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Kapitel 2

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Mein Name ist, glaube ich, D. B. Singer jun.

Als dieses einköpfige Abholkommando auftauchte, kam ich grade von einer Art Waldlauf zurück. Wann immer ich damals zu viel bekam, musste ich laufen - am besten durch Wälder. Später werde ich das noch genauer erzählen, falls es Sie nicht zu sehr erschreckt - all die ganzen Hintergründe und Zusammenhänge, meine ich.

Es wird dann auch noch die Rede von anderen - wie soll man das nennen? - von den vielen anderen Szenen sein müssen, die sich damals abspielten, z.B. die jahrelangen Ein- bzw. Vorladungen seitens spezialdemokratischer Institutionen, um mich vorzubereiten auf die gloriose spezialdemokratische Zukunft a la Huxley und Orwell.

(Motto: Wer oder was nicht passt, wird passend gemacht!)

Dazu gehören natürlich vor allen solche Sondervorstellungen wie die der PoPo‚ also der Politischen Polizei von Spezialdemokratien - und nicht zu vergessen das ziemlich bemerkenswerte Aufeinandertreffen mit diesem Dr. Schreck...

Nachdem ich angefangen habe, über die Hölle von Spezialdemokratien zu sprechen, jagt jetzt schon ein verdammter Flashback den anderen - ich muss einfach alles so auskotzen wie es grade hochkommt.

Der Tag, an dem dieses einköpfige Abholkommando seinen Auftritt hatte, war Donnerstag, der 23. April. Die Tageszeit: später Nachmittag.

Dieser ominöse Besucher kam also einfach ins Zimmer gestürmt und brüllte sofort herum: „Los, mitkommen, der Wagen steht unten!“

Klar - am liebsten wäre ich auf der Stelle wieder losgerannt, zurück in den Wald und alles. Ich fühle mich dort am sichersten und kann mich am schnellsten beruhigen. Die Bäume wirken wie ein Filter - sie haben eine entgiftende Wirkung. Außerdem ist man zwischen ihnen so gut wie unsichtbar. Das ist fast so gut wie eine Tarnkappe, die ich mir seit damals immer wünsche.

Natürlich bekam ich sofort wieder zu viel - ich meine, Panik und alles. Mir war zu dieser Zeit sowieso schon reichlich elend zumute - zuerst das jahrelange Heimweh nach N.W.3 und der Liebeskummer um meine herzallerliebste angebetete Gebieterin, und obendrauf jetzt also noch diese durch geknallten Deutschen mit ihrem üblichen Politfanatismus. Ich bekam kaum etwas runter in diesem verdammten Frühjahr - wahrscheinlich schrammte ich nur knapp an Magersucht vorbei, von der ich damals noch nie gehört hatte.

Sie müssen wissen, seit ich sechs Jahre alt war, verbrachte ich die meiste Zeit in London N.W.3‚ also im Stadtteil Hampstead. Auf der einen Seite behauptet sicher niemand (ich jedenfalls bestimmt nicht), dass dort in der Umgebung nur Friedens- oder Literaturnobelpreisträger residieren oder ausschließlich Exilkönige (wie dieser versandete Konstantin), und es werden dort auch nicht ausschließlich Teestunden abgehalten (ganz im Gegenteil, ich könnte Ihnen da interessante Einzelheiten schildern - wahrscheinlich komme ich gar nicht drum herum, wahrscheinlich gehören diese Einzelheiten auch dazu), aber auf der anderen Seite stehen Sachen wie Überfälle oder angedrohte Tätlichkeiten in diesem Teil der Welt, wo ich aufwuchs, nicht unbedingt an vorderster Stelle der Tagesordnung. Und um genau zu sein, ich bin sowieso eher von der zurückhaltenden Art. Sobald solche verdammten Aggressionen aufkommen. weiß ich nicht, was ich tun soll. Es geht mir immer so. Ich bin dann nichts weniger als absolut hilflos und ausgeliefert. Was ich zum Beispiel sogar jetzt noch mache, ich suche an jeder verdammten Bus- oder Straßenbahnhaltestelle eine Schlange. Hier, jetzt, außerhalb Londons. Auf dem Kontinent. Natürlich hält sich kein Schwein an diese Regel, aber ich bin leider ein Gewohnheitstier. Das sieht in der Praxis so aus: Ich komme als erster an die Haltestelle und bilde also eine Einmannschlange. Von den anderen Leuten, die nach und nach dazukommen, weiß natürlich niemand davon. Kein einziger hält sich an die Regel, die einzuhalten ich von früher noch gewöhnt bin. Als nächstes kommt der Bus oder die Bahn, und sofort darauf bilden sich vor den Türen Menschentrauben. Die, die einsteigen wollen, behindern systematisch die, die aussteigen müssen.

Es wäre alles viel leichter mit diszipliniertem Schlange stehen und allem. Und auch schneller. Es kommt aber zu vereinzelten Nahkämpfen, die Fahrer brüllen Instruktionen durchs Mikrophon, die Türen knallen zu - und was los ist, ICH stehe immer noch da. Und muss hinterher sehen. Weil ich mich einfach nicht irgendwo rein drängeln kann. Wenn ich irgendwas hasse, dann so was: Reindrängeln. Wie auch immer, dieser - dieser Besucher gab einen Dreck um meine zurückhaltende Art, und ich merkte, ich musste mich zusammen­nehmen. Weil mir ja sowieso schon reichlich elend zumute war, wie gesagt. Er tobte wie ein Riesenfalter durch das Zimmer, und ich blieb am Türrahmen stehen und meinte: „Mir ist zwar nicht klar, was sie sich vorstellen, aber SO geht das nicht. Bestimmt nicht. Ich denke, so, wie sie sich jetzt präsentieren, muss ich sie darum bitten, dass sie dieses Zimmer verlassen!“

Mein - mein Besucher lief in einem immer enger werdenden Kreis unter der Deckenlampe herum. Aber wirklich genau so wie ein Nachtfalter. Was für ein Wahnsinn. Er fuchtelte auch dauernd mit den Armen herum. Wie Flügel: Zack, zack links und rechts durch die Luft.

Ich fing wieder an: „... und darf ich sie bitten, dass sie dieses Zimmer verlassen. JETZT!“

Der Bursche schnaufte oder schnaubte, was weiß ich, und brüllte: „Du darfst überhaupt nichts, Freundchen. Du hast gar nichts zu dürfen. Du wirst jetzt auf der Stelle dein Zeug packen und mitkommen. Los, los, der Wagen steht unten!“

Ich dachte, schau dich mal um‚ vielleicht siehst du die Kamera, die das alles aufnimmt. Denn genau so stelle ich mir Aufnahmen für Szenen der „Versteckten Kamera“ vor. Ziemlich krank im Kopf, das alles.

Nur dass ich das nicht sehr lange dachte. Aber es half, diesen Auftritt eine Spur oder zwei weniger ernst zu nehmen, als er gemeint war. Und, ohjunge, es war SEHR ernst gemeint!

Was dann passierte, während dieser Bursche wie ein Nachtfalter im Zimmer herumtobte -, was also dann passierte, mir ging auf, dass ich über derartige Szenen immerhin schon gelesen hatte. Und zwar in Reportagen und Büchern über die Zustände in Europa während der Naziherrschaft. Nicht zu vergessen die Stalin-Ära m sogenannten Ostblock. Wer in diesen Diktaturen, deren ideologische Grundlagen in Deutschland ausgebrütet wurden (durch Marx und Hitler), nicht angepasst war, geriet automatisch ins Fadenkreuz der psycho­tischen Machthaber und musste damit rechnen, eines Tages ungebetenen Besuch vor der Tür stehen zu haben, der losbrüllte: „Los, mitkommen, der Wagen steht unten!“

Damit der ganze Horror verständlich wird, der sich damals bei mir abspielte, muss ich zuerst noch ein paar persönliche Details a la Charles Dickens liefern. Noch wichtiger ist aber, dass ich vorher erkläre, W0 sich der ganze Horror abspielte - eben im westdeutschen Bundesland Spezialdemokratien, das wegen seiner soziopolitischen Strukturen zu einer Art Brückenkopf der DDR in der alten westdeutschen Bonner Republik ausgebaut worden war.

Diese Verbindung führte dazu, dass direkt nach dem Fall der Berliner Mauer Spezialdemokratien und das alte Herzland der DDR, der SED und der Stasi, nämlich Brandenburg, eine sogenannte Länderpartnerschaft schlossen, in deren Rahmen die alten Ost/West-Seilschaften und DDR-Nostalgiker von der untergegangenen DDR soviel wie möglich zu retten versuchten - vor allem den „Geist“ der DDR, der SED und der Stasi.

Spezialdemokratien avancierte zu nichts weniger als einem Rückzugs- und Ruheraum für die Kräfte der alten Ost/West-Seilschaften. Ihre Absichten liefen darauf hinaus, von Brandenburg im Osten und Spezialdemokratien im Westen das ganze Land so in die Zange zu nehmen, dass schließlich eine Art „DDR light“ entstehen würde: ein Musterland mit Vorbildfunktion - zuerst für Europa und dann für die ganze Welt. Der alte Zwangsbeglückungswahn, der schon den Ersten Weltkrieg mit vom Zaun brach: Am deutschen Wesen soll die Welt genesen - und dieser ganze Ideologieschrott aus den deutschen Elfenbeintürmen, die seit der sogenannten Wiedervereinigung Stück für Stück restauriert werden (sogar das verdammte Kaiserschloss soll wieder aufgebaut werden - wahrscheinlich sobald das Rheingold gefunden wird...).

Ich kann von Glück sagen, an einem Stück dort rausgekommen zu sein - schließlich ist man in Spezialdemokratien nur dann ein legitimes Mitglied der Gesellschaft, wenn man den Kopf unterm Arm trägt. Wer seinen Kopf oben behalten will, wird eben „passend“ gemacht - das haben totalitäre Gesellschaftssysteme einfach so an sich. Weil ich schon erwachsen war, als ich ihnen in die Falle ging, mussten kryptofaschistische Nazinachfahren wie Miss Bildung und Miss Handlung und später auch noch ein Monster wie Sag-Rolf-zu-mir besonders krasse Methoden und Mittel anwenden, um mich auf das spezialdemokratische Normmaß zu reduzieren - als gelernte Pä-da-go-gen wäre es ihnen natürlich lieber gewesen, ich wäre ihnen als Kind in die Hände gefallen, eben so wie die total verkorksten lieben Kleinen von Miss Bildung und Miss Handlung, der beiden Nazitöchter. In diesem Milieu der Monster und Zombies wurden und werden die Kinder schließlich schon mit den Kopf unterm Arm geboren - und zwar schon seit x Generationen, genau genommen. Für diese Deutschen entspricht das dem Normalzustand, sonst hätten sie die Weltkriege nicht so perfekt vom Zaun brechen können - für die Inszenierung von Horror sind entsprechend früh vorkonditionierte Monster nötig, also operiert man von den Schulen aus. Oder, wie früher in der alten DDR und jetzt in Spezialdemokratien, sogar gleich schon im verdammten Kindergarten.

Wenigstens ist mir in Spezialdemokratien, vor allem natürlich durch den Alltag in der Gesellschaft der schizophrenen Nazikinder wie Miss Bildung und Miss Handlung, klargeworden, dass ich mit meinen nächsten Verwandten richtig viel Glück hatte - mit meinen Erzeugern, meine ich. Selbst wenn ich mit ihnen als Eltern richtig zusammen gewesen wäre - also als Familie und alles -‚ wäre ich nicht annähernd so verkorkst worden wie Sunny, der Sohn von Miss Handlung, und Lucy, die Pseudolesbe, Miss Bildungs große Tochter.

Wenn ich eine Mutter wie die beiden verdrehten Nazitöchter gehabt hätte, die mir dieses einköpfige Abholkommando auf den Hals hetzten, wäre ich schon mit drei Jahren lieber aus dem nächsten Fenster gesprungen.

Höchstens mit meinen Erzeuger, Colonel D. B. Singer sen. würde ich mich heute manchmal herumzanken - weil er eben in Westdeutschland, in der Region zwischen München und Salzburg, blond bezopften Gretls nachhechelte.

Weil ich nur in meinen ersten sechs Jahren mit meinem Erzeuger zu tun hatte, kann ich mich nur eher vage an ihn erinnern, und meine Verwandten sprachen später auch nur wenig über ihn. Zum einen war er wegen seiner Freizeitbeschäftigung mit den vielen Gretls fast die Persona non grata der Familie, und andererseits galt er als Angehöriger des Militärs irgendwie aus der Art geschlagen. Ich meine, alle waren schon stolz darauf, dass er ganz am Anfang seiner Karriere seinen Unijob sausen ließ und gegen die Nazis arbeitete und alles, aber man nahm es ihm übel, dass er dann später in diesem Verein blieb - beim Militär, meine ich. Obwohl er nur Kulturoffizier war und Umerziehungsprogramme für die Deutschen mitentwickelte.

Er machte den Kalten Krieg mit und alles, statt wieder Zivilist zu werden und als Dozent an die Universität zurückzugeben wie sein jüngerer Bruder, Prof senior, bei dem ich die Zeit nach meinem sechsten Geburtstag zubrachte. Prof senior kannte überhaupt nichts anderes als das Leben im universitären Elfenbeinturm, und das ist ein wesentlicher Grund, warum ich auch am liebsten in diesem Turm lebte. Bis ich eben in Spezialdemokratien von jetzt auf gleich rausgeworfen wurde, weil ich mich demonstrativ geweigert hatte, mich zum Hühnchen konditionieren zu lassen.

Mein Erzeuger gehörte im Kalten Krieg bestimmt nicht zu den Falken (schließlich sympathisieren wir alle mit der Demokratischen Partei, bestimmt nicht mit den Republikanern), aber Prof senior war als ständiger Elfenbeinturmbewohner logischerweise eine Taube (durch und durch), und die Zeit mit ihm ging natürlich nicht spurlos an mir vorbei. Als ich jedenfalls nach Spezialdemokratien kam, war ich auch eine Taube, und eben deshalb merkte ich zuerst überhaupt nicht, dass Spezialdemokratien eine einzige riesige Hühnerlegebatterie ist, in die ich mich auch einfügen sollte.

Von heute aus gesehen muss ich sagen, der große Nachteil der Taube ist, dass sie so leicht in die Falle geht. Jemand hält ihr einen Köder hin, und als nächstes dreht man ihr schon den Hals um. Ende, over und aus. Am besten, man wird gleich als Eule geboren - Eulen sind klug und können verdammt gut sehen.

Was Spezialdemokratien angeht, scheinen Eulen ausgestorben zu sein. Ich sah jedenfalls nur Hühner, DEUTSCHE Hühner, und die Deutschen müssen ja immer alles gleich im Extrem praktizieren.

In der Hitler-Epoche waren sie verrückt nach totalem Krieg, und später waren viele ganz besessen von der Idee, möglichst ganz Deutschland in eine gigantische Hühnerbatterie zu verwandeln.

Im Osten, also in der DDR, machten sie sich auch sofort an die Arbeit, und logischerweise kam jede Menge Beschiss dabei heraus. Und im Westen wollen sie immer noch nichts weniger als die Zukunftsgesellschaft erschaffen - zuerst in Spezialdemokratien zu verwirklichen, morgen in ganz Deutschland, übermorgen am besten in ganz Europa und später am liebsten überall in der Welt. Die neuen Mustermenschen für die ideale Zukunft bekommen dann einen Strichcode verpasst - die minimalen Unterschiede zwischen den Strichcodes kennzeichnen dann die individuelle Identität. Herzlichen Glückwunsch!

Die Art, wie bestimmte Mustermenschen in Deutschland größten Wert darauf legen, neue totalitäre Verhältnisse vom Zaun zu brechen, wäre glattweg zum Losbrüllen vor lauter Lachen, wenn die Folgen wie üblich nicht so entsetzlich wären. Man kann ihnen das aber leider nicht klarmachen - dass sie gemeingefährlichen Blödsinn anstellen, meine ich, und nach wie vor ständig von einem Extrem ins andere fallen und dadurch einen verdammten Teufelskreis fortsetzen.

In ihrer chronischen Selbstunsicherheit leiden sie immer noch unter dermaßen viel Lebensangst‚ dass sie sich bis zum Anschlag aus dem Fenster hängen, sobald es darum geht, irgendeinen Blödsinn anzustellen, sich selber zu ver­leugnen oder sich sonst irgendwie zu schaden. Diese sagenhafte Angst kann einen schon umwerfen - wortwörtlich. Man muss sich nur lange genug in Deutschland aufhalten, dann bekommt man es irgendwann auch mit der Angst zu tun. Damit meine ich leider nicht nur bestimmte Einzelheiten wie zum Beispiel die Waldsterbenshysterie und so weiter, sondern es dreht sich, sobald man in Deutschland gewisse Erfahrungen gemacht (und überlebt) hat, um ziemlich elementare Fragen. Etwa um solche: Auch wenn das, was mir im Musterbundesland Spezialdemokratien alles passierte, ein Ausnahmefall gewesen sein sollte - wie kann so etwas in einem Rechtsstaat überhaupt vorkommen? Und: Wann und wie wollen oder können die Deutschen endlich aus ihrem pubertären Zustand herauskommen und endlich erwachsen werden?

Fakt ist: Solange sie das nicht schaffen, haben sie einfach keine Chance‚ in ihrem Land, also in der Gesellschaft, eine normale Erwachsenenwelt aufzubauen. Wozu eben auch die absolute Verbindlichkeit rechtsstaatlicher Normen im Alltagsleben gehört. Man kann von Pseudoerwachsenen, die unter psychischen und sozialen Entwicklungsstörungen leiden, und zwar schon in der x-ten Generation, nicht erwarten, dass sie tatsächlich fähig sind, sachlich und möglichst objektiv zu reflektieren‚ was für einen Fall von zurückgebliebener Entwicklung sie darstellen.

Der gravierendste Fall von Zurückgebliebenheit war wohl Adolf Hitler. Ein Musterbeispiel für gestörte Entwicklung. Wie zu seiner Zeit üblich, kam auch Hitler als Kind und Jugendlicher, also in der prägenden Phase, nie ans seiner kleinen Welt heraus. Aus seinem Umfeld, meine ich - seinem sozio-kulturellen Mikrokosmos, wie man als Sozialwissenschaftler sagt. Also bekam er gleich eine doppelte Hemmung serviert, und das war eben auch sein Pech - und das der gesamten Welt: dass er, der kleine A.H.‚ sie leider nicht kennenlernen durfte - die große Welt.

Wie ich dagegen etwa. Ohjunge, bin ich vielleicht durch die Gegend gereicht worden, früher als kleiner Junge. Davon muss ich ihnen später noch etwas mehr erzählen. Jedenfalls: Was ich an Herumjetten zu viel hatte, blieb Jemandem wie A.H. komplett vorenthalten, und ich wette, wenn nur ein halbwegs vernünftiger Kopf in seiner Familie rechtzeitig auf die Idee gekommen wäre, dem kleinen A.H. einen Globus zu schenken, wäre ihm früh bewusst geworden, wie groß die Welt ist, und vor diesem erweiterten Horizont hätte er wahrscheinlich gar nicht erst die fixe Idee entwickeln können, sie überfallen und unterwerfen zu wollen.

Einer der Hauptgründe, warum die Deutschen heute die absoluten Weltmeister im Herumreisen sind, ist eben das unbewusste Motiv, endlich - ENDLICH - ENDLICH einen größeren, weiteren Horizont zu bekommen. Jeder weltreisende Deutsche möchte dem kleinen Adolf H.‚ den er insgeheim in sich herumträgt‚ ENDLICH einen größeren, weiteren Überblick verschaffen. Ich will verdammt hoffen, dass sie es in absehbarer Zeit schaffen. Richtig Sorgen machen müsste man sich wohl erst dann, wenn sie plötzlich anfangen würden‚ nur noch zu Haus herumzuhängen.

Natürlich ist Adolf H. und alles, was mit ihm direkt oder indirekt zusammen­hängt, auch schuld daran, dass an diesem 23. April das Abholkommando vor der Tür stand und in bester Tradition brüllte: „Los mitkommen, der Wagen steht unten!“

Ich wünschte wirklich, mein Cousin Phil Baumgartner hätte damals dabei sein können. Er ist eben Professor für Psychologie drüben in den U.S.A. Möglicherweise haben sie schon von ihm gehört oder gelesen. Er hat vor Jahren dieses Buch herausgebracht „HEILT HITLER! DIE PATHOGENESE EINES SÜNDENBOCKS“.

Das Thema entdeckte er eigentlich nur durch Zufall. Ursprünglich war mein Cousin nur im Sex-Geschäft tätig. Das heißt, er therapierte Sexualneurotiker und Psychosen. In einer klassisch puritanischen Gesellschaft ist in dieser Hinsicht fast Jeder ein potenzieller Patient.

Prof Baumgartner verdiente sich mit der Arbeit in seiner Praxis am Central Park Süd so viele Meriten, dass man ihm eine Dozentur antrug. Und natürlich wegen seiner bekannten Bücher - dem zweiten, dem genannten Hitler-Buch, und dem, das er zuerst schrieb, und zwar über eine ziemlich perverse Tante: „DAS UNITY MIDFORD-SYNDROM“. Darin analysiert mein Cousin die Biographien von Frauen, die eigentlich nicht den geringsten Grund hätten, sich Sorgen machen zu müssen, was sie aber so langweilt, dass sie dem Ärger sozusagen hinterherlaufen.

Eben so wie diese Miss Unity Midford. Was sie nämlich machte, sie lief Adolf Hitler hinterher. Eine britische Adelige auf der verzweifelten Suche nach elementaren existentiellen Erlebnissen. Wie zum Beispiel Vergewaltigung oder pro Woche ein blaues Auge. Oder eine tägliche Tracht Prügel. Es ist einfach irre. Ich meine, mit ihnen, mit diesen Frauen. Mit Ausnahme meiner einzigen Freundin kommen sie mir alle ziemlich verdreht vor.

Natürlich ist es nur logisch, dass mein Cousin sich mit diesen Themen herumschlägt. Mit Psyche und Sex und allem. Er ist auch in London groß geworden, und da liegt der Stoff für Bücher wie das über Miss Midford sozusagen auf der Straße. Die britische Mittel- und Oberschicht ist männlicherseits so unglaublich schwul, dass die Frauen sich praktisch genötigt fühlen, sich in die Arme von Automechanikern oder Möbelpackern zu werfen. Oder sie laufen einfach einem Diktator hinterher. Wie eben Midford diesem Hitler.

Was meinen Cousin dazu brachte, sich näher mit Hitlers verdammter Biographie zu beschäftigen, und was er herausfand, läuft darauf hinaus, dass A. H. deshalb versuchte, die Welt in Schutt und Asche zu legen, weil er unter paranoid-halluzinatorischer Psychose litt. Einer Krankheit, die zum Formenkreis der Schizophrenie gehört und mit seiner Entwicklungsstörung zusammenhängt.

In „HEILT HITLER - DIE PATHOGENESE EINES SÜNDENBOCKS“ steht genau, wann der Ansatz zu dieser Symptomatik gesetzt wurde: Anfang des 20. Jahrhunderts, in Wien, an einer dieser typischen mitteleuropäischen Kunstakademien, deren Professoren ihr Leben lang nicht aus ihren Scheißwolkenkuckucksheimen herausgekommen sind. Hitler produzierte ja diese Zeichnungen.

Ich meine, ich verstehe absolut NICHTS von Malerei und allem, und außer den Bildern von Edward Hopper bedeutet mir diese ganze Kunst überhaupt nichts. Mir ist lediglich klar, dass ALLES SEHR RELATIV ist.

Ich meine all diese Bewertungen und Kategorisierungen in „KUNST“ oder in „NICHT KUNST“ und so weiter. Falls sie es genau wissen wollen, es zieht mir glatt die Schuhe aus, wenn ich mitkriege‚ nach welchen Kriterien da geurteilt wird. Und nicht zuletzt: WER da urteilt. Sollten Sie irgendwann Lust bekommen, einen Haufen aufgeblasener‚ besserwisserischer Schwindler zu erleben, dann besuchen Sie die Eröffnung einer Museumsausstellung. Oder sonst einen verdammten Kulturevent. Soll heißen, falls man Sie überhaupt einlässt. Am besten, Sie präsentieren sich schon vor dem Eingang als aufgeblasener besserwisserischer Schwindler, dann haben Sie bessere Karten. Unter Ihresgleichen fühlen diese Poser sich am sichersten.

Natürlich ließen diese Hofschranzen und eingebildeten Nullen mit ihrer Beamtenmentalität den jungen A. H. direkt gegen die Wand fahren. Vielleicht hatte er bei seinem Auftritt vor der Kommission auch nicht unbedingt die passenden Sachen an - er hätte vorher besser noch bei einem verdammten Kostümverleih vorbeigehen sollen, um sich entsprechend in Schale zu werfen. Kleider machen bekanntlich Leute. Dann wäre er womöglich akzeptiert worden und die Welt hätte nie von A.H. gehört.

Zwischen dieser vermeidbar gewesenen Abfuhr als Maler und den Jahren seiner schweren Traumatisierungen als Soldat des Kaisers im Ersten Weltkrieg lagen offensichtlich die Jahre, in denen sich schließlich seine Pathologie entwickelte.

Der Erste Weltkrieg konnte immerhin auch nur darum ausbrechen, weil die Herrscher in Europa und ihre Völker kaum eine Vorstellung davon besaßen, wie groß und kompliziert die Welt ist. Und das Leben darin. Falls jemand von Ihnen es vergessen haben sollte, stammte Hitler aus Braunau in Oberösterreich, und weil die Herrscher in Wien, die Habsburger, mit den Deutschen alliiert waren, wandten sie sich zusammen gegen den Rest der Welt, von dem sie nicht wussten, wie groß er war. Das muss einem aus heutiger Sicht schon alles sehr naiv vorkommen. Und jetzt stellen Sie sich vor, der kleine Gefreite Hitler gehörte mit dazu. Heute würde ein Fall wie seiner gleich bei der Musterungsstelle erkannt und auf der Stelle rausgefädelt. Man würde ihn entweder in eine Klinik einweisen oder ambulant behandeln. Jedenfalls könnte man ihn vernünftig therapieren.

Aber damals, zu seiner Zeit, 1914 und vorher und danach auch noch lange, war man noch nicht soweit. Die Militärs nahmen jeden, den sie kriegen konnten. Wobei sich niemand darüber klargewesen sein dürfte, worauf man sich einließ. (Insgeheim dachten wohl die meisten, die Show, die ihnen bevorstand, besäße immer noch den guten, alten Turniercharakter. Edle ritterliche Recken im Kampf um den goldenen Pokal. Wie tausend Jahre früher bei Prinz Eisenherz.)

Wie der Erste Weltkrieg tatsächlich ablief, können Sie, wenn Sie noch gesteigerten Wert darauf legen sollten, daraus ersehen wie sich Hitlers Geisteszustand entwickelte. Was er nämlich machte, er identifizierte sich mit Deutschland; der Kampf der Deutschen gegen die Welt entsprach seinem Kampf mit den Professoren der Wiener Kunstakademie, und als Deutschland den Krieg auf für ihn undurchschaubare Weise verlor, sah Hitler in seiner Psychose darin eine Parallele zu seiner eigenen Niederlage als Maler. Prof Baumgartner: „Wäre Hitler als Maler anerkannt worden, hätten ihn die Schrecken des Ersten Weltkriegs möglicherweise sogar zum Pazifisten werden lassen, denn seine natürliche Empfindsamkeit wäre noch lebendig gewesen. Die Förderung seines Maltalents hätte seiner Identität die zusätzliche Dimension einer gewissen Größe geben können. Eben der Größe des Mitleidenkönnens. Der junge Hitler stieß aber nur auf Abwehr und Ignoranz, also auf absolute Mitleidlosigkeit. Entsprechend mitleidlos musste er sich später zwangsweise gegen andere Menschen und die Menschheit überhaupt verhalten.“

Die Hölle ist hier und jetzt

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