfalls die Richtung unseres Tisches ansteuerte. Ach du lieber Gott, dachte ich mir. Anna drehte ihren Kopf wieder in Richtung des Eingangs. Die Blondine stampfte beim Gehen fast wie ein Elefant und schwang dabei ihre weiße Kunstledertasche rhythmisch nebenher. Als sie an unserem Tisch angekommen war, blieb sie kurz stehen, umarmte Aljoscha von hinten und gab ihm einen Kuss auf die Wange.

»Lass mich nicht so lange warten, Bärchen! Ich geh mal auf die Pipi-Box und dann bestellen wir mal unsere Spaghetti,« forderte sie schnippisch.

»Du solltest mal wieder an unseren Tisch gehen, bevor ihn uns noch jemand wegschnappt! Wir sind ohnehin spät dran«, säuselte sie ihm jetzt beschwichtigend zu. Die Eifersucht stand ihr dabei aber ins Gesicht geschrieben. Aljoscha schaute peinlich berührt. Ich glaube, er wäre in diesem Moment am liebsten im Erdboden versunken. Er blickte dem stampfenden, blonden Wesen hinterher, dass eine unverkennbare Calvin Klein-Duftwolke hinterließ. Anna konnte sich ihr Lachen nun nicht mehr verkneifen.

»Also Aljoscha, du hast es gehört. Du sollest lieber schnel tun was sie sagt, denn sonst ist sie bald auch DEINE Verflossene.« Sie spielte dabei auf Florians Liason mit der Blondine an. Anna verhalf der ohnehin skurrilen Situation nun zum Höhepunkt. Aljoscha sah sie ziemlich aufgebracht an. Seine Miene versäuerte sich plötzlich. Ihr Kommentar hatte jetzt wohl seinen männlichen Stolz angekratzt. Mit hochgezogener Augenbraue fragte er sie, ob sie noch mit ihrem Gärtner liiert wäre. Da er Anna gut kannte wusste er genau, wo ihr wunder Punkt lag und hatte ihn offenbar direkt getroffen.

»Zieh ab Aljoscha, deine Audienz ist hiermit beendet.« Er grinste und sah mich an. Irgendwie tat er mir zu allem Übel nun auch noch irgendwie Leid. Ich hatte noch viel zu starke Gefühle für ihn, das wurde mir immer mehr bewusst.

»Tja, schade, dass aus uns nichts geworden ist, Emelie.« Um in dieser Situation seinen männlichen Stolz zu retten, musste er mir nun zu allem Übel auch noch weh tun. Na, Danke. Jetzt wollte er sehen, wieviel er mir noch bedeutete.

»Aljoscha, um ehrlich zu sein, bin ich ganz froh darum. Wir haben damals die richtige Entscheidung getroffen und ich bin mittlerweile sehr glücklich. Sowohl beruflich als auch privat«, log ich. Im Nachhinein war ich stolz auf meine Äußerung. Aljoscha erhoffte sich scheinbar wirklich eine ganz andere Antwort. Er schaute mir nämlich lange und tief in die Augen, als wollte er dabei ergründen, ob ich das gerade Gesagte wirklich ernst meinte. Ich konnte förmlich spüren, dass ich ihm auch nicht egal war und ihm gar nicht gefiel, was er gerade gehört hatte. Dann presste er seine Lippen zusammen und versuchte dabei zu lächeln. Dann schwieg er kurz und schaute noch einmal kurz zu Anna.

»Da ich hier offensichtlich unerwünscht bin, werde ich mal wieder an meinen Tisch gehen.« Er schaute Anna eindringlich an.

»Ja, tu das mal, sonst musst du nicht nur auf die Spaghetti, sondern auch auf deinen Nachtisch verzichten«, giftete Anna. Sie konnte es nicht lassen. Kaum war er weg, hörte man von weitem auch schon die dumpfen Schritte seiner herannahenden Begleitung. Hoch erhobenen Hauptes stolzierte Aljoschas Eroberung an uns vorbei.

»Jetzt weißt du wenigstens, dass er ein kompletter Vollidiot ist. Das hilft bestimmt nachhaltig, um endlich über ihn hinwegzukommen«, versuchte mich Anna zu trösten.

Sie hatte Recht. Obwohl ich Aljoscha sehr gut kannte, war ich endlos geschockt. Was in aller Welt will er mit diesem Weib? Das hätte ich ihm niemals zugetraut. Fürs Bett vielleicht. Aber dass er sich in aller Öffentlichkeit mit ihr zeigen muss, entsetze mich. Und dann auch noch ausgerechnet in meinem Stammcafé. Eigentlich sollte ich froh sein, dass ich ihn mit ihr gesehen habe.

Schnell wechselte ich das Thema.

»Und jetzt zu dem was ich dir unbedingt erzählen wollte: Ich war letzte Woche bei der Testamentseröffnung meiner Großtante.« Anna schaute mich erwartungsvoll an. Ihre graugrünen Augen waren weit aufgerissen.

»Ja und? Was kam dabei heraus? Die muss doch wahnsinnig vermögend gewesen sein, oder!?«

»Nur weil sie auf einem Schloss gelebt hat und einen Adelstitel trug, heißt das noch lange nichts. Und die von Degensteins waren auch niemals wirklich sonderlich vermögend. Also kurzum: Da ist nicht viel Bares mehr zu vorhanden.«

Meine Großtante Salborgh hatte nach dem Tod meines Großonkels vor drei Jahren fast ihr gesamtes Vermögen für das Engagement in sämtlichen Tierschutzvereinen der Bundesrepublik ausgegeben. Die übrigen Ersparnisse flossen in die Taschen ihrer zahlreichen Liebhaber. Schloss Hohenfels war mittlerweile schwer heruntergekommen und sanierungsbedürftig. Friedrich hatte sein ganzes Leben über gespart und sein Geld nur für Reisen und Bücher ausgegeben, während Salborgh dafür sorgte, dass das Vermögen der Beiden schnell den Besitzer wechselte. Mein Großonkel verbrachte die meiste Zeit im Museum und forschte. Obwohl er längst pensioniert war und seine Lehrtätigkeit an der Uni schon Jahre zuvor eingestellt hatte, erfüllte ihn sein Beruf im Landesmuseum sehr. Friedrich war ein ausgeglichener und zufriedener Zeitgenosse. Immerhin hatte er sich selbst verwirklicht und führte ein Leben lang seine Berufung aus. Er war eremitierter Professor der Ägyptologie. Leider war ich nur ein paar Mal in meinem Leben bei den Beiden zu Besuch gewesen. Nicht zueltzt, weil meine Mutter kein besonders gutes Verhältnis zu dem adligen Teil unserer Verwandtschaft hatte. Meinen Großonkel umgab immer eine mysteriöse Aura. Er war ein hochintelligenter Mann und er interessierte sich für alles Geheimnisvolle und Verborgene. Da kam er genau nach Wilhelm.

»Das Schloss steht doch sicherlich noch voller Schätze von Wilhelms zahlreichen Forschungsreisen und alleine die ganzen wertvollen Relikte und Bücher, die er besaß«, meinte Anna aufgeregt.

Wilhelm war der Vater von Friedrich. Also mein Urgroßonkel. Er war ebenfalls Archäologe und im Gegensatz zu seinem Sohn, der von offizieller Seite oft nur als Pseudowissenschaftler und Spinner abgetan wurde, erlangte er durch zahlreiche bedeutende Entdeckungen und Übersetzungen von Hieroglyphen Ende der 1890er Jahre ziemlichen Ruhm. »Ich habe mich vergangene Woche lange mit meinen Eltern beraten, ob ich die Erbschaft nicht ausschlagen soll. Salborghs Konten sind alle so gut wie leer und möglicherweise bürge ich mir damit nur eine Menge Ärger auf. Aber ich fahre nächste Woche mit meinem Vater nach Steinau und schaue mir das Schloss an. Ein paar wertvolle Gegenstände liegen sicher dort.«

»Na, dann wünsche ich dir schon mal viel Erfolg.«

»Trinken wir noch eine?«

»Ja, ich bestelle uns noch zwei an der Bar. Ich muss ohnehin auf Toilette.« Auf dem Weg zu den Toiletten ließ ich meinen Blick über die Wände gleiten. Pino hatte es wirklich übertrieben mit seinen Urlaubsbildern aus Malaysia. Schließlich hieß sein Café Laos und nicht Malaysia. An der gesamten Wand prangten nun diverse Strand- und Landschaftsaufnahmen seiner letzten Urlaubsreise. Zwanzig Quadratmeter fleckige und abgestoßene Strukturtapete voller Urlaubsimpressionen. Er hätte besser mal neu gestrichen, dachte ich mir insgeheim. Als ich die ersten Stufen der Wendeltreppe nach unten zur Toilette genommen hatte, vibrierte plötzlich mein Handy: Papa mobil.

»Hi Daddy! Was gibt's denn?«

»Hallo Emie! Du wirst es nicht glauben: Ich habe eben einen Anruf von Frau Schreiber erhalten, der Nachbarin von Tante Salborgh. In den frühen Morgenstunden wurde im Schloss eingebrochen

»Waaas?« Ich traute meinen Ohren nicht Recht.

»Ja, der Sohn von der Schreiber konnte die Einbrecher beobachten, als er kurz vor vier Uhr morgens auf der Toilette war. Von deren Badfenster aus kann man nämlich den Vorpark des Schlosses ziemlich gut einsehen. Er hat dort zwei dunkle Gestalten beim Abhauen beobachtet. Das Komische ist nur, dass die bei ihrer Flucht nichts mit hinaus genommen haben. Zumindest hat er nichts bei ihnen gesehen, solange er sie beobachten konnte. Die sind auch nur mit einem Kleinwagen dort vorgefahren. Die Polizei hat jetzt die Ermittlung aufgenommen.« »Dann wurden sie wohl gestört oder es gab nichts zu holen.«

»Nein. Das ist ja das Eigenartige. Matthias, also der Sohn von der Schreiber meinte, seine Frau wäre um zwei zur Backstube gefahren und hätte beim Verlassen des Hauses beobachtet, wie ein alter schwarzer Kadett ohne Nummernschild an ihr vorbei durch die Allee gefahren wäre. Der Wagen ist dann aber gleich in die Seitenstraße eingebogen. Die Einbrecher wollten natürlich keine Zeugen haben. Sie war wohl auch schon spät dran und ist dann zur Arbeit gefahren, ohne sich weiter Gedanken darüber zu machen . Aber Matthias hat später genau diesen Wagen im Vorpark hinter den Büschen stehen sehen. Verstehst du Emie? Die könnten fast zwei Stunden im Schloss gewesen sein. Das Chaos in Friedrichs Räumlichkeiten spricht zumindest dafür. Ich habe vorhin auch mit der Polizei telefoniert. Die Einbrecher haben nicht mal die teure Stereoanlage oder die Gemälde mitgenommen und auch Salborghs Schmuckschatullen waren unangetastet. Ich frage mich also, was die dort gesucht haben.«

»Schon seltsam.« »Wir müssten da später noch hinfahren. Kommst du so gegen sieben?«

»Ja, klar. Ich bin dann um sieben da.«

*

Nachdem Aljoscha samt blonder Begleitung relativ bald wieder das Laos verlassen hatten, verbrachten Anna und ich, trotz des Anrufs meines Vaters, noch einen sehr schönen Nachmittag. Wir verabschiedeten uns später auf der Straße vor meinem Auto. Als ich eingestiegen war und den Schlüssel in der Zündung gedreht hatte musste ich wieder an meine Erbschaft und den Einbruch denken. Warum in aller Welt hatte Salborgh ausgerechnet mir dieses Uraltschloss vererbt? Sämtliche Anbauten dürfen nicht mehr betreten werden, weil sie einsturzgefährdet sind und zudem steht mehr als die Hälfte davon unter Denkmalschutz. Der große Weinkeller unter dem Westflügel ist total verschimmelt und von außen ist das Schloss seit Wilhelms und Agathes Hochzeit in den Zwanzigern nicht mehr renoviert worden.

Ich mochte Salborgh und Friedrich immer sehr gerne. Das haben sie wohl gespürt, wenn wir zu Besuch waren. Meine Mutter wurde von den von Degensteins jedoch seit jeher gemieden, weil sie aus eher bescheidenen Verhältnissen stammt. Daran trug natürlich Salborgh selbst keinerlei Schuld. Allerdings benahm sich meine Urgroßtante Agathe damals vor der Hochzeit meiner Eltern meiner Mutter gegenüber so ekelhaft, dass Mama sich geschworen hatte, das Schloss nicht mehr zu betreten. Auch nach Agathes Tod, vor fünfzehn Jahren, zog es meine Mutter nie mehr dorthin. Friedrich und mein Vater hatten nur sporadisch, aber nie regelmäßig Kontakt. Mein Vater mochte Salborgh nicht sonderlich, weil sie Friedrichs Geld mit ihren viel zu jungen Liebhabern verprasste. Sie und Friedrich führten seit mehr als dreißig Jahren nur noch eine Lebensgemeinschaft. Zeitweise wohnte sogar Eduard, Freiherr von Ketelhodt, Salborghs langjähriger Geliebter mit ihnen im Schloss. Friedrich hatte sich damals dann kurzerhand auf dem Dachboden einquartiert. Es schien ihm förmlich gleichgültig zu sein, was seine Frau trieb. Entweder hatte er sie nicht aus Liebe geheiratet oder er war viel zu vertieft in seine Forschungen. Zwar war er zeitlebens ein Sparfuchs, aber dennoch investierte aber in seine Bibliothek und seine Reisen ein kleines Vermögen. Ich war nur als Kind einige Male oben in seinem Reich. Schon damals war ich beeindruckt von seinem Sammelsurium an antiquarischen Büchern und den vielen Landkarten, Schrifttafeln und Gerätschaften die er auf Dachboden hatte. Nun war ich doch sehr gespannt, das Schloss nach so langer Zeit wieder zu betreten.

Zuhause angekommen, erwartete mich meine aufgelöste Mutter schon im Flur.

»Wo bleibst du denn Emelie? Dein Vater wird schon ungeduldig. Ihr wolltet doch um sieben los.« Mein Vater schien mich gehört zu haben und kam förmlich aus dem Wohnzimmer in den Hausflur geschossen.

»Ach, da bist du ja endlich! Fahren wir?« Er stand wohl ziemlich unter Strom und blickte mich jetzt sichtlich gelöst an. Meine Pünktlichkeit schien er nach einem Treffen mit Anna nicht erwartet zu haben.

»Ja, ich hole nur noch schnell meine Sachen. Dann können wir auch schon starten. Ich beeile mich.« Ich rannte die Treppe nach oben in mein Zimmer und stopfte schnell noch ein Tütchen Pfefferminzpastillen und Tampons in meine Tasche. Schnell wollte ich mich auf den Weg ins Erdgeschoss machen. Als ich aus meiner Zimmertür getreten war, bekam ich plötzlich das Gespräch meiner Eltern mit und entschied mich, dort einen Moment zu verharren, um das Gespräch kurz zu belauschen. Sie bemühten sich sehr leise zu sprechen, aber ich konnte sie dennoch verstehen.

»Theo, ich mache mir wirklich Sorgen. Was die Einbrecher dort nur gesucht haben? Du weißt schon, dass Friedrich damals sehr ausgiebig unter dem Gizehplateau geforscht hat und dass renommierte Archäologen ständig versucht haben, ihm Steine in den Weg zu legen. Er ist im Alleingang bis in die große Kammer unter der Sphinx vorgedrungen. Vielleicht besaß er aus dieser Zeit irgendwelche geheimen Dokumente, die nicht an die Öffentlichkeit gelangen sollten. Und zudem könnte er noch Funde von dort unten oder von den Forschungen in der Cheopspyramide besitzen. Wir beide wissen ja, warum er resignierte und ins Landesmuseum gegangen ist,« zischte sie nun fast unverständlich leise.

Sie war voller Sorge und versuchte eindeutig, meinen Vater dazu zu bringen, mir das mit dem Antritt des Erbes wieder auszureden.

»Ja, Schatz und wahrscheinlich war er auch Mitglied eines Geheimordens und ist im Besitz der Büchse der Pandora.« Mein Vater hatte einen fast spöttischen Unterton. Schnell versuchte er meine Mutter zu beschwichtigen.

»Also Schatz, ich finde wir sollten das mal alles etwas rationaler betrachten. Emie hat doch wirklich nichts zu verlieren. Es kam bei dem Einbruch offenbar nichts weg und wir werden uns das Ganze jetzt gleich einmal vor Ort ansehen. Ich würde vorschlagen, du machst es dir jetzt mal mit einem Weinchen auf dem Sofa gemütlich.«

»Theo, aber sieh' doch mal was jetzt alles auf Emie zukommen würde. Das ganze Schloss muss doch komplett entkernt und saniert werden. Hinzu kommt, dass die Gemäuer auf 7900 Quadratmeter verwildertem Schlosspark stehen. Und dann denk doch bitte mal an die ganzen denkmalgeschützten Anbauten, die nicht mal mehr begehbar sind, weil sie alle einzustürzen drohen. Das ist doch alles in diesem Zustand überhaupt nicht zu veräußern. Wahrscheinlich macht das Ausräumen viel mehr Arbeit als das Ganze wert sein wird und die ganzen Steuern, die man als Eigentümer zu entrichten hat. Der Grundbucheintrag und die Notarkosten. Das sind doch alles enorme Summen. Von dem Vermögen der Beiden ist doch sicher nichts mehr übrig geblieben. Von was soll Emie das denn alles bezahlen?«

Ich ging die Treppe hinunter, um mich in das Gespräch einzuschalten. Papas Miene sah sehr nachdenklich aus. Meine Mutter sah ihn eindringlich an. »Ich war ja von Anfang an dagegen, Theo.«

»Rita, wir machen da jetzt das Allerbeste draus. Du kennst mich. Wir bekommen das schon hin. Jetzt gibst du mir mal einen Kuss und dann müssen wir wirklich los. Emelie, bist du soweit?«

*

Nach zwei Stunden Autofahrt, von denen wir gut eine im Feierabendstau verbracht hatten, erreichten wir endlich die Allee. Es war schon stockdunkel. Die Straßenlaternen leuchteten und ließen einen das Schloss schon von weitem erkennen. Wir parkten am Gehsteig vor der Schlossmauer uns gingen die letzten paar Meter zu Fuß. Ich verspürte eine leichte Aufregung, die sich durch ein Kribbeln in meinem Bauch bemerkbar machte. Was uns im Schloss nur erwarten würde? Ich hoffte sehr, dass wir in den Räumen ein nicht allzu großes Chaos vorfinden würden. Von der Straße aus konnte man trotz der diesigen Beleuchtung erkennen, wie heruntergekommen das Schloss wirklich war. Es glich fast einer Schlossruine. Hoffentlich sieht es innen nicht so heruntergekommen aus, dachte ich mir. Der ganze Park um Schloss Hohenstein war verwildert. Hohe Büsche und Unkraut umzäunten das Gebäude soweit man blicken konnte. Das große gusseiserne Eingangstor zum Grundstück war trotz des Einbruchs in der letzten Nacht unbeschädigt geblieben. Es stand sperrangelweit offen.

*

Der schwere, muffige Geruch in der Galerie erinnerte mich an den schlecht gelüfteten Gewölbekeller unter dem Haus meiner Großeltern. Das Atmen hier fiel schwer. Wir sahen uns um. An den stattlich hohen Wänden, die über der Holzverkleidung mit hellblauer Ornament-Stofftapete tapeziert waren, prangten die lebensgroßen Portraits sämtlicher Ahnen von Salborgh und Friedrich. Friedrichs Urahnen hatten fast durchweg sehr helle Haut. Die meisten waren weißblond oder rothaarig. Friedrich fiel mit seiner nordischen Erscheinung nicht aus der Reihe. Die filigranen Gesichtszüge und die flache Nase hatte schon sein Urgroßvater. In der Mitte der Galerie stand Salborghs Flügel. Mein Blick fiel sodann auf die dunkelbraune Jugendstilkommode. Alle fünf Schubladen waren aufgezogen. Ich schritt heran, um mir das Chaos aus der Nähe zu betrachten. Auf dem hellen Fischgrätparkett lagen massenweise durchwühlte Dokumente. Darunter auch drei Sparbücher verschiedener Banken. In der oberen Schublade befand sich Salborghs unangetastete Schmuckkassette.

»Jetzt erkläre mir doch bitte mal, warum die den Schmuck nicht mitgenommen haben! Was haben die hier nur gesucht?«

»Tja, wenn wir das wüssten. Vielleicht hat Mama ja doch Recht. Ich habe vorhin zuhause zufällig euer Gespräch mitbekommen.« »Ehrlich gesagt halte ich die Mutmaßungen deiner Mutter auch nicht für ganz abwegig, aber ich wollte sie vorhin einfach beruhigen. Rita macht sich ja mittlerweile die größten Sorgen.«

»Aber du weißt ja auch, dass sie gerne ein bisschen übertreibt.«

Mein Vater schaute mich plötzlich etwas gequält an und legte mir seine Hand auf die Schulter.

»Kind, ich muss dir was gestehen. Ich habe euch etwas verheimlicht...«





Ewiger Frühling

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