Читать книгу Eine verborgene Welt - Alina Tamasan - Страница 6
Tanz am Feuer (Mès-mès-m!-òrit)
ОглавлениеDas Licht drang nur spärlich durch die Blätter der Bäume. Eigentlich wäre es an der Zeit, bis zum Anbruch des nächsten Tages eine Rast einzulegen. Aber Retasso wollte nicht. Von einer inneren Unruhe getrieben ging er weiter, denn er fühlte, dass es bis zu Pythera nicht mehr weit war. So beschleunigte er seinen Schritt und versuchte, die unheimlichen Geräusche, die von allen Seiten zu ihm drangen, zu ignorieren.
„Ich gewöhne mich an vieles, aber daran niemals“, murmelte er leise. Retasso hielt inne und richtete seine Ohren auf. Rings um ihn herum raschelte das Laub auf dem Waldboden. Dabei konnte er kaum unterscheiden, ob diese Geräusche nun von einem Vogel, einem Reh oder gar einem Wildschwein stammten, derer es in den Wäldern des Westens viele gab. Oh, dieses Fiepen und Nagen, das scheinbar von überallher gleichzeitig zu kommen schien.
„Das sind Mäuse“, redete er sich gut zu. „Ich bin doch keine Memme, bin in allen Teilen der Erde gewesen, bin überall heil durchgekommen.“ Und doch … – Er wusste, warum er sich so fürchtete. Es waren weder das Fiepen und Nagen noch das Rascheln des Laubs, das ihn erschauern ließ. Seine größte Angst war es, einem Wildschwein zu begegnen. Er hatte noch nie eins gesehen, nur ihre Wühlspuren erkannt, aber die Horrorgeschichten, die ihm seine Mutter als Kind über die angeblich schlimmsten aller Biester erzählt hatte, saßen ihm tief in den Knochen. Als er gerade in Gedanken seine Mutter schalt, sah er etwas in der Ferne: die Lichter von Iàtranür Tarà4. Vielleicht hatten die Leute dort gespürt, dass er kommen würde, sie schienen alle noch auf zu sein.
„Pythera muss es ihnen geweissagt haben“, murmelte der Gniri. „Hoffentlich sehen sie die Flecken auf meiner Kleidung nicht.“ Mit seinen dunkelbraunen Augen beäugte er sich skeptisch. „Ach, und die Geschenke, ich habe wohl niemanden vergessen …“ Er sah wieder zu den Lichtern und stellte verblüfft fest, dass sich dort inzwischen eine ganze Traube gesammelt hatte. ‚Immer diese riesigen Empfänge, als würde ein F…‘ – Retasso blickte lächelnd in die neugierigen Gesichter, die ihn aufmerksam musterten. Frauen und Männer standen am Wegesrand. Manche gaben ihm die Hand, andere schauten misstrauisch drein. Retasso wusste, dass nicht alle aus Pytheras Volk ihn mochten, vor allem weil man munkelte, er hätte Kontakt zu Menschen. Aber die Kinder liebten ihn, auch jene, die zum ersten Mal seinen Besuch erlebten.
„Retasso, Retasso, was hast du uns mitgebracht? Wo warst du? Was hast du erlebt?“, fragten sie, während sie ihre kleinen Hände nach den Geschenken ausstreckten, die er aus seinem großen Rucksack zog.
„Oh, Ùiuur, du bist aber groß geworden seit ich das letzte Mal hier war“, staunte er über einen schlanken Knaben, der ihn freudig anstrahlte. „Hier, das ist für dich! Du wolltest doch immer eine Flöte haben.“ Der kleine Gniri bekam glänzende Augen.
„Danke, danke!“, rief er und rannte sogleich zu seinen Eltern, um ihnen die Kostbarkeit zu zeigen. Retasso blickte ihm lächelnd nach. Als der Knabe eilig aus der Menge verschwand, streifte er versehentlich einen jungen Mann, der etwas im Abseits stand. Retasso erkannte ihn sogleich: Es war Pytheras Schüler Rangiolf. Er war zwar ein wenig älter geworden, ansonsten hatte er sich jedoch kaum verändert.
‚Wahrscheinlich ist er noch genauso neugierig auf Menschen wie eh und je‘, dachte er, während er ihm freundlich zunickte. Rangiolf lächelte und erwiderte den Gruß. Dann trat er zur Seite, denn Pythera war gekommen.
„Retasso, mein Freund, wie schön dich zu sehen“, rief sie aus, rannte auf ihn zu und nahm ihn herzlich in die Arme.
„Ja, meine Liebe! Ich dachte, ich komme dich wieder besuchen. Es ist schon lange her, nicht wahr?“ Er drückte sie an sich und wollte sie vor Freude nicht mehr loslassen. „Ich muss gestehen, ich habe dich wirklich vermisst“, flüsterte er.
„Komm“, sagte Pythera laut und löste sich lächelnd aus seiner Umarmung. „Lass uns zum Platz gehen, wir haben ein Fest vorbereitet …“
„Woher wusstest du, dass ich komme?“, fragte der Gniri verwundert.
„Ein kleines Vögelchen hat es mir zugeflüstert“, antwortete Pythera mit einem Seitenblick auf Rangiolf, der immer noch an derselben Stelle stand und sie aufmerksam beobachtete. „Übrigens, weißt du schon das Neueste? Mein Schüler hat seine Ovatenweihe erhalten!“
„Das sind ja gute Nachrichten“, rief Retasso aus, derweil er Rangiolf nicht aus den Augen ließ.
Rangiolf kannte Retasso kaum, aber er mochte seinen Ovatenkollegen und suchte, wann immer es ging, das Gespräch mit ihm. Auch jetzt verlangte es ihm danach, doch er wusste, dass er nicht einfach ungefragt in andere Gespräche hineinplatzen durfte. Er hielt nach Finilya Ausschau und als er sie im Festgetümmel erkannte, rannte er zu ihr.
Der Festplatz befand sich auf der Lichtung inmitten von Pytheras Eichenhain. Dem Ortskern eines Dorfes gleich fanden hier allerlei Zusammenkünfte statt, in schwierigen Zeiten versammelte und beriet man sich hier. Heute war ein helles Feuer entfacht und rundherum lagen Matten ausgebreitet. In den Zweigen der Bäume hingen bunte Lampions und die Luft war erfüllt vom würzigen Duft delikater Speisen und schmackhaften Branntweins.
„Komm, mein Lieber, setz dich!“ Die Heilerin wies auf einen freien Platz, der zwar nah am Feuer aber abseits des Trubels lag. „Du hast sicher Hunger. Wahrscheinlich hast du dich die ganze Zeit nur von Feigen ernährt“, lachte Pythera.
„Apropos Feigen“, fiel Retasso ein, „schade, dass Finilya nicht da ist. Ich habe ihr welche mitgebracht.“
„Falls du sie nicht triffst, kannst du sie mir oder Rangiolf geben.“
„Rangiolf? Was hat er mit ihr zu tun? Heiratet er sie etwa?“ Retassos Miene verriet aufrichtiges Erstaunen.
„Tu nicht so, als hättest du es nicht schon von Anfang an geahnt“, sagte Pythera. „So, wie die beiden bei deinem letzten Besuch miteinander geturtelt haben, war das doch vorauszusehen.“
„Wie machen sie das denn mit den Ressourcen?“
„Ich gebe etwas und Rangiolfs Familie auch. Wer mag, kann sich anschließen.“
„Wo werden sie wohnen?“
„Sie werden wohl fortziehen. Ich vermute, Rangiolf hat immer noch diese fixe Idee, seinen Freund Sutia im PARK zu besuchen.“ Als er dieses Wort vernahm, verdunkelte sich Retassos Miene.
„Hätte ich ihm diese Flausen nur nie in den Kopf gesetzt“, flüsterte er und rieb sich müde das Kinn.
„Sein Freund lebte dort schon, bevor du ihm die Bedeutung dieses Wortes erklärt hast“, antwortete die Heilerin schlicht. „Warte auf mich, ich komme gleich wieder.“ Pythera erhob sich und ging zu den ausgebreiteten Matten, auf denen eine große Vielfalt an Speisen drapiert lag. Nach kurzer Zeit kam sie mit allerlei Köstlichkeiten beladen wieder. „Schau“, sagte sie, „hier habe ich feinen Schnaps für dich und deine Lieblingsspeise, weiches süßes Riàt. Und die Spezialität des Hauses, Pìrcha-füür.“
„Kiefernrindenkuchen?“ Der Gniri runzelte die Stirn. „Na ja, die Rinde ist nicht giftig, aber sie schmeckt auch nicht besonders, stimmt’s?“
„Probier sie doch einfach, dann wirst du es merken“, lächelte die Heilerin. Sie legte eine der Köstlichkeiten auf ein großes Blatt und reichte es ihm. Retasso schnupperte neugierig daran, dann schob er sich ein Stück in den Mund und kaute bedächtig.
„Nicht schlecht“, er leckte sich über die Lippen, „wie TO-FU bei den Menschen. Wenn man es richtig zubereitet, bekommt es Geschmack.“
„Es gibt wirklich keinen Ort auf dieser Welt, an dem du nicht warst, hm?“ Retasso entging die Wehmut in Pytheras Stimme nicht.
„Ich ahne, was du damit sagen willst“, sagte er ernst. Pythera nickte.
„Ja, genau das. Ich bitte dich, die Druidenweihe anzunehmen.“
„Du kennst meine Meinung dazu“, erwiderte der Ovate trotzig und trank einen Schluck aus der kleinen irdenen Flasche mit dem schmalen Hals. „Ich sehe, du trägst dein schönes Kleid?“
„Retasso, du lenkst vom Thema ab.“ Pytheras bernsteinfarbene Augen ruhten auf ihm.
„Ich müsste mehrere Jahre hierbleiben und dir dienen!“ Er seufzte. „Das ist nicht das, was ich will. Ich … will einen eigenen Schüler. Wie du einen hast. Einen, den ich ausbilden kann, du weißt, es gibt von uns Heilern nicht mehr viele. Was meinst du, warum ich so viel reise?“
„Weil du einen unstillbaren Freiheitsdrang hast, mein Freund“, antwortete die Gniri leise.
„Ah, komm mir nicht wieder damit. Bei unserer Arbeit geht es um mehr als um Bardengesänge oder Heilsteine für Wehwehchen. Wir wollen die Vereinigung der Naturwesen-Völker bewirken, die nur vereinzelt und weit über das Land versprengt leben. Ein vereinigtes Kaiserreich mit großen Königsgeschlechtern? Das war mal!“
„Retasso, das Thema hatten wir schon so oft.“ Bitterkeit schwang in Pytheras Stimme mit. „Wie oft habe ich dich gebeten, hierzubleiben und mir zu helfen? Von allen Herren Völkern kommen Leute zu mir, damit ich diese eigenartige Krankheit heile, die alle befällt. Doch das einzige, was ich tun kann, ist, ihre Schmerzen zu lindern. Manche von ihnen kommen heimlich. Verstehst du? Heimlich! Nur weil irgendein Dhàrdhatsfürst zu hochnäsig ist, um seine Untertanen von einer Gniri behandeln zu lassen.“
„Wenn du ihnen nicht helfen kannst, ist mir das erst recht nicht möglich. Ich brauche einen Schüler, der eine starke Persönlichkeit hat. Es geht mir darum, die Entwicklungen der Zeit zu erkennen und die Menschen wieder an unsere Existenz zu erinnern. Mein Schüler muss sich dafür einsetzen, er soll die Vereinigung der Naturwesenvölker vorantreiben und als Informant für die Menschen fungieren!“
„So-so, als Informant für die Menschen … Hör dich mal reden, Retasso. Du bist ein Tagträumer und Idealist – und ein Sturkopf!“, antwortete Pythera matt. „Wir sind uns doch selbst nicht mal einig, und dann wollen wir zu den Menschen gehen? Du solltest dich lieber um dein eigenes Fürstentum kümmern, das immer noch in der Verwaltung deines Bruders Ìrtha liegt. Oder um die vielen Kranken, die an meine Tür klopfen.“
„Mein Fürstentum“, wiederholte Retasso verächtlich. „Ich bin Fürst und Heiler. Ich dachte, sie würden mich deshalb mehr respektieren und mir besser zuhören. Aber weit gefehlt: Ich schaffe es einfach nicht, sie in ihrem Denken zu beeinflussen. Sie denken immer noch wie vor Tausend Jahren, halten sich für die Krone der Schöpfung, dabei sind sie Gniri, Pythera! Gniri, die einst von Dhàrdhatsfürsten versklavt wurden und nur durch Blut und Krieg ihre Ämter erhielten, die damals der wirklichen Krone der Schöpfung vorbehalten waren. Und nun frage ich dich: Wer ist die Krone der Schöpfung? Der Mensch, der zu Milliarden den Erdball bevölkert? Der Gniri? Oder die spärlichen Überreste der königlichen Dhàrdhatsgeschlechter? – Soll Ìrtha das Ding doch haben.“
„An dem ‚Ding‘, wie du es nennst, hängen aber viele Leben!“
„Pythera.“ Der Gniri sah auf einmal müde und gebeugt aus. „Versteh mich doch.“ Er nahm ihre Hände und sah sie mitfühlend an. „Ich kenne das Problem der Schwarzen Krankheit, aber ich habe noch kein Heilmittel gefunden. Die einzige Rettung, so besagt Namrahìs Prophezeiung, besteht in einer auserwählten Mischkreatur von Mensch und Naturwesen. Sie kann die Schwarze Krankheit heilen, die ja eine Folge des Weltenbruchs ist, der vor langer Zeit bewirkt hat, dass die Menschen uns vergaßen. Nur solch ein Wesen kann die Welten einen und uns den Kontakt zu den Ur-Ahnen im Jenseits wieder ermöglichen. Die Möglichkeit seiner Existenz will ich nicht bestreiten, nur – ich habe so ein Geschöpf noch nicht getroffen. Also suche ich mir einen Schüler und bilde den dafür aus. Das ist mir lieber, als auf eine Fantasiegestalt aus Prophezeiungen zu warten.“
„Ich hätte da einen Vorschlag.“ Pythera nahm einen tiefen Schluck aus der Flasche und sah ihn geradezu an. „Geh nach Fisàr Tarà5. Dort triffst du den jungen Parthion.“
„Parthion?“ Retasso runzelte die Stirn. „Du machst Scherze! Der Kerl ist doch der Sohn der Fürstenfamilie. Seine Eltern wollen ihn auf die Militärakademie schicken. Seine Karriere ist also längst beschlossen!“
„So, ist sie das?“ Die Heilerin hob ihre buschige Augenbraue. „Bei dir war das auch eine beschlossene Sache oder irre ich mich?“
„Was willst du mir vorwerfen?“, blaffte Retasso sie wütend an.
„Gar nichts. Aber bedenke doch, entweder bist schneller dort, als seine Eltern ihn in die Akademie schaffen können oder du wartest 50 Jahre, bis seine Ausbildung dort beendet ist und ergreifst die Chance dann!“
„Schneller dort?“
„Ja, schneller dort!“
„Woher weißt du, dass er mein Schüler werden will?“
„Zweifelst du etwa jetzt schon an deinem Vorhaben? So kurz, nachdem du es ausgesprochen hast?“
„Nein, nein …“ Retasso rieb sich nervös das Kinn. „Aber Parthion? Der wird das nie und nimmer wollen! Ich werde auf keinen Fall den weiten Weg zurücklegen, nur damit er mir ins Gesicht bellt, dass ich mich zum Teufel scheren soll!“
„Aha, dann willst du … wohin genau gehen? Ziellos durch die Weltgeschichte irren? In der Hoffnung, dass dir ein Schüler irgendwann in den Schoß fällt? Außerdem liegt Fisàr Tarà auf dem Weg zu dir nach Hause. – Erinnere dich an deinen letzten Besuch dort.“ Retasso wurde auf einmal ganz still. Bilder nahmen vor seinem inneren Auge Gestalt an.
„Du erstaunst mich immer wieder, Pythera“, sagte er leise, „woher weißt du, was ich dort erlebt habe? Ich habe es dir nie erzählt.“
„Woher ich das weiß, spielt keine Rolle! Glaub mir, Parthion ist ein guter Junge. Er ist verschlossen und etwas wortkarg, aber umso intelligenter und sehr begabt.“
„Als ich das letzte Mal dort war, habe ich am Wasser gesessen und er war dabei. Er hat nichts gesagt, Pythera, immer nur dem gelauscht, was ich anderen zu sagen hatte.“
„Das spricht doch für sein Interesse“, antwortete die Heilerin schlicht. Da musste der Gniri ihr recht geben.
„Ich habe auch schon darüber nachgedacht, ihn zu fragen, und wahrscheinlich würde er auch ja sagen, aber …“, Retasso strich sich nervös über das spitze Kinn.
„Seine Eltern haben nicht mehr Autorität als du, Retasso, und du verfügst über zwei Qualifikationen: der eines Fürsten-Kriegers und der des Heilers. Du kannst den Jungen in beidem unterweisen. Sie können dir also nicht vorwerfen, dass ihr Sohn etwas versäumt, wenn er in deine Lehre tritt.“ Retasso atmete erleichtert auf. Er fühlte sich verstanden.
„Und nun lass uns nicht mehr über Geschäfte reden, sondern feiern! Siehst du die Musikanten dort? Sie warten schon auf uns!“ Die Heilerin kniff ihm zärtlich in die dunkle Wange.
„Du meinst, sie warten auf dich“, grinste er.
„Nein, auf uns!“ Sie zog ihn auf die Beine zu einem Platz nahe am Feuer, und der Tanz begann! Es wirbelten Klänge durch die Luft, die aus merkwürdigen Gebilden aus verschiedenen Naturmaterialien ertönten, die den Instrumenten von Menschen nicht einmal entfernt ähnelten. Nur die Flöte glich der menschlichen. Trällernde Stimmen in gurrendem und hochtönendem Singsang untermalten den archaischen Rhythmus, der die Erde erbeben ließ und trotzdem so leicht dahinflog wie ein Vogel. Die Melodie begann langsam und behäbig und wurde dann rasanter.
Retasso drehte sich mit Pythera im Kreis, bis alles um sie herum wirbelte und die Farben der Umgebung miteinander verschmolzen. Dabei ließ er kein Auge von ihr und sein Herz hüpfte vor Freude. Diese Frau war einfach wunderbar, doch konnte sie sehr unnahbar sein. Dennoch erfreute sich Retasso an den herben Konturen ihres jungen und doch alten Gesichts mit den großen Ohren und den bernsteinfarbenen Augen, die hart wie ein Diamant und sanft wie Honig dreinschauen konnten. Sie war von großem Wuchs. Retasso kannte auf der ganzen Welt keine Gniri mit solch eigentümlich schönem Aussehen. Wie alt sie wohl sein mochte? Er hatte sie nie gefragt.
Pythera spürte seine festen gedrungenen Hände in den ihren, sah sein lockiges schwarzes Haar durch die Luft wirbeln und versank in seinen dunkelbraunen Augen, die sie aus einem feinen Antlitz mit hohen Wangenknochen und dunklen Lippen anschauten. Es war nicht nur der exotische Reiz des dunkelhäutigen Gniri aus Echür Tarà6, der sie so sehr faszinierte, sondern auch seine Weisheit, die aus dem Blick sprach.
Retasso spürte sein Herz schneller klopfen und als der Rhythmus so schnell war, dass alles um sie herum miteinander verschwamm, gab es nur noch sie und ihn. Da er nicht wagte auszusprechen, was er dachte, blieb er stumm und sah sie an wie eine Göttin, die unerreichbar ist und deren Büste man liebt, ohne die reale Person je berührt zu haben.
Pytheras Herz machte einen kleinen Satz, der sich anfühlte wie ein Schluckauf. Sie hatte ihn angesichts seiner Anwesenheit oft verspürt, aber in diesem Augenblick schien er ihr ungleich intensiver.
Die Melodie verstummte und die beiden hielten an. Schweißtropfen standen ihnen auf der Stirn, die Welt um sie herum drehte sich noch ein wenig weiter. Sie hielten sich an den Händen und sahen einander an. Plötzlich bekam ihr Gesicht einen entschlossenen Zug. Ohne zu zögern zog sie ihn fort – fort von dem fröhlichen Fest, durch Wald und über die Wiese, bis knapp an die Grenzen ihres Reichs, dort machte sie Halt. In den Bäumen um sie herum war es totenstill. Sie sah ihn lächelnd an. Retasso spürte ihren hastigen Atem auf seiner Haut, ihre weichen Lippen auf den seinen – und war vollkommen perplex. Als er ihren Kuss erwidern wollte, ließ sie von ihm ab. Ihr Blick bekam etwas Hastiges, ja Ängstliches, und ihre Hände umfingen krampfhaft die seinen.
„Nicht“, sagte der Gniri leise und fuhr ihr mit seiner kleinen Hand sanft über die Wange. „Bitte bereue es nicht. Ich tue es auch nicht. Und …“, er hielt inne und legte seinen Zeigefinger auf den Mund, „meine Lippen sind versiegelt.“ Er nahm die hochgewachsene Frau in seine Arme, sie gab schließlich nach, ließ sich fallen und genoss seine Nähe in stiller Rührung. So standen sie eine Weile ohne etwas zu sagen. Nur der abnehmende Mond war ihr stiller Zeuge.
Rangiolf saß am Feuer und kaute an einem Kiefernrindenkuchen. In der anderen Hand hielt er eine Flasche Schnaps, aus der er ab und an einen Schluck nahm, um die Happen hinunter zu spülen. Finilya war nicht bei ihm. ‚Sie gibt ihren Freundinnen die frohe Kunde unserer Hochzeit bekannt‘, dachte er, während seine hellen Augen den tanzenden Feuergeistern nachjagten, die in den Flammen ihr Spiel trieben. Mit einem Mal schoss ihm Retasso durch den Sinn, er erinnerte sich an den feurigen Tanz, den der mit Pythera hingelegt hatte.
‚So eine weise Frau, aber die Liebe gibt auch ihr Rätsel auf‘, dachte er und schüttelte den Kopf. ‚Ich frage mich, was Leute, die den Weg des Heilers gehen, an sich haben, dass sie sich keine Liebe erlauben? Es ist doch klar, Retasso liebt sie und sie liebt ihn, aber irgendwie … wollen sie und können nicht, und könnten, wenn sie es wollten.‘ Er schob sich das letzte Stück des Gebäcks in den Mund, spülte den Rest Branntwein hinterher und rülpste leise. ‚Wovor haben sie Angst? Sie haben keine Eltern, die dagegen sein könnten! Vielleicht‘, grübelte Rangiolf, während er an seiner Steinkette nestelte, ‚vielleicht ist es ihre Vergangenheit? Oder sein Freiheitsdrang, der es ihnen verbietet, zusammenzukommen?‘ Dann hielt er inne und befragte seine Intuition.
„Wenn ich nur halb so hellsichtig bin wie Pythera, dann habe ich recht!“, murmelte er leise und nickte vor sich hin.
„Womit hast du recht?“, raunte eine bekannte Stimme an sein Ohr. Er schaute auf und sah in Finilyas dunkle Augen.
„Damit, dass ich dich auf einen Tanz entführe“, grinste Rangiolf. Er erhob sich, schnappte ihre Hand und zog sie in das Getümmel.
Pythera löste sich sanft aus Retassos Umarmung.
„Versprich mir, dass du dich schnell auf den Weg machst und schnell wiederkommst“, sagte sie und sah ihn eindringlich an.
„Ich verspreche es“, versicherte der Gniri. „Bis dahin schau, dass du das Beste aus Allem machst, und vor allem, meine Liebe: Bleib wachsam und lass dich nicht entmutigen. Deine Schwester Gàschìwa wird dir nach wie vor keine Hilfe sein. Aber sei gewiss, die Hilfe kommt in deiner verzweifeltsten Stunde, wenn du sie am wenigsten erwartest, und eine Idee solltest du nicht verwerfen, nur weil die Lösung in weiter Ferne zu liegen scheint.“ Pythera senkte den Blick und nickte.
„Ja“, sagte sie leise, „das weiß ich wohl. Ich werde tun, wie du sagst, so gut ich es kann.“ Dann sah sie ihn an und gab ihm einen Kuss auf die Stirn. „Komm, sie werden nach mir suchen.“ Sie wollte eben loslaufen, als Retasso nach ihr griff.
„Was ist?“
„Eines möchte ich noch von dir wissen, es lässt mir keine Ruhe. Wenn ich wiederkehre und die Druidenweihe bekomme, darf ich auf dich hoffen? Auf deine Liebe und deine Hand?“ Er sah sie groß an, in seine Augen trat ein hoffnungsvoller Schimmer. Die Heilerin seufzte leise.
„Ich würde mich und dich betrügen, wenn ich behaupte, ich würde deine Liebe nicht erwidern, mein Lieber“, erwiderte sie schließlich, „nur ist’s, wie du sicher ahnst, für mich nicht einfach, mich darauf einzulassen. Es ist schon lange her, dass ich einem Mann mein Herz schenkte, er ist lange tot.“ Bei diesen Worten füllten sich ihre Augen mit Tränen und Schmerz überzog ihr Gesicht. Auf einmal sah Pythera sehr alt aus und Retasso empfand ein tiefes Mitgefühl für sie, gleichzeitig erkannte er ihre emotionale Offenheit als besonderes Zeichen des Vertrauens. Er nickte ihr dankbar zu und zog sie mit sich durch Wald und Wiese bis vor das große Festfeuer, wo sie auf Rangiolf trafen, der sich vom schwindelerregenden Tanz mit Finilya erholte.
„Du bist doch nicht schon etwa müde“, lachte Finilya und stupste ihn neckisch an der Schulter.
„Oh, Mädchen“, keuchte Rangiolf, „hab’ Erbarmen mit einem armen, alten Gniri!“
„Alt?“ Pythera hob eine Augenbraue. „Wenn du alt bist, dann bin ich so alt wie die Steine von Ereg Bür7.“
„Was für eine Schlucht ist das?“, fragte die junge Frau neugierig.
„Das ist eine uralte Felsspalte, deren Steine von der Witterung so abgewetzt wurden, dass sie dünn sind wie die feinsten Fäden“, antwortete Pythera.
„Und wo liegt sie?“, Rangiolf sah sie neugierig an.
„In einem trockenen Land, mit viel Stein und Wüste“, sprach Retasso an ihrer statt.
„Leben da auch Menschen?“ Der junge Gniri bekam glänzende Augen.
„In der Wüste leben viel weniger Menschen als in gemäßigten Gebieten. Sie brauchen Wasser und Nahrung. Viel mehr als wir.“ Retasso hielt inne und schaute nachdenklich ins Feuer. „Sag mal, Rangiolf“, fuhr er nach einer Weile fort, „spielst du immer noch mit dem Gedanken, deinen Freund im PARK zu besuchen?“
„Du meinst Sutia? Oh, ja!“ Rangiolf nickte und bedachte Finilya mit einem Seitenblick.
„Und du, Finilya, möchtest du ihn dahin begleiten?“ Pytheras Blick ruhte auf ihrem Antlitz.
„Ich gehe überall hin, wo Rangiolf hingeht“, antwortete sie schlicht.
„Bist du denn damit einverstanden, dass er dort hin geht?“
„Ich weiß es nicht.“ Sie sah ratlos in die Runde. „Ich hatte noch nie Kontakt zu Menschen, noch war ich je in einem PAARK, wie Rangiolf das nennt, also kann ich mir kein Urteil darüber erlauben.“
„Hast du Angst?“, fragte Retasso unvermittelt.
„Ja“, antwortete die Gniri wahrheitsgemäß.
„Du brauchst keine Angst zu haben“, versicherte Rangiolf hastig. „Ich bin doch da!“ Mit einem Satz war er bei ihr und nahm sie in die Arme.
„Was erhoffst du dir von deinem Freund?“ Retasso sah zu Rangiolf.
„Na ja, so was wie Welten zusammenführen?“, stammelte er unsicher.
„Es ist keine Schande, nicht zu wissen, wohin der Weg führt, solange man seinem Herzen folgt“, erklärte Pythera milde.
„Doch, doch“, warf Rangiolf ein und rieb sich nervös die Borsten, „natürlich weiß ich, wohin der Weg führt.“ Retasso runzelte die Stirn. Pythera und Finilya schauten Rangiolf dagegen erwartungsvoll an.
„Öhm, also … Welten zusammenführen, die Menschen an uns erinnern … gucken, wie die so sind …“ Je mehr er sagte, desto unwissender fühlte er sich und wäre am liebsten im Boden versunken. Schließlich hüstelte er verlegen – und verstummte sogleich wieder.
„Rangiolf“, sagte Pythera ruhig, „ich möchte euch eine Geschichte erzählen, Retasso kennt sie bereits.“ Retassos Miene verriet Skepsis.
‚Das ist nicht dein Ernst‘, sagte sein Blick, ‚du willst ihnen doch nicht erzählen, dass …‘
„Wie ihr wisst“, begann die Heilerin unvermittelt, „herrscht unter vielen Völkern eine gefürchtete Krankheit. Sie äußert sich durch schwarze Knoten, die mit der Zeit den ganzen Körper befallen, diese Geschwüre schmerzen entsetzlich. Im Laufe von Jahren und Jahrhunderten härten sie aus und werden zu Warzen. Sie tun dann zwar nicht mehr weh, aber sie schränken die Beweglichkeit ein. Nur einer von uns ist je so alt geworden, dass der Körper mit Knoten übersät war. Ihr erinnert euch sicher an S-hafìe.“ Alle außer Finilya nickten. S-hafìe war die älteste Gniri vom Volk der Iàtranür Tarà. Rangiolf und Retasso erinnerten sich gut an die alte Frau, die ihre Liege nicht mehr verlassen konnte.
„Die Krankheit schreitet langsam voran“, fuhr Pythera fort, „es fühlt sich an, als würde man immer mehr verholzen, sagen die Betroffenen. Mit der fortschreitenden Starre verliert man auch die Beweglichkeit im Kopf und im Herzen, man wird zu einem stumpfen Wesen, das weiterlebt, ohne sterben zu können.“
„Wie ist S-hafìe gestorben?“, fragte Finilya.
„Als der Körper vollständig ausgehärtet war, starb sie endlich“, sagte die Heilerin traurig. „Ich konnte ihr nicht helfen. Ich kann keinem helfen, der diese Krankheit hat, und es kommen so viele zu mir, die auf meine Heilkünste hoffen.“
„Man sagt schon lange“, Retasso warf ein Holzscheit ins Feuer, „dass eines Tages eine neue Zeit anbrechen wird, in der die Menschen erwachen. Dann wird ein Wesen auftauchen, das ein Menschen- und ein Kind der Naturwesen zugleich ist. Es wird helfen, die Welt der Ur-Ahnen, unsere und die Menschenwelt wieder zu einen. Nur so kann die Krankheit heilen. Es gibt sie nur, weil die Menschen vergessen haben, dass die Natur beseelt ist, und weil wir uns von den Menschen abgewandt haben. Wir können unsere Ur-Ahnen, aus denen alles Leben hervorgegangen ist, nicht erreichen und sie können uns nicht helfen. Seltsam, dass diese Worte vor dem Bruch der Welten niedergeschrieben wurden, als Warnung. Damals hat niemand auf Namrahì gehört, der ein Gelehrter am Hofe König Fortins war, und dessen Kinder getötet wurden, weil er die Wahrheit gesehen hatte!“ Pytheras Blick wurde dunkel.
„Heute, so stelle ich fest, ist diese neue Zeit da“, hob nun Retasso an. „Es gibt mittlerweile viele hellsichtige Menschen, die unsere Nähe spüren. Manche können uns hören aber nicht sehen, andere erblicken Schemen von uns, können uns aber nicht hören. Mir ist noch keiner begegnet, der beides vermag. Wenn dieses Geschöpf Menschen- und Naturwesen-Kind zugleich ist, könnte es unter den Menschen weilen!“
„Aber“, warf Rangiolf ein, „ein Wesen, das Kind von Menschen und von Naturwesen zugleich ist, müsste doch ein Mischling und recht auffällig von Aussehen und Wuchs sein.“
„Das habe ich zunächst auch angenommen“, sagte Pythera. „Allerdings bin ich mittlerweile zu dem Schluss gekommen, dass das nicht zwingend der Fall sein muss. Vielleicht ist der Naturwesen-Anteil im Herzen. So gesehen könnte es sich um einen äußerlich vollkommen normal aussehenden Menschen handeln. Nur, wo wollen wir ihn finden? Es gibt fast sieben Milliarden Menschen auf der Welt, und sie sind über den ganzen Erdball verstreut. Es ist wie die Suche nach der Nadel im Heuhaufen! Es könnte natürlich auch jemand sein, der wie ein Naturwesen aussieht … – hier stehen wir vor demselben Problem!“
„Wenn es unser Schicksal ist, dass wir diesem Wesen begegnen, wird es so sein“, sagte Finilya. „Irgendeinem von uns wird es begegnen, ohne dass wir nach ihm suchen müssen.“
„Deswegen habe ich aufgehört zu suchen.“ Pythera sah die junge Gniri an und nickte.
„Und doch sollten wir nicht die Hände in den Schoß legen“, erwiderte Rangiolf entschieden. „Ich habe mich zwar damit nur im Kopf beschäftigt, aber wenn wir alle unseren Weg gehen, dann wird uns dieses Wesen begegnen – mindestens einem von uns … Und wenn nicht, dann wird es jemandem anderen begegnen, der seinen Weg hierher findet – oder eben gar nicht!“ Die letzten Worte sprach er mit einem trotzigen Unterton aus. „Vielleicht ist dieses Wesen bei Sutia!“
„Oder auf meinem Weg zu Parthion“, ergänzte Retasso.
„Oder es findet seinen Weg in diesen Wald“, murmelte Pythera. Dann sah sie alle an, hob die Arme und sagte: „Beten wir zur Mutter, dass es so sei.“ – Eine Weile herrschte Stillschweigen.
„Bevor wir uns verabschieden, möchten wir euch zu unserer Hochzeit einladen“, ergriff nun Rangiolf das Wort. Gespannt blickte er in die Runde, dabei sah er besonders Retasso an. Dieser nickte und lächelte.
„Sie ist in drei Tagen, so lange können wir uns für die Vorbereitungen noch Zeit lassen, oder?“, meinte Pythera.
„Wenn ich mit anpacke, müssten drei Tage ausreichen, um eine schöne Hochzeit auf die Beine zu stellen“, fügte Retasso hinzu.
Feste zu feiern, und sei es auch noch so oft, dafür war das Gnirivolk zu haben, und so halfen alle bei der Vorbereitung der Hochzeit mit. Beginnend bei den Bäumen, welche die Elternhäuser von Braut und Bräutigam beherbergten, wurden die Wege bis auf den Festplatz in Pytheras Hain mit bunten Lampions behängt. Jeder einzelne war eine Besonderheit, denn die Gniri besaßen keine Elektrizität und stellten auch keine Kerzen in diese aus hauchfeiner Zellulose gefertigten Behälter. Stattdessen hofften sie, dass sich kleine fliegende Sòumfar dort hinein begeben würden, um ihnen in vielfarbigem Licht zu leuchten.
Die großen Ohren der Gniri hörten viel, doch war es nicht einfach, das Gepiepse eines dieser kleinen Wesen zu verstehen. Aber das war auch nicht notwendig, sie wussten, dass sich umso mehr einfanden, je mehr Freude sie in den Herzen der Gniri spürten. Deswegen beleuchteten sie die Lampions nur zu den Festen, und das umso zahlreicher, je größer die Vorfreude der Leute von Iàtranür Tarà darauf war.
„Ich habe es lange aufbewahrt“, sagte Irukye stolz, derweil sie in einer großen alten Truhe herumkramte. „Mèfai würde Augen machen, mein Kind, aber du bist die älteste, du sollst es haben.“ Dann zog sie ein schlichtes, sehr feines Hochzeitskleid hervor. Es war aus hellblau gefärbtem Material, mit dünnen Trägern versehen und am Rücken frei.
„Vor langer Zeit – ah, meine Güte, ich war noch ein Kind – da kam ein Wandersmann zu uns in den Ort. Er sah sehr arm aus und deshalb haben meine Eltern ihn eingeladen. Wir waren zwar auch nicht reich, aber was wir hatten, teilten wir gern. Er war unser Gast und blieb über Nacht, als er am nächsten Tag ging, sagte er: ‚Dafür, dass ihr so freundlich zu mir wart, möchte ich euch etwas schenken.‘ Er gab uns eine Garnrolle, das Garn der Iàkrafüür8 – es ist sehr wertvoll! Meine Mutter hat daraus dieses Kleid gefertigt, nach Art der hohen Menschenfrauen, allerdings mit einigen Abwandlungen.“ Finilya machte große Augen.
„Woher wusste deine Mutter denn, wie sich die hohen Menschenfrauen kleiden?“
„Sie sah es auf einem Bild. Jemand muss es im Wald verloren haben, meine Mutter fand es. Warte, ich zeige es dir, muss es nur suchen.“ Irukye steckte ihren Kopf wieder in die Truhe und kramte darin herum. Dann hob sie eine kleine, grob gefertigte Holzschatulle empor. „Hier ist sie. Komm her, schau, die hohe Menschenfrau“, sagte Irukye und öffnete den Deckel. Dann hielt sie ihrer Tochter ein kleines abgegriffenes buntes Bildchen hin. „Da steht was … kannst du das lesen, mein Kind?“
„Ähm“, zierte sich ihre Tochter.
„Komm, Kind, ich weiß, dass du die SCHILDS lesen kannst, dann kannst du auch das. Was steht da?“ Finilya kniff die Augen zusammen und versuchte, die Schrift zu entziffern.
„Die Zeichen kenne ich“, murmelte sie, „da steht: MARIA, MUTTER GOTTES.“
„Und was heißt das? Wer ist sie?“
„Sie heißt wohl Mària9“, grübelte die junge Gniri, „MUTTER, das könnte Mathr10 heißen.“
„Und das hier?“ Irukye deutete auf das letzte Wort.
„Hm … Ich weiß nicht, was GOTTES ist, es könnte ein Name sein, wie Mària. Also: Mària, die Mutter von GOTTES. Wenn das, wie du sagst, eine hohe Frau ist, dann muss dieser GOTTES vielleicht ihr Sohn sein. Vielleicht ein hoher Menschenheiler. Und die Menschen ehren sie, weil sie den hohen Heiler geboren hat – so etwas in der Art.“
„Ah, du bist mein schlaues Kind, ja, das bist du“, sagte Irukye und klopfte ihrer Tochter stolz auf die Schulter. „Und nun lass uns dir das Kleid anlegen.“ Finilya runzelte trotz aller Faszination nun doch skeptisch die Stirn. Sie wünschte sich zwar schon lange etwas zum Anziehen, aber sie hatte an einen bunten Rock gedacht. Was sollte sie denn mit diesem Kleid? Die hohe Menschenfrau hatte so eins getragen – durfte sie sich auf dieselbe Stufe mit dieser heiligen Frau stellen? Finilya behagte das nicht, und außerdem: Eine Gniri in einem Menschenkleid sah bestimmt genauso ungewöhnlich aus, wie … wie … die junge Frau dachte angestrengt nach, aber es fiel ihr kein Vergleich ein.
„Was ist? Magst du es nicht?“ Aus Irukyes verhärmtem Antlitz sprach Enttäuschung.
„Doch, Mama, schon. – Aber bedenke doch, ich bin so lange nackt herumgelaufen, dieses hübsche Kleid sieht so eng aus, es zwickt bestimmt – so viel … Garderobe vertrage ich einfach nicht. Hast du nicht einen Rock? Einen schönen bunten Gnirirock?“
„Den bekommst du auch, später! Eure Ehe steht unter dem Segen der Heilerin. Sie ist eine weise Frau, deswegen darfst du auch das Kleid von Mària tragen. Es ist sehr, sehr wertvoll, wie ich schon sagte …“
„Ja, ja, aus Baumwolle – gib her, ich ziehe es an.“
„Wir mussten es etwas korrigieren, also ganz wie das Menschenkleid sieht es nicht aus, weil du ja sehr behaart bist und all das, und die schönen Haare soll man doch sehen, Kind! Auch wenn es mehr sein könnten. Aber das wird ja, spätestens, wenn du ein Kleines auf die Welt gebracht hast … oder im Winter. Du weißt, was ich meine?“, plapperte ihre Mutter aufgeregt. Mit unbeholfenen Bewegungen streifte sich Finilya den Stoff über – und wie sie es befürchtet hatte, es zwickte und ziepte überall. Ihre Brüste fühlten sich in diesem korsettartigen Ding wie abgeschnürt an. Der Rücken war zwar tief ausgeschnitten, aber das täuschte nicht darüber hinweg, dass er für ihre Haarmähne einfach nicht ausladend genug war. Links und rechts beulte sich der Stoff über dem weichen Fell aus. Irukye zupfte hie und da mit kundigen Fingern herum, aber das brachte auch nicht den erwünschten Tragekomfort.
„Ich würde mich nur zu gerne sehen, Mama, steht es mir? Sag mir, ist es so? Sei ehrlich!“, bat sie ihre Mutter zweifelnd. Die alte Gniri leckte sich schelmisch über die Lippen. Dann ging sie wieder zur alten Truhe und kramte darin herum.
„Ist zwar nicht groß, aber es zeigt etwas von deiner Schönheit. Als Rìa und ich hierher gezogen sind, habe ich es auf dem Weg gefunden! Schau nur!“ Sie reichte ihrer Tochter einen kleinen zerkratzten Handspiegel. Finilya sah hinein und zuckte erschrocken zusammen. Sie erblickte in einer Klarheit und Schärfe, wie sie es von ihrem Spiegelbild im Wasser nicht kannte, eine Gniri mit großen dunklen Augen und grobporiger graubrauner Haut. „Halte es vor die Stellen des Kleides, die du sehen willst, und schau hinein.“ Finilya tat, wie ihre Mutter ihr geheißen, und begutachtete nach und nach ihre Gestalt im Kleid.
„Ah“, seufzte sie unbestimmt, derweil ihre Augen über ihre hagere Erscheinung wanderten. Wertvoll hin oder her, sie kam sich einfach verkleidet vor. Sie ließ den Spiegel sinken und nickte ihrer Mutter tapfer lächelnd zu – ‚Kneifen gilt nicht!‘
Rangiolf ließ sich widerwillig von Gabra die Haare kämmen.
„Papa“, maulte er, „so was sollte eigentlich Mama machen.“
„Die hat zu tun, mein Junge, halt still, sonst ziept’s noch mehr.“
„Aua!“
„Ich habe gesagt, du sollst stillhalten … so ist es gut, mein Junge, nun bist du bereit für deine Braut – was die Haare anbelangt. Hast du dir die Krallen geputzt? Zeig mal!“
„Papa, ich bin doch kein kleines Kind. Klar mache ich mir die sauber!“, empörte sich sein Sohn.
„Ja, ja“, wiegelte Gabra ab und leckte sich aufgeregt über die Lippen. „Warte hier, ich bringe dir was mit.“ Er verließ das Zimmer und kam nach einer Weile mit allerlei Tiegeln bepackt und etwas Dickem unter die Achseln geklemmt zurück. „Diese Weste lässt gut Raum für deine Rückenborsten, ist also sehr bequem. Ich habe sie gut eingefettet, mein Junge, damit sie geschmeidig anliegt. Probier sie an! Ich habe sie schon bei meiner Hochzeit getragen!“, sprach der alte Gniri und zog stolz lächelnd das alte Kleidungsstück unter dem Arm hervor.
„Aber, Papa, das kann ich doch nicht annehmen“, sagte Rangiolf gerührt und etwas skeptisch zugleich, denn Kleidung, zumal Oberbekleidung, war ihm sehr lästig.
„Doch, doch, das tust du, mein Junge. Hier, ich hab das Fett gleich mitgebracht.“ Der alte Mann öffnete einen der Tiegel.
„Was geschieht damit?“ Der junge Gniri sah auf die helle fettige Paste.
„Wir reiben dich damit ein!“
„Was? Warum das denn?“
„Nun ziere dich nicht. Deine Mutter hat etwas Blütenessenz darunter gemischt. Du wirst duften wie eine frische Frühlingswiese und genauso schön glänzen wie deine Jacke.“ Rangiolf runzelte die Stirn und sah seinen Vater verdrießlich an. „Vertrau mir! Das Zeug macht Haut und Fell weich und glänzend. Wenn ihr später die Hochzeitsnacht genießt, wirst du es mir danken!“ Der alte Gniri grinste breit und entblößte eine Reihe langer spitzer Zähne. Rangiolf wiegte ergeben den Kopf.
„Meinetwegen“, gab er nach. „Du kannst mir den Rücken einreiben. Danach lässt du mich bitte allein, den Rest mache ich selbst.“ Gabra kicherte leise vor sich hin. Dann begann er den Rücken seines Sohnes zu bearbeiten. Die behaarten und borstigen Stellen wurden gleich mit einbezogen und anschließend noch einmal gekämmt.
„Dann ziehst du die Hose an, die dir deine Mutter bringen wird. Sie hat sie erst vor Kurzem extra für dich anfertigen lassen!“
„Hose?“, zischte Rangiolf und atmete geräuschvoll aus. „Muss das sein?“ Noch mehr als Oberbekleidung hasste er Hosen.
„Mein Junge, du musst schön sein, die Hose wird dich nicht umbringen, und ich rate dir …“, er hielt inne und sah ihm eindringlich in die Augen, „zupfe während der Zeremonie nicht dauernd an den Hosenbeinen, hast du verstanden?“
„Ja, Papa.“
„So ist’s gut, mein Junge. Ehe ich’s vergesse: In diesem Tiegel findest du etwas ganz Besonderes, wenn du es siehst, wirst du wissen, was es ist. – Und nun lasse ich dich allein.“ Rangiolf griff in den Tiegel und schnupperte an der Paste, die weiß und ölig an seinen Fingern klebte. Sie roch wirklich nach Frühlingswiese. Er begann sich langsam einzureiben. Seine Mutter hatte ihm die Hose gebracht und als er endlich fertig war, kam er doch nicht umhin, seine nunmehr glänzende Erscheinung zu bewundern.
„So, mein Kind, nun sitzt auch dein Haar richtig, schau!“ Irukye hielt ihrer Tochter den Spiegel vor die Nase. „Ich habe Zöpfe hineingeflochten, und über deiner Stirn den Blumenkranz, siehst du?“ Finilya staunte. Sie sah ja aus wie eine dieser Edelfrauen der alten Zeit, von denen ihr Pythera manchmal erzählt hatte. Plötzlich klopfte es an der Tür.
„Das muss die Prozession sein“, gluckerte die alte Gniri aufgeregt und fuhr sich nervös durch das Haar. „Sitzt bei mir auch alles gut?“
Finilya sah ihre Mutter an. Sie trug einen prächtigen bunten Rock, der wie ein Zigeunerrock geschnitten war und aus abertausenden Zellulosefasern bestand, die durch langes Klopfen geschmeidig gemacht und dann eingefärbt worden waren. Wie alle Gniri liebte Irukye kräftige Farben und so war auch dieses Kleidungsstück aus einem Flickenteppich unendlich vieler farbenfroher Stricke und Bänder gewirkt.
„Ich habe ihn mir selbst genäht“, sagte sie nicht ohne Stolz. „Es hat Jahre gedauert, das Material zu sammeln und die Fasern herzustellen, und noch mal so viele Jahre zu nähen und zu färben, aber es hat sich gelohnt! Ich wollte es zur Hochzeit meiner Ältesten fertig haben und die Mutter war mir gnädig.“ Irukye strich sich über ihren nackten Oberkörper, den eine prachtvolle Blumen- und Blätterkette zierte.
„Du siehst wunderschön aus, Mama“, sagte Finilya und dachte wehmütig, dass sie auch gerne so einen feinen Rock getragen hätte, anstatt dieses unbequeme Menschenkleid. Es klopfte erneut an der Tür.
„Wo ist Rìa? Dieser Kerl! Ich hoffe, er hat sich schön herausgeputzt!“
„Ich glaube, er ist mit Pythera auf dem Weg zu Rangiolf“, sagte Finilya und öffnete die Tür. Auf der Träger-Plattform des Hauses stand Retasso. In der einen Hand trug er einen Lampion, die andere streckte er ihr entgegen. Als er die Gniri erblickte, konnte er sein Erstaunen nicht verbergen. Finilya konnte in seiner Mimik jedoch nicht lesen, ob er ihren Aufzug schön oder einfach nur lächerlich fand.
„Ich bin Retasso, der Ovate, ich möchte dich zu Bräutigam und Ehe führen“, begrüßte er sie förmlich. Finilya verbeugte sich lächelnd und ergriff seine Hand. Irukye konnte ihre Freude kaum verbergen. Sie lachte breit und rieb sich aufgeregt ihre bekrallten Hände. Geschickt kletterten sie am Baumstamm herab, wobei Retasso darauf achtete, Finilya mit ihrem Kleid zu helfen. Unten erwartete sie die Prozession, bestehend aus Fackelträgern, den zahlreichen Verwandten der Braut und Gabra. Rangiolfs Vater ergriff Finilyas rechte Hand, während Retasso zu ihrer Linken ging. Gemeinsam schritten sie den Weg entlang. Finilya konnte es kaum fassen, dass sie heute heiratete. Hingerissen sah sie in die Gesichter der sie umgebenden Leute.
„Bist du fertig?“, erklang es jenseits der Tür.
„Ja, Mama“, antwortete Rangiolf. Yhsa trat ein und legte ihre Hand auf den Mund.
„Was ist?“, fragte der Gniri erschrocken.
„Du … siehst gut aus, mein Sohn“, lächelte sie, „wie“, ihre Augen wurden feucht, „fast wie Gabra damals, du siehst ihm so ähnlich.“
„Du siehst auch wunderschön aus, Mama. Wer hat dir die Haare gekämmt?“
„Meine Nachbarin.“
„Dein Rock ist auch sehr schön, Mama! Die Perlen glänzen so schön und blinken.“
„Perlen?“ Yhsa blickte an sich herab, „ah, die meinst du, ja“, sie lächelte. „Es ist ganz eigenartig“, fügte sie nachdenklich hinzu, „in letzter Zeit lassen immer mehr Menschen sie liegen. Ich nehme an, sie wissen, dass wir sie lieben.“ Fasziniert strich sie mit ihren Fingern über die bunten Glasmurmeln. „Gabra hat lange dafür gebraucht, Löcher hineinzubohren, sie sind nämlich äußerst hart!“
„Liegen sie dort, wo du die Wäsche wäschst?“ – Yhsa nickte.
„Ja, ich teile sie mit den anderen Frauen, deswegen sind es nicht viele. Ah, du hast dich eingerieben. Hast du denn auch in den anderen Tiegel geschaut?“
„Ich habe es nicht gewagt“, gab Rangiolf kleinlaut zu.
„Da!“ Sie schob den Deckel beiseite und wies auf die zähe rote Paste. „Kennst du das? Ist eigentlich was zu essen, eigentlich, aber die hier, die ist nur zum Kauen, wir haben ein paar Zutaten rein getan, die sie ein wenig zäher machen.“
„Ah, das ist das Zeug, auf dem du und Gabra immer herumkaut, kann das sein?“, erkundigte sich Rangiolf stirnrunzelnd.
„Genau! Als verheirateter Mann darfst du das auch tun! Du musst etwas davon kauen, bis dein Mund rot ist. Aber Achtung: Wegen der Zutaten darfst du die Paste nicht herunterschlucken. Spucke sie einfach hier rein, wenn du fertig bist.“ Sie hielt ihm ein kleines Schälchen unter die Nase. Rangiolf griff widerstrebend in das Gefäß und schob sich etwas von der Paste in den Mund. Es schmeckte süßlich herb und war zugleich ein wenig säuerlich. Die geschmackliche Ähnlichkeit zu dem roten Brei, den sie sonst aßen, war zwar gegeben, aber doch nicht so stark, wie er erwartet hatte.
„Zeig mal“, forderte ihn seine Mutter auf. Ihr Sohn öffnete den Mund, und die alte Gniri lugte hinein. „Wunderbar. Nun kannst du den Rest ausspucken.“ Rangiolf tat wie ihm geheißen. – Plötzlich klopfte es an der Tür. Mutter und Sohn fuhren erschrocken zusammen.
„Mach auf, mein Sohn“, rief Yhsa aufgeregt, „das wird Pythera sein!“ Mit zitternden Knien wankte Rangiolf zur Tür und öffnete sie. Pythera stand mit einem Lampion vor ihm und streckte ihm die Hand entgegen.
„Ich bin die Druidin Pythera und geleite dich zu Braut und Ehe“, begrüßte sie ihn. Rangiolf nickte höflich und ergriff ihre Hand.
„Wie schön, dass ihr alle gekommen seid“, begrüßte er die Wartenden gerührt. Sein Blick fiel auf einen älteren Gniri, er verbeugte sich lächelnd vor ihm.
„Mein Sohn, ich hoffe, ich darf dich so nennen“, sagte Rìa und ergriff Rangiolfs Hand, „ich freue mich, dass du und meine Tochter zusammen gefunden habt.“ Er lächelte so herzlich, dass er Rangiolf sofort sympathisch war. Sie zogen zum Festplatz, der in allen Farben leuchtete. Die Luft war mild und es duftete nach saftigem Gras und frischen Blumen.
„Schau mal, Retasso“, sagte Finilya fasziniert und wies auf die Lichter in der Ferne, „sie haben es so schön bunt gemacht.“
„Nur für euch“, antwortete der Ovate. „Oh, wer kommt denn da?“ Als Rangiolf seine zukünftige Frau erblickte, gefiel ihm ihre Erscheinung ausnehmend gut. In dem nach menschlichen Mustern genähten Kleid wirkte sie auf ihn faszinierend und hinreißend. In seinem Herzen entstand das Gefühl einer Vorahnung, die er erst in Worte zu fassen vermochte, als er seiner Geliebten in die Augen sah: Die Verbindung zu den Menschen war von Bestand, trotz des Bruchs der Welten. Vielleicht pflegte so mancher Mensch unwissentlich ebenso die Bräuche aus dem Reich der Naturwesen.
Finilya musste unwillkürlich lachen. Alle Bedenken, sie könnte in ihrem Kleid lächerlich wirken, schwanden in dem Augenblick, als sie ihrem Bräutigam in die verliebten Augen sah. Das Paar reichte sich die Hände. Verwandte, Freunde und die Gäste applaudierten, gurrten und trällerten in einer einzigen Freudesbekundung. Pythera leitete die Gesellschaft in die Mitte des Festplatzes, wo neben dem Feuer, das leise vor sich hin prasselte, ein großer Baumstumpf lag. Er war mit Intarsien geschmückt und diente als Altar. Neben einer Schale mit klarem Wasser lagen zwei Buchsbaumzweige.
Finilya spürte Rangiolfs Hand in der ihren, sie zitterte vor Aufregung. Sie drückte ihn und lächelte verlegen. Die Gäste setzten sich auf die Holzkloben, während das Paar vor dem Feuer stehen blieb.
„Finilya, stell dich links vom Feuer und Rangiolf rechts.“ Die beiden folgten der Anweisung der Heilerin und sahen einander gespannt an.
„Die Mutter möge euch vereinen im Angesicht der Elemente Luft“, Pythera streckte ihre Arme himmelwärts, „Erde“, sie stampfte mit den Füßen auf, „Feuer“, ihre Handflächen fuhren flüchtig über die züngelnden Flammen, „und Wasser!“ Sie tunkte ihre Finger in das Schälchen und besprenkelte die Stirn von Braut und Bräutigam. „Willkommen im Bund der Ehe. Seid leicht und flexibel wie die Luft, beständig und fruchtbar wie die Erde, leidenschaftlich und innig verbunden wie das Feuer und geht stets im Rhythmus allen Seins wie das Wasser. Ihr seid nun vor der Mutter vereint.“ Sie reichte jedem einen Buchsbaumzweig.
Die junge Gniri fühlte sich wie im Rausch. Es war ihr, als läge ein geheimnisvoller mystischer Zauber auf ihr. Ihr Herz klopfte vor Aufregung und ihr Verstand schlug Kapriolen: Ja, sie heiratete ihren Rangiolf! Ein Traum wurde wahr! Ohne zu zögern umfasste Rangiolf Finilyas Taille und zog sie zu sich. Dann küssten sie sich. Als sich ihre Zungen im Spiel vereinten, schmeckte sie den Saft jener Paste, die alle Verheirateten genießen durften. Sie begann sanft seinen Mundraum abzulecken und als sie sich von ihm löste, streckte sie ihre nun ebenfalls verfärbte Zunge aus. Ein freudiges Trällern setzte ein, untermalt vom vibrierenden Lärm stampfender Füße und dem Echo klatschender Hände. – Nach und nach verebbten die Jubelrufe. Finilya streichelte sanft Rangiolfs Wange und sagte:
„Wir gehen neue Wege, du und ich. Von Anfang an fühlte ich, dass wir heiraten werden. Ich sagte es niemandem, denn das wäre ein Verrat an meinen Verstand gewesen, der doch sagte: Das ist ja nicht möglich. Und ich bereue es nicht, ich werde dir folgen, überall hin, wo du hingehst.“ Sie steckte ihm den Zweig in die Brusttasche seiner Weste. Rangiolf lachte. Jetzt verstand er, warum er die Weste trug!
„Oh“, begann er gerührt, „ich liebe dich, weil du so bist, wie du bist und mit mir diesen Weg gehst. Es heißt, die begehrteste Gniri ist nicht bereit, ihr Heim zu verlassen, da der heimische Baum doch gemütlicher ist – aber du bist anders! Du lässt einen Teil deines Herzens am heimischen Baum und der andere ist immer hier drin.“ Er tippte sich auf die Brust und steckte ihr seinen Buchsbaumzweig ins Haar. Finilya schlang als Antwort ihre langen Arme um seinen Hals und gab ihm einen zärtlichen Kuss auf die Lippen. Jetzt konnten sich die Anwesenden nicht mehr zurückhalten. Sie erhoben sich und überschütteten das frisch getraute Paar mit Freudesbekundungen und guten Wünschen.
Als sich der größte Tumult gelegt hatte, schmückten einige Männer Finilya mit mehreren Halsketten, die den Wert und die Art der künftigen Brautgeschenke symbolisieren sollten. Auch Gabra legte ihr welche um. Die Anzahl der Heilsteine in ihnen zeigte dem Publikum, wie viel ihm seine neue Schwiegertochter bedeutet, denn sie stellen besonders wichtige und wertvolle Gaben dar. Alsdann stellten sich die Frauen in einer langen Reihe auf und überreichten dem Paar die reellen Gaben.
Es hatte sich herum gesprochen, dass die beiden nicht im Ort bleiben würden. Also erhielten sie hauptsächlich leichte Geschenke, wie zum Beispiel Werkzeug und Proviant, handliches Geschirr, Kämme und Kleidung, darunter übrigens ein hübscher bunter Rock für Finilya. Die frisch gebackenen Eheleute waren über die Freigiebigkeit der Gäste erstaunt. Mit klopfendem Herzen sahen sie zu, wie zusammen kam, was sie für ihr Nomadenleben brauchten. Schließlich kam Retasso.
„Das ist für dich!“, er verbeugte sich und überreichte Finilya einen kleinen Beutel. Ein wohlvertrauter Duft stieg ihr in die Nase.
„Feigen! Du hast mir Feigen mitgebracht! Danke!“, rief sie hocherfreut und nahm Retasso spontan in die Arme.
„Keine Ursache“, sagte dieser verlegen, während er ihre Umarmung herzlich erwiderte, „ich weiß doch, wie sehr du sie magst.“ Dann trat er auf Rangiolf zu, seine Miene wurde ernst.
„Für dich habe ich etwas, dessen Sinn sich dir nicht gleich erschließen wird, aber wo du hingehst, könnte es wichtig werden.“ Er holte aus seiner Hosentaschen ein kleines in Leder gehülltes Bündel hervor. Er überreichte es Rangiolf und wartete, dass dieser es öffnete.
„Was ist das?“, der junge Gniri hielt ihm das bunte Papier ratlos hin.
„Das ist GELD“, antwortete Retasso knapp.
„GÄLDE? Was ist das?“ Rangiolf kratzte sich nervös hinter dem Ohr. Irgendwo hatte er dieses Wort schon einmal gehört.
„Es ist Ufisr bei den Menschen, ein Zahlungsmittel, um etwa Nahrung zu erwerben. Menschen tauschen nicht, sie KAUFEN.“
„Aber“, rief Rangiolf bestürzt aus, „du denkst doch nicht, dass ich zu den Menschen gehe, um bei ihnen etwas zu … KAUFEN?!“
„Dein Freund Sutia kennt GELD“, erklärte Retasso geduldig. „Die Gniri im PARK verwenden es auch als Zahlungsmittel. GELD ist in ihren Kreisen sehr wertvoll, denn Gniri können es nur haben, wenn Menschen es verlieren. Je nach Sippe mögen sie lieber die blauen, die braunen oder die grünen Scheine, denn sie wissen nicht, wie viel sie wert sind.“ Rangiolf hörte gespannt zu und machte große Augen.
„Kannst du mir zeigen, was sie wert sind?“, fragte er.
„Du kannst die Schrift der Gelehrten lesen?“ – Rangiolf nickte.
„Gut, ich schreibe dir den Wert der einzelnen Scheine auf, auch jener, die nicht in deinem Besitz sind. Wenn du Sutia besuchst, verrate ihm nicht, dass du welche hast! Tausche sie nur ein, wenn du in höchster Not bist, verwahre sie gut, sonst bist du sie umgehend los!“
„Du meinst …“ Rangiolfs Miene verriet tiefe Bestürzung.
„Genau das meine ich“, erwiderte Retasso ernst und verbeugte sich vor ihm. Der junge Mann schaute hilfesuchend zur Heilerin. Diese schenkte ihm ein zuversichtliches Lächeln, trat näher heran und legte beiden eine Hand auf die Schulter.
„Viel Neues erwartet euch – Gutes und Schlechtes. Nehmt Retassos Aussage als eine Warnung, aber habt keine Angst!“ Sie griff in eine der Taschen ihres Kleids und zog einen Beutel hervor. „Das sind Heilkräuter für die unterschiedlichsten Beschwerden“, sagte sie. „Rangiolf, du wirst dich sicherlich daran erinnern, was Hiara dir sagte, als du ihr die Raupen brachtest.“
„Sie sagte, sie würde kommen, wenn Retasso hier ist!“
„Genau!“, antwortete die Heilerin. „Sie wird dir und Retasso Heilsteine bringen. Du brauchst ihr diesmal keine Raupen dafür geben. Ihr teilt euch den Inhalt des Medizinbeutels und die Heilsteine. Verwahrt alles gut! Manch einer wird es begehren, von dem ihr es nicht annehmt!“, riet sie, bevor auch sie sich verneigte. „Nun, meine Freunde“, sie wandte sich an die übrige Gesellschaft, die angesichts dieser neuen und ungewöhnlichen Geschenke still geworden war, „das Fest ist eröffnet!“
Musikanten traten auf den Festplatz und begannen zu singen, es wurde so viel Essen und Schnaps aufgestellt, dass sich der Eine oder Andere verwundert fragte, ob diese Mengen je vertilgt werden konnten! Rangiolf stand indessen immer noch benommen da und starrte ins Leere. Finilya berührte sanft seine Schulter. Sie hörte, wie er trocken schluckte und spürte sein Herz laut klopfen, sodass sein ganzer Körper vibrierte.
„Sag mir, Finilya“, begann ihr Mann zögernd. „Ist es ein Fehler?“ Er breitete die Arme aus. „Ich meine, ein Fehler von hier fort zu gehen?“
„Zweifle nicht“, flüsterte sie leise und legte ihre haarigen Arme um seine Taille. „Wir haben uns so entschieden. Wer weiß, vielleicht sind wir die ersten, die dieses Menschen-Natur-Wesen finden! Komm“, sie drückte ihn sanft an sich. Rangiolf versank in ihrer Umarmung und fühlte sich wohler.
„Ja, wir schaffen das, nicht wahr, mein Zäb-zäb11?“ Finilya nickte zuversichtlich und zog ihn zu den ausgebreiteten Speisen. „Schau mal, das ist das größte Sàk-dhuät12, das ich je gesehen habe. Meinst du, du kriegst es in einem Happen runter?“
„Na“, meinte Rangiolf übermütig, während er die triefende krautwickelförmige Köstlichkeit von allen Seiten begutachtete, „es ist schon gewaltig! Aber man sagt mir nicht umsonst nach, ich hätte ein großes Mundwerk. Also muss ich es zumindest probieren, hm?“ Er zwinkerte ihr lachend zu und schob es sich zur Gänze in den Mund. „Hap üsch dr ncht gesaht?“, sagte er mit dicken Backen, während ihm der Saft an den Mundwinkeln herabtroff, „üsch kanns.“ Finilya kugelte sich vor Lachen.
„Du bist nicht normal“, kicherte sie, „ich sage es dir und du machst es tatsächlich.“
„Einer so schönen Dame kann man doch keine Bitte abschlagen“, grinste ihr Mann und wischte sich mit dem Handrücken den Mund ab. – Ehe sie es sich versah, hatte sie selbst ein Sàk-dhuät im Mund.
„Ompf“, entfuhr es ihr überrascht. Während sie noch kaute, zog er sie zu einer Reihe großer irdener Behälter, deren runde Bäuche mit verschiedenen Sorten duftender Schnäpse gefüllt waren.
„Was meinst du? Wollen wir ausprobieren, wie viel ich trinken kann?“ Rangiolf ließ die goldgelbe Flüssigkeit in ein Trinkgefäß mit langem Hals gluckern.
„Üsch“, entrüstete sich die Gniri mampfend und schluckte endlich, „ich weiß, dass du ein großes Mundwerk hast, aber ich will keinen Schnarchsack neben mir liegen haben.“ Rangiolf runzelte die Stirn.
„Schade, wer weiß, wann ich wieder dazu komme, mir einen hinter die Binde zu kippen, das letzte Mal …“, er erinnerte sich an das vergangene Fest, „waren die Gespräche außerordentlich interessant …“
„Und heute“, vollendete Finilya neckisch seinen Satz, „bin ich interessant genug. Und nun gib mir mal einen Schluck!“ Sie riss ihm das kleine Gefäß aus der Hand und setzte es sich an die Lippen.
„Oh ja“, antwortete Rangiolf mit vor Verlangen glänzenden Augen. „Allerdings machen Trockenübungen keinen Spaß!“ Damit nahm er ihr es wieder aus der Hand und trank selbst.
„Definitiv nicht“, erwiderte Finilya und bediente sich abermals. „So, du Großer, lass uns jetzt tanzen!“ Sie warf das leere Gefäß fort und zog ihn hinter sich her ins Festgetümmel. Während sie sich im Tanz drehten, leckte sie die letzten Tropfen Schnaps aus seinen Mundwinkeln.
„Oh, nein“, lachte Rangiolf, „lass das, das kitzelt“, und freute sich wie ein Honigkuchenpferd. Er gurrte leise, dann machte es Schnapp und seine Lippen landeten mitten in ihrer Zungenbewegung auf den ihren. Sie fühlten sich wie Seide an. Sein Herz begann aufgeregt zu klopfen und der Ratschlag seines Vaters Gabra, sich mit duftendem Fett einzureiben, kam ihm in den Sinn. „Schmeckt dir das, womit ich mich eingerieben habe?“, fragte er seine Frau prompt.
„Ich weiß nicht, deine Lippen schmecken nach allem Möglichen, was du gegessen hast.“ Rangiolf blieb abrupt stehen und hielt Finilya fest.
„Der Rest von mir schmeckt aber anders, wir sollten vielleicht …“ Er grinste breit, um seine Mundwinkel bildeten sich schneckenförmige Grübchen. „Ich habe ein Zimmer“, flüsterte er verschwörerisch, dann zog er Finilya mit sich fort. Sie kletterten den Stamm seines Wohnbaums hinauf und betraten einen mit allerlei Utensilien und Heilsteinen vollgestopften Raum, in dem eine kleine Liege stand. „Mein Zimmer“, sagte er stolz und bedeutete ihr, auf dem Lager Platz zu nehmen. Rangiolf setzte sich dazu und ergriff ihre Hände. „Ähm“, räusperte er sich verlegen, „du weißt, ich will es sehr, aber was wir jetzt vorhaben, das habe ich noch nie gemacht!“
„Ich auch nicht.“
„Aber“, fügte Rangiolf spitzbübisch hinzu, „du weißt ja, wie das bei Hochzeiten ist. Morgen werden sie alle vor der Tür warten und …“
„Ja, ich weiß“, unterbrach ihn die Gniri und leckte ihm die Wange. „Ich glaube, das Beste ist“, lächelte sie, „wenn wir nicht weiter darüber nachdenken, wie es gehen soll. Das verdirbt es uns doch nur!“
„Ja“, bestätigte er, während er sich langsam von ihr ausziehen ließ. Er zupfte an den Trägern ihres Kleides und half ihr, es abzulegen. Als sie in der gewohnten Nacktheit vor ihm stand, seufzte sie erleichtert auf.
„Und nun sag mir: Was wünschst du dir?“ Er sah sie aufmerksam an. Finilya wollte etwas sagen. „Nicht nachdenken“, unterbrach er sie, „das Erste, was dir einfällt.“
„Weißt du noch, damals auf der Wiese, als ich dir Milch gab?“ Rangiolf nickte. „Da sagte ich, dass ich gerne an meinen eigenen Brüsten nuckeln würde, wenn es ginge. Ich gebe auch jetzt noch vielen Kindern Milch … na ja, und manchem Erwachsenen.“ Sie zwinkerte ihm zu. „Ich selbst aber kriege von niemandem etwas. Meine Mutter hat zwar welche, aber die reicht nur für Pindra … und den Kleineren eben.“ Finilya sah ihn aufmerksam an. „Hast du eine Idee?“
„Ja“, rief er nach einer Weile, „leg dich auf den Rücken.“ Er schob sich sanft auf sie und begann an einer ihrer Brüste zu saugen. Sein Körper fühlte sich fest und kräftig an und war doch warm und angenehm. Finilya strich mit ihren Fingern über seine glänzende Haut und drückte ihn an sich, sodass sie mit ihren langen Händen seinen behaarten Hintern umfassen konnte. Rangiolf schluckte die Milch nicht hinunter. Stattdessen wurden seine Backen immer dicker und als er nichts mehr aufnehmen konnte, beugte er sich zu seiner Frau und gab ihr einen Milchkuss. Finilya spürte die warme, sahnige Flüssigkeit und schmatzte leise.
„Hm, danke“, flüsterte sie und strich ihm zärtlich durch das Haar. „Und was wünschst du dir?“
„Was ich mir wünsche, tun wir gerade“, erwiderte der Gniri. „Ich habe sehr lange und ausgiebig darüber nachgedacht, ob es für uns sinnvoll ist, miteinander zu schlafen, denn so etwas zieht, wenn die Mutter es will, eine Schwangerschaft und Kinder nach sich.“
„Zu welchem Ergebnis bist du gekommen?“
„Diese Sache ist viel zu schön, um darauf zu verzichten. Ich glaube, wir würden uns zu viel verbieten, wenn wir es nicht täten.“ Er kam ganz nah an sie heran, blickte in ihre dunkelblauen Augen und leckte flüchtig über ihre Lippen.
„Hey, lass das, das kitzelt“, lachte Finilya.
„Was meinst du? Etwa das?“
„Ja, genau das!“ Sie spreizte ihre Beine und hieß ihn in ihrem Schoß willkommen, derweil fuhr sie ihm mit einer Hand durch das Haar. Sie verfielen in ein Lecken, Saugen, Küssen und Berühren, ein Liebesspiel, das, mit kleinen Pausen, mehrere Stunden dauerte. Keiner konnte von dem anderen genug bekommen und doch nahmen sie sich Zeit. Irgendwann lagen sie erschöpft nebeneinander und sahen sich zufrieden an.
„Was glaubst du“, fragte Finilya, „bin ich jetzt schwanger?“ Rangiolf legte seine Hand auf ihren Bauch und lächelte.
„Ich denke schon“, sagte er.
„Die Feier ist noch im Gange“, sagte die Gniri nachdenklich, „hörst du die Musik?“
Er nickte. „Was meinst du? Sollen wir noch mal hingehen?“
„Ich möchte lieber bei dir liegen und dich mit jeder Faser meines Körpers fühlen, hier – ganz nah!“, sagte sie leise und sah ihn liebevoll an.
„Dasselbe möchte ich auch.“ Er schob sie sich sanft auf sie.
„Ich habe dir das Fett von der Haut geleckt“, stellte sie fest, derweil sie mit ihren langen Fingern an den Haaren seiner Brust nestelte.
„Dafür war es doch da, außerdem ist ein Großteil bestimmt schon in die Haut eingezogen, bevor du es abgeschleckt hast.“
„Die Essenz deiner Mutter war noch deutlich vorhanden. Ich habe den Geschmack noch im Mund. Aber wonach schmecke ich eigentlich?“ Finilya hob ihren Kopf und sah Rangiolf fragend an.
„Hm“, er zupfte an den Haaren ihrer Ohrspitze „teilweise salzig, dann irgendwie blumig, und nach rosa Springkraut duftend.“
„Wirklich?“
„Ja“, meinte Rangiolf, „ich liebe diesen Duft. Im Spätsommer ist die Luft am Fluss davon erfüllt, und da, wo deine Haut ganz weich und zart ist, da riechst du genauso! Ich hätte mir nie träumen lassen, dass ich eine Frau kennenlerne, die nach Springkraut duftet. Hast du dich auch eingerieben?“ Die Gniri schüttelte den Kopf. „Das habe ich mir gedacht. Es zeigt, dass du genau die Richtige für mich bist. Ich hoffe, ich dufte für dich auch gut, wenn ich nicht eingerieben bin?“ Rangiolf sah sie erwartungsvoll an.
„Na ja“, lachte die Gniri, „letztes Mal auf der Wiese, da hast du nach diesem Zeug gerochen, das der Menschenbauer auf sein Feld tut.“ Der Gniri verzog naserümpfend das Gesicht. „Aber sonst, hm, harzig, ein wenig wie Baumharz. Salzig und harzig, ziemlich herb, ich mag das! Als Kind habe ich das Harz von den Bäumen geknabbert und heute liebe ich es auch noch“, lächelte sie. Rangiolf entspannte sich.
Retasso spürte die Müdigkeit in allen Knochen. Mit einem Fläschchen Schnaps in der Hand saß er mit Pythera vor den glühenden Kohleresten des vergehenden Feuers. Er hatte viel getanzt, viel gegessen und viel zu viel getrunken. Sein Kopf fühlte sich schwer an.
„Lass uns schlafen gehen“, schlug Pythera müde vor.
„Ich würde sagen“, der Gniri hob den Kopf, „das ist eine gute Idee. Ich werde mich ausschlafen, danach muss ich weiterziehen.“ Er erhob sich, sackte aber sogleich wieder in sich zusammen.
„Komm, ich helfe dir.“ Pythera griff ihm unter die Arme und gemeinsam gingen sie zu ihrer Behausung.
„Wenn man sich etwas bewegt, geht es wieder einigermaßen“, keuchte Retasso, derweil er seine Krallen in trunkener Selbstzufriedenheit in das Holz der Tür bohrte.
„Es ist nicht groß bei mir, aber das weißt du ja, nicht wahr?“
„Ich liebe deine kleinen Räume“, der Gniri schlang seine haarigen Arme um Pytheras Hals und kicherte.
„Schlaf bei mir“, beeilte sich Pythera zu sagen, als sie sah, dass er sein Lager auf dem Boden ausbreiten wollte. Retasso hob fragend den Kopf. „Wenn du magst …“, meinte sie errötend.
„Na klar, danke“, brummte Retasso. „Eine weiche Liege ist mir tausendmal lieber als der harte Boden, auf dem ich noch oft genug schlafen werde.“ Pythera zog sich aus und legte sich auf das weiche Bett.
„Komm“, sie breitete ihre Arme nach ihm aus. Retasso erhob sich mühsam und schlurfte zu ihr hin. Dann ließ er sich wie ein nasser Sack auf das Lager fallen.
„Du erwartest wohl nicht, dass ich dich ganz alleine ausziehe? Ein wenig helfen musst du mir schon.“
„Ja“, murrte er, „mach ich.“
„Was treibt dich nur dazu Hemden zu tragen?“, beklagte sich Pythera, während sie umständlich an den Knöpften nestelte, „das ist nur was für eingebildete Dhàrdhats und Menschen!“
„Ähm“, schmatzte er unbestimmt. Dann schob er ihre Hände beiseite und knöpfte sein Hemd trotz Krallen mit schlaftrunkener Sicherheit auf. „Geschafft“, murmelte er erschöpft und schmiegte sich an sie. „Die Liege ist so klein“, murmelte er entschuldigend, „da muss man halt zusammenrücken.“
„Ist gut“, lächelte sie und strich ihm durchs Haar. Sie leckte ihm liebevoll das Ohr und deckte sich und ihn zu. Es dauerte nicht lange und der Gniri war eingeschlafen. Pythera genoss seine Nähe, fühlte mit Entzücken seinen gleichmäßigen Atem auf ihrer Haut und gab ihm einen Kuss auf die Stirn. „Ach, könntest du doch nur bei mir bleiben“, flüsterte sie.
Murrend erwachte Rangiolf von einem ohrenbetäubenden Tumult.
„Aufstehen, ihr Schlafmützen“, hörte er jemanden sagen. Finilya drehte sich auf die andere Seite und schlief weiter. „Nein, nicht schlafen“, drängte die Stimme und eine Hand begann die beiden zu rütteln. „Los, aufstehen, die Leute warten. Außerdem bricht Retasso abends auf …“
„Retasso?“, riefen Finilya und Rangiolf gleichzeitig und waren sofort hellwach.
„Ja!“, sagte Gabra. „Ihr wollt doch mit ihm ziehen? So weit ich in Erfahrung gebracht habe, ist euer Weg ein Stück weit derselbe.“ Breitbeinig stand er vor dem Paar, schaute von einem zum anderen und grinste keck. „Hat sich gelohnt, das mit dem Fett, nicht wahr, mein Junge? Wie ich sehe“, er trat näher und schob die Behaarung an Finilyas Bauch etwas auseinander, „seid ihr erfolgreich gewesen.“ Mit seinem knorrigen Finger wies er auf den weißen Streifen, der sich von ihrer Scham bis zum Herzen zog. „Ihr erwartet ein kleines Bündel.“ Finilyas Blick folgte seinem Finger und sie errötete. „Nichts, was ich nicht schon mal gesehen habe!“, wiegelte Gabra lachend ab. „Ehe ich’s vergesse, mein Kind, zieh das hier an. Schließlich bist du nun eine Frau!“ Ein reich verzierter Rock landete in ihren Armen. „Das ist ein Geschenk deiner Mutter Irukye. Die Frauen haben zusammengelegt und ihr beim Nähen geholfen! Ein schöner Rock für eine schöne Frau! Was das Kleid anbelangt, so taugt es freilich für Hochzeitszeremonien, jedoch nicht für den Alltag! Sie dachte, es sei eine größere Überraschung, wenn ich dir diesen Rock überreiche!“
„Oh, danke!“, murmelte Finilya gerührt. Sie hatte zwar von den Gästen schon einen Rock bekommen, aber an diesem hier hatte ihre Mutter mitgearbeitet, das machte ihn zu etwas Besonderem. Gabra nickte lächelnd und verließ den Raum.
„Halt mal still, ich will mir den Streifen ansehen“, murmelte Rangiolf und betrachtete eingehend den Bauch seiner Frau. „Gestern Nacht konnte ich es nicht sehen, nur fühlen und heute … ah, das ist schön.“ Der Gniri grinste über das ganze Gesicht. „Lass uns jetzt aufstehen!“ Sie zogen sich eilig an und gesellten sich zu den anderen.
„Siehst gut aus, Finilya“, gurrte Yhsa und reichte der Gniri einen kleinen Tiegel, in dem sich mehrere Raupen wanden. Finilya steckte sich ein paar davon in den Mund und kaute bedächtig darauf herum.
„Danke, ich freue mich sehr darüber, meine Mutter hat daran mitgearbeitet.“
„Ich auch!“, brüstete sich Yhsa.
„Tatsächlich? Oh, danke!“, Finilya reichte den Tiegel mit den Raupen an Rangiolf weiter und umarmte die alte Frau herzlich.
„Wie schön du bist!“, erwiderte Yhsa stolz.
„Wir müssen raus!“ Rangiolf unterbrach die sentimentale Begegnung zwischen den beiden. Er stopfte Finilya den Rest der Raupen in den Mund, ergriff ihre Hand und rannte mit ihr zur Tür. Vor dem Baum warteten schon viele Gniri auf sie. Als die beiden ins Freie traten, brach ein Jubel aus. Kaum, dass das Paar unten angekommen war, wurden sie von Leuten umringt. Sie brachten ihnen Glückwünsche entgegen, tätschelten ihre Schultern und beschauten sich voller Neugier und Faszination Finilyas Bauch. Hin und wieder zupfte einer Finilyas Haare auseinander, um den Streifen für jeden deutlich zu machen. Für das Volk am Eichenhain war jede Schwangerschaft eine Besonderheit. Das erste Kind aber wurde mit besonders großem Triumph aufgenommen! Vor allen Augen segnete die Heilerin das Ungeborene.
„Herzlichen Glückwunsch“, freute sich Retasso und reichte dem Paar die Hand. Während Finilya verlegen zu Boden blickte und nur ab und an einen zögerlichen Blick in die Menge wagte, schien Rangiolf in der Anerkennung förmlich zu baden. Stolz und glücklich zog er seine Frau hinter sich her und zeigte sie allen Anwesenden.
„Ja, das ist mein Zäb-zäb“, lachte er immer wieder. „Schaut, wie schön sie ist!“ Als alle das Paar bestaunt und beglückwünscht hatten, gingen sie wieder ihren Tagesgeschäften nach. Finilya und Rangiolf aber machten sich für den Aufbruch bereit. Die Vorbereitungen gingen bis in die Abendstunden. Retasso, der sein Gepäck lange verstaut hatte, wartete geduldig.
Dann war es so weit. Da Finilya nun schwanger war, mussten sie auf viel Gepäck verzichten und eine Menge der Geschenke zurücklassen. Die Gniri wehrte sich lange dagegen und warf ein, dass sie durchaus in der Lage sei, einiges zu tragen. Als jedoch Retasso und Pythera ihr versicherten, dass sie an ihrer Schwangerschaft und hernach an dem kleinen Kind genug zu tragen haben würde, gab sie schließlich nach.
„Glaube mir, es geht schneller als du denkst“, sagte die Heilerin und legte ihre Hand auf Finilyas Bauch. Irukye, die dabei stand, nickte.
„Sie hat recht“, sagte die alte Frau. „Wenn das Kleine da ist, musst du es lange tragen, bevor es alleine läuft. Es wird zwar bald kräftig werden, aber auch nicht so schnell.“ Finilya sah ihre Mutter an. Tränen standen der alten Gniri in den Augen, sogar Rìa schaute betrübt drein.
„Pass auf dich auf, mein Kleines“, sagte er und tätschelte seiner Tochter die Wange, „und du auch, hüte sie! Sie ist noch jung, sie braucht dich“, wandte er sich an Rangiolf. Der nickte. Dann blickte er zu seinen Eltern hinüber und wurde selbst traurig. Zeit seines Lebens hatte er sich vor seiner Mutter Yhsa gefürchtet und Gabra für einen albernen alten Mann gehalten, nun vermisste er beide jetzt schon! Er verabschiedete sich von seinen Eltern und den Geschwistern mit einer innigen Umarmung.
„Viel Glück!“, sagte sein Bruder Brafar und drückte ihn an seine Brust. „Pass auf dich auf! Die Welt da draußen, die ist irgendwie … krank.“
„Wird schon gut gehen“, meinte Rangiolf. Finilyas Schwester Mèfai hielt Pindra hoch, damit Finilya ihn noch einmal küssen konnte.
„Pass gut auf ihn auf“, sagte die zu ihrer Schwester. „Er braucht dich, nun bist du die Älteste!“ Pythera sah dem Abschied zu. Ab und an wanderte ihr Blick suchend über den Himmel, Retasso wusste warum.
„Kommt sie?“, fragte er.
„Ja“, antwortete die Heilerin und zeigte auf einen Punkt, der von Weitem wie eine Wolke aussah. „Da!“ Der Punkt näherte sich und brachte einen kräftigen Windstoß mit, der den Anwesenden das Haar zerzauste. Viele hatten in ihrem ganzen Leben noch nie eine Ràktsia gesehen und so war deren Ankunft für sie ein besonderer Moment.
„Ich glaube“, hauchte Hiara während der Landung und formte aus ihrem Wolkenkörper eine den Waldbewohnern ähnelnde Gestalt, „das ist meine erste Ankunft auf den Gefilden der Erde seit …“, ihre runden silbernen Augen bekamen einen nachdenklichen Zug. Dann sah sie Rangiolf. „Guten Abend, mein Freund!“, lächelte sie und gab ihm ihre zarte weiche Hand. „Finde dich selbst und finde die Menschen, dann kehre wieder.“ Sie überreichte ihm ein Säckchen mit Heilsteinen. Der Gniri verbeugte sich und nickte. Er verwahrte Hiaras Worte wohl in seinem Herzen. Nun wandte sich Hiara an Finilya.
„Es wird kräftig und gesund“, sie legte ihre Hand auf den Bauch, „genau wie du!“
„Was ist es denn? Mädchen oder Junge?“, fragte die junge Frau zaghaft.
„Was fühlst du?“ Hiara sah sie aufmerksam an.
„Ich denke, ein Mädchen.“
„So ist es!“ Noch ehe Finilya etwas erwidern konnte, wandte sich Hiara an Retasso. „Nicht alles erfüllt sich, wie du es erwartest.“ Nun sprach sie zur Heilerin. „Meine liebe Freundin, wir kennen uns schon sehr lange.“ Pytheras Miene wurde melancholisch. „Löse dich vom Kummer der Vergangenheit und Neues wird dir zustreben.“ Sie blickte zu Retasso, die Heilerin verstand. „Vertraue auf deine innere Führung und lass dich nicht zermürben, gehe deinen Weg. Hilfe wird kommen, wenn du es am wenigsten erwartest.“ Dann legte sie ihre Hände nacheinander auf die Köpfe der Anwesenden und entließ sie mit ihrem Segen in den Schutz der Dunkelheit.