Читать книгу Psychisch krank - Alina Schadwinkel - Страница 2
Vorwort: Deutschlands kranke Seele Ob psychische Erkrankungen häufiger werden, ist schwer zu messen. Fest steht, dass mehr Menschen sie erkennen und Hilfe suchen. ZEIT ONLINE widmet dem Thema eine Serie.
VON DAGNY LÜDEMANN UND JULIA VÖLKER
ОглавлениеBurnout, Depression, Angstattacken – selten hat man in Deutschland so offen über seelische Leiden gesprochen wie seit ein paar Jahren. Überlastung erkennen, Stress abbauen, sich Auszeiten nehmen, zum Psychologen gehen – all das ist heute gesellschaftsfähiger denn je.
Gleichzeitig entsteht der Eindruck, immer mehr Menschen seien psychisch krank, vom gesellschaftlichen Leistungsdruck überfordert, aufgerieben zwischen Familie und Beruf, rastlos und gestresst bis zum seelischen Kollaps. Der Fall Gustl Mollath hat zudem die Debatte darüber neu entfacht, wann ein Mensch per Definition und per Gesetz krank ist – und inwieweit Gutachter und Ärzte durch ihre Diagnosen über das Schicksal eines einzelnen entscheiden dürfen.
Was es heißt "psychisch krank" zu sein, wissen trotz Aufklärung und öffentlicher Debatte noch immer wenige. Deshalb widmet ZEIT ONLINE in den kommenden Wochen diesem Thema eine Serie.
Alarmierende Zahlen
Studien belegen, dass seit Jahren die Zahl derer steigt, die sich wegen psychischer Störungen krankschreiben lassen oder in Frührente gehen. Jede achte Krankschreibung hat mittlerweile diesen Hintergrund, meldet die Krankenkasse DAK – ein Anstieg von 74 Prozent seit 2006. Mehr als vier von zehn Menschen, die in Frührente gehen, geben als Grund psychische Leiden an, wie Berichte der Deutschen Rentenversicherung belegen.
Auch die Krankheitskosten für psychische und Verhaltensstörungen steigen stetig an. Mehr als 28 Milliarden Euro pro Jahr machen sie in Deutschland aus – gut zehn Prozent der jährlichen Gesundheitskosten. Damit stehen sie an dritter Stelle, direkt hinter den Herz-Kreislauf- und Magen-Darm-Erkrankungen. Auch Arbeitsausfälle und Berufsunfähigkeiten aufgrund psychischer Krankheiten nehmen zu.
Eine Untersuchung des Robert Koch-Instituts (RKI) ergab sogar, dass im Jahr 2011 jeder dritte Bundesbürger unter mindestens einer psychischen Störung litt. Das hieße: Jeder Deutsche wäre im Leben mindestens einmal direkt oder indirekt über Verwandte und Freunde mit einer seelischen Erkrankung konfrontiert.
Glaubt man den Studienergebnissen, sind vor allem junge Menschen anfällig – allen voran die 18- bis 35-Jährigen. Mehr Druck in der Schule und während der Ausbildung, eine Verdichtung der Arbeit tragen dazu womöglich bei, meint Leonore Julius, Geschäftsführerin des Bundesverbandes der Angehörigen psychisch Kranker (BApK).
Der Leiter der RKI-Studie, Hans-Ulrich Wittchen, sieht neben diesen äußeren Einflussfaktoren auch Unterschiede in der Gehirnstruktur als Ursache: "Das 'reifende Gehirn' des jungen Menschen ist anfälliger, denn Kinder und Jugendliche haben oft noch keine Schutzmechanismen ausgebildet, um Entwicklungs-, Reifungs- und psychosoziale Krisen erfolgreich zu bewältigen."
Eine Frage der Definition
Wird die kranke Seele also zu Deutschlands beherrschender Volkskrankheit? Oder entsteht durch die intensivere und öffentliche Beschäftigung damit nur der subjektive Eindruck, das Problem nehme zu?
Diese Frage wissenschaftlich zu beantworten, ist extrem schwierig. Denn je nachdem, was als Krankheit definiert wird und was nicht, fallen Studien zur Häufigkeit psychischer Störungen sehr unterschiedlich aus – selbst dann, wenn Statistiker versuchen, diese Effekte herauszurechnen.
Die RKI-Forscher haben in ihrer Erhebung zum Beispiel Suchterkrankungen, Phobien und leichtere Formen der Depression – wie etwa die Dysthymie – erfasst. Man sollte ihre Zahlen also nicht so missverstehen, dass jeder dritte Deutsche etwa schwer psychotisch sei.
Darüber, was als Krankheit gelten soll, debattieren Psychiater weltweit wieder heftig, seitdem die US-Psychiatervereinigung – die American Psychiatric Association (Apa) – die geplante Überarbeitung der Bibel ihrer Zunft präsentiert hat: Das Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM-5). Die Neuauflage dieses Werks erfasst viele Auffälligkeiten als behandlungsbedürftige Krankheiten, die bisher nicht dazu zählten.
Millionen Gesunde würden damit über Nacht zu Kranken gemacht, warnen Kritiker. Befürworter wollen dagegen erreichen, dass mehr Menschen geholfen wird, die bisher durchs Raster fallen. Ohne eindeutige Diagnose gibt es für sie nämlich weder einen Therapieplatz, noch zahlen Krankenkassen dann die Behandlung.
Burnout gibt es offiziell gar nicht
Das zuletzt viel beschriebene Burnout-Syndrom etwa ist offiziell in Deutschland nicht als Erkrankung anerkannt. Meist ähneln die Symptome aber denen einer Depression oder Angststörung. Ärzte stehen dann vor der schwierigen Aufgabe, abzuschätzen, ob jemand in Folge starker Überlastung nur eine Zeit lang niedergeschlagen, antriebslos, verängstigt und lethargisch ist – oder ob hinter diesen Warnsignalen eine harte Depression steckt, die medikamentös und mit einer längeren Psychotherapie behandelt werden muss.
Für Deutschland sind die DSM-5-Richtlinien aus Amerika ohnehin nicht bindend. Nach welchen Kriterien Ärzte hierzulande psychische Krankheiten diagnostizieren, regelt die International Classification of Diseases in seiner zehnten Auflage, kurz ICD-10. Die Weltgesundheitsorganisation WHO gibt diesen Katalog heraus.
Die Häufigkeit der psychischen Krankheiten statistisch genau zu erfassen, ist auch deshalb schwierig, weil es keine scharfe Trennlinie zwischen ihnen gibt, viele Symptome sich überschneiden und die Krankheiten häufig in Kombination auftreten. Wie stark der einzelne leidet und wie dringend er medizinische Hilfe braucht, sagen die Zahlen ohnehin nicht aus: Der Schweregrad, etwa einer Depression oder einer Phobie, kann extrem unterschiedlich sein, genau wie der Leidensdruck zweier Patienten mit derselben Diagnose.
Gut möglich, dass die Zahlen vor allem deshalb steigen, weil das öffentliche Bewusstsein gewachsen ist und mehr Menschen ihr Problem erkennen und sich trauen, damit zum Arzt zu gehen. "Allein, dass die Leute informierter sind und ihnen überhaupt der Gedanke kommt, dass es sich um etwas Psychisches handeln könnte, ist ein großer Zugewinn," sagt Leonore Julius vom BApK.
Wer Hilfe braucht, muss lange warten
Allerdings bedeutet das nicht, dass jeder, der Hilfe braucht, sie auch bekommt. "Wir gehen davon aus, dass nur jeder dritte bis zweite, der schwer betroffenen psychisch Kranken tatsächlich eine Therapie erhält", sagt Leonore Julius.
Gründe dafür sind lange Wartezeiten auf Klinikplätze und auch auf ambulante Gesprächstherapien: "Die Wartezeiten haben sich in den letzten Jahren nochmals verlängert, vor allem im stationären Bereich", sagt sie.
Sogar auf eine ambulante Psychotherapie müssen Betroffene zum Teil drei bis neun Monate warten – fatal für diejenigen, die nach einem Klinikaufenthalt keine Anschlussbehandlung bekommen. "Das wäre so, wie wenn man einem Patienten nach einer Hüftoperation anbieten würde, die begleitende Rehabilitation und Physiotherapie erst ein halbes Jahr später zu beginnen", sagt Julius. Rückfälle bei Menschen mit Depressionen und vor allem mit einer akuten Psychose seien da nahezu programmiert.
Nicht immer scheitert die Behandlung an den fehlenden Therapieplätzen. "Oft zögern auch die Betroffenen davor, sich einen solchen zu suchen, aus Angst vor der Stigmatisierung oder vor der Therapie selbst", sagt Julius. Die Stigmatisierung von psychisch Kranken nehme zwar insbesondere in den letzten zehn Jahren ab – das könnte sie nach vielen Jahren als Angehörigenberaterin feststellen. Jedoch könnten oder wollten bis heute viele Menschen nicht erkennen, dass sie psychisch krank sind. Sie hielten ihre Symptome für normal oder für einen Teil ihres Charakters – zum Selbstschutz oder aus Unwissenheit.