Читать книгу Die Hölle ist hier und jetzt - Allison Wonderland - Страница 7
Kapitel 5
ОглавлениеAls ich gleich in der ersten Woche in meinem neuen Zuhause in London zu meiner einzigen Freundin ins Bett kroch, hatte ich garantiert nichts mit Sex im Kopf, sondern nur Fieber.
Ich hatte fast 39° Fieber und mal wieder die übliche Wintergrippe.
Es war damals ganz normal, dass ich nach einer größeren Ortsveränderung zuerst einmal krank wurde. In der Wintersaison und besonders zu Weihnachten, wenn die Kindermädchen mich zu ihren Eltern mitnahmen, die in den kleinen Dörfern am Rand der Alpen wohnten, lag ich fast regelmäßig zuerst ein paar Tage im Bett und hatte Grippe. Man konnte fast schon Wetten darauf abschließen. Abends kamen dann diese Fieberphantasien. Sie waren meist ziemlich scheußlich. Ich weiß nicht mehr, wie spät es war, als ich in dieser Nacht ins Bett meiner einzigen Freundin unter die Decke kroch, aber den Fiebertraum‚ der mich aufgeweckt hatte, werde ich bestimmt nie vergessen. Und zwar bewegte ich mich eine Zimmerwand hinauf, bis ich an ein Bild kam, das dort hing. Neben mir in diesem Bild ragten Kamine in den Himmel, und schließlich kamen Monster aus den Kaminen gekrochen.
Das war schon seltsam, dass ich im Traum plötzlich Ungeheuer sehen konnte, denn ich erinnere mich nicht, bis dahin welche gekannt zu haben - aus Bilderbüchern, meine ich, oder vom Fernsehen. Es hatte mir bis dahin auch niemand Märchen erzählt. Ich war nur an der realen Welt interessiert, also an Menschen und Häuser und Autos und Eisenbahnen oder höchstens noch Flugzeuge oder Raumschiffe, mit denen man zum Mond flog - die Zeitungen waren immer voll davon. Keine Chance für Phantasiegeschichten oder Bilder von irgendwelchen Monstern. Dafür kamen sie aber in den Fieberphantasien regelmäßig daher. Nachdem sie aus den Kaminen herauskrochen, flog ich aus dem Bild an der Wand und unter der Zimmerdecke entlang. Plötzlich verwandelten sich die Monster in Flugmaschinen und jagten mich unter der Zimmerdecke herum. Es handelte sich um alte Doppeldeckerflugzeuge - schwarz angestrichen und ohne Piloten. Ich kann nicht sagen, was sie mit mir vorhatten‚ weil ich zum Glück aufwachte und Schwierigkeiten hatte, mich zu orientieren.
Als mir klar geworden war, wo ich mich befand, schlug ich mich durch zur Tür und durch den endlos langen, dunklen Korridor mit vielen weiteren Bildern und eingebauten Schränken und Regalen voller Bücher und irgendwelchen anderen Sachen, und dann fand ich das Schlafzimmer meiner einzigen Freundin und kletterte bei ihr zwischen die Kissen. Ich war sozusagen nur ein Asylsuchender.
Ich glaube, es dauerte maximal zwei Tage bzw. zwei Nächte, bis ich wieder gesund war, so gut fühlte ich mich dort. Jedenfalls hatte ich in ziemlich kurzer Zeit wieder einen klaren Kopf, so dass ich alles mitbekommen konnte, was sich ungefähr zwei Meter neben mir abspielte. Es herrschte ziemliche Unruhe nebenan - da ergaben sich für mich ganz neue Erkenntnisse. Bis ich viel später einen allgemeinen theoretischen Überblick auf alles bekam, hielt ich meine einzige Freundin für die größte Sexbesessene zwischen London N.W.3 und dem Ende des Regenbogens. Sie war zu dieser Zeit Dreizehn (ich war kurz vorher sechs Jahre alt geworden), und wer sie sah, hätte bestimmt nicht vermutet, zu was sie fähig war. Ich meine in bezug auf ihre phänomenalen Leistungen. Denn wenn sie einmal anfing, hörte sie vorerst nicht mehr auf. Und um genau zu sein, sie fing reichlich oft an. In der Nacht, wenn ich wach wurde und mich bewegte, weil mich die Fieberträume aufschreckten, schien sie überhaupt nicht zu schlafen, weil sie eine Serie nach der anderen hinlegte. Mit der Zeit stellte sich heraus‚ dass sie phasenweise jede halbe Nacht so zubrachte. Ihre Leistung in vierundzwanzig Stunden entsprach meiner Wochenleistung - das beeindruckte mich sehr. Sie war natürlich alles‚ wovon ich bis dahin geträumt hatte - und noch viel mehr, denn ich war schließlich auch richtig verliebt in sie und alles.
Wer sie nicht dermaßen gut kannte wie ich, hätte ihr das alles wohl kaum zugetraut - mit Dreizehn/Vierzehn wirkte sie auf den ersten oberflächlichen Blick eher wie ein neun- oder zehnjähriger Junge, dem ein Ball zum Spielen genügte. Sie ließ sich bei Vidal Sasson‚ dem Modefriseur, ihre sandfarbenen Haare immer ganz kurz schneiden und trug immer nur Jeans und Hemden oder Pullover, aber trotzdem oder grade deshalb war sie die glühendste Feministin auf der ganzen Insel.
Damals am Anfang, als sie Dreizehn war, ging sie schon in die neunte Klasse, weil sie zwei Schuljahre überspringen durfte. Eines Tages machte sie einen IQ-Test, bei dem sie einen Wert von 164 Punkten erreichte - der Durchschnitt liegt gerade mal bei 100. Oberhalb von 130, so heißt es, wird die Luft jedenfalls immer dünner.
In den ersten Tagen, nachdem ich ins Haus gekommen war, hatte sie mich sogar etwas gemobbt (mir Türen vor der Nase zugeschlagen oder das Licht ausgeknipst, wenn ich allein im Zimmer zurückblieb)‚ weil sie sich statt des dummen kleinen Jungen, für den sie mich anfangs hielt, eine größere Freundin wünschte. Schließlich mochte sie die längste Zeit, während wir zusammen waren, Mädchen genauso gern wie ich. Ein paar Jahre später war es dann ja auch endlich so weit - dass sie außer mir noch mehrere RICHTIGE Mädchen ins Spiel brachte, meine ich. Für mich, weil ich natürlich mitspielen durfte, war es damals nur ein erotisches Paradies, aber später ging mir erst richtig auf, was sonst noch alles damit zusammenhing - psychologisch gesehen und gesellschaftlich. Letzten Endes sogar auch politisch - selbstbewusste Mädchen erweisen sich als verdammt schlechte UntertanInnen‚ soviel steht mal fest!
Das alles kam bei mir natürlich ganz hervorragend an; ihre verschiedenen Leistungen beeindruckten mich mächtig. Denn wenn ich noch einen objektiven Beweis für meine persönliche Vermutung brauchte, die Mädchen seien mir in allen wichtigen Belangen überlegen, dann lieferte ihn meine einzige Freundin. Sie bildete sozusagen das letzte noch fehlende Stück im Puzzle; sie lieferte es auf einem Silbertablett. Ich meine, sie präsentierte SICH SELBST auf diesem Silbertablett. Und um gleich zu verraten, worauf es hinauslief: Ich verbrachte die folgenden zwei Jahrzehnte damit, das Silbertablett mit meiner einzigen Freundin darauf mit mir herumzutragen und sie sozusagen anzubeten. Sie war wirklich alles, wovon ich geträumt hatte, und ich bedeutete für sie auch das, was wohl alle Mädchen insgeheim brauchen, wenn sie zwölf oder dreizehn Jahre alt sind - eben jemanden wie mich, so wie ich damals war, der sie anbetet.
Später, als sie doppelt so alt war, Mitte Zwanzig, als ich meine ersten Stories schrieb und mich in meinem Studium eher langweilte und deshalb lieber ihre fünfhundertachtzig Seiten lange Promotionsarbeit in Reinschrift tippte, kam natürlich noch deutlicher heraus, wie nützlich es gewesen war, dass ich gut die Hälfte meiner Kindheit damit verbrachte, vor ihr auf den Knien zu liegen. (Ich meine das übrigens auch ganz wörtlich, denn wie anders hätte ich es fertigbringen sollen, ihr Höschen mit den Zähnen im Zeitlupentempo herunterzuziehen?) Es war schon wirklich eine beeindruckende Vorstellung, IHR EGO zu erleben.
Drei oder vier Jahre später geriet ich diesen anderen Frauen in die Quere, eben den Nazitöchtern, zuerst Miss Bildung und danach noch ihrer Freundin, Miss Handlung, die beide fast meine MÜTTER hätten sein können und alles, und man sollte annehmen, dass Frauen oder überhaupt Leute in diesem Alter wenigstens reif genug sein sollten, um nicht neidisch oder eifersüchtig zu werden, sobald sie mit einer Geschichte konfrontiert werden‚ in der es um ein so seltenes Verhältnis geht wie dem zwischen meiner einzigen Freundin und mir, aber das ist ein verdammter Irrtum.
Ich meine, zu erwarten, solche Leute seien reif genug. Das ist wirklich ein ganz verdammter Irrtum. Denn schließlich sind sie natürlich auch ein Produkt ihrer verkorksten Erziehung. Wenn schon ihre Eltern verdreht waren (und die meisten Eltern sind immerhin reichlich verdreht), dann sind es ihre Kinder wahrscheinlich auch‚ denn sie übernehmen ja die wesentlichen Muster von ihren Alten. Meist wissen sie es überhaupt nicht, aber es ist eben so.
So weit, so schlecht. Und wenn diese Eltern während der Nazizeit zu den Privilegierten gehörten, also mithalfen und mit schuldig wurden, eine extrem verdrehte Wirklichkeit zu schaffen, dann müssen ihre Kinder logischerweise besonders gestört sein.
Ich weiß nichts über die Kinder der kleinen Nazis, der Mitläufer und Opportunisten und so weiter; ich meine, ich kenne persönlich‚ glaube ich, keinen, wenigstens nicht von nahem - jedenfalls nicht so nah wie die beiden Nazitöchter Miss Bildung und Miss Handlung. Die Kinder und Enkel der richtig großen Verbrecher müssen zwangsläufig die verdrehtesten‚ am meisten gestörten menschenähnlichen Wesen sein, denen man außerhalb von Dantes „Inferno“ über den Weg laufen kann. Sie sind so ziemlich auf der kompletten Bandbreite verkorkst. Und es ist das schlimmste, was passieren konnte, dass sie eben seit dem Anfang der orangefarbenen Epoche soviel zu sagen haben - natürlich nicht nur in Spezialdemokratien, sondern in ganz Deutschland. Zuerst wurden die Bewohner von Spezialdemokratien systematisch verdreht, und nachdem die Generation der Nazikinder auf allen Ebenen an die Macht kam, gaben sie sich die größte Mühe, mit ihrer Politik, die sie in ihren gestörten Gehirnen ausbrüteten, das ganze Land auf den Kopf zu stellen - so sehr, dass man es wahrscheinlich nie mehr in den Griff bekommen kann. Ich meine, um Sachen wie Sinn und Vernunft wieder auf die Beine zu stellen und alles.
Was meinen Erzeuger angeht, könnte seine Arbeit im Kalten Krieg dazu geführt haben, dass ihm die Augen ein gutes Stück weiter aufgingen, als den ständig wohlmeinenden Theoretikern in ihren Elfenbeintürmen‚ also Leuten wie mir, weil er nach seiner Zeit als Prof für Politische Wissenschaften das Geschäft von der anderen, von der richtigen Seite erlebte: IN DER PRAXIS.
Leider bekam ich davon aber nichts mit - ich meine, von seinen praktischen Erfahrungen und Erkenntnissen. Niemand kann sich eine Vorstellung davon machen, wie sehr ich mir heute wünsche, wir könnten das alles nachholen. Ich meine, mein Erzeuger und ich - irgendwo wochenlang zu zweit an einem Tisch sitzend und redend. Über unsere praktischen Erfahrungen.
Wie sehr ich mir das jetzt vielleicht wünsche! Ich könnte ihm HEUTE erklären, dass ich seine Arbeit gegenwärtig zumindest respektiere. Und eventuell noch mehr als das. Ohjunge, das wären wirklich sensationelle Töne. Denn dadurch, dass ich kurz vor meinem sechsten Geburtstag zu Prof senior zog, dem Bruder meines Erzeugers, wuchs der Abstand zwischen uns nicht nur in räumlicher Hinsicht, sondern überhaupt. Prof senior‚ eben in seiner Eigenschaft als Taube und Elfenbeinturmbewohner, und natürlich meine einzige Freundin standen mir einfach viel näher.
Es brauchte wirklich und wahrhaftig die Stasi, also den Geheimdienst der alten DDR, um damit anzufangen, die Arbeit meines Erzeugers aus einem neuen Blickwinkel zu sehen. Genau genommen brauchte es einen Teil des Stasi-Archivs, zu dem einer der Kulturfunktionäre, mit denen ich mich in Spezialdemokratien herumschlagen musste, anscheinend direkten Zugriff hatte, obwohl die alte DDR damals rein völkerrechtlich schon nicht mehr existierte - und das Stasi-Archiv angeblich in sicheren Händen sein sollte. Ich behalte den Namen dieses Kulturfunktionärs lieber für mich - schließlich ist er auch nicht der einzige Übriggebliebene.
Ohjunge, war er vielleicht angesäuert, als er mir einen Essay zeigte, den mein Erzeuger in den frühen 70er Jahren für ein Magazin geschrieben hatte. Es drehte sich dabei natürlich um die Deutschen und ihr Land und alles. Ich bekam das Papier sozusagen vor den Latz geknallt. Ich schätze, wenn ein Staatsanwalt oder ein Untersuchungsrichter endlich Beweismaterial gegen einen hartnäckig schweigenden Beschuldigten gefunden haben, benehmen sie sich genauso. Jedenfalls standen solche Äußerungen, wie mein Erzeuger sie damals geschrieben hatte, im wiedervereinigten Deutschland, wo zusammenwuchs, was zusammengehört, nicht unbedingt weit oben auf der Beliebtheitsskala. Wenn ich, nachdem mir das Papier vorgehalten wurde‚ wenigstens noch auf allen Vieren durch den Staub gekrochen wäre und mich von allem distanziert hätte - das Hohe Gericht hätte mir dann vielleicht nicht unbedingt die Todesstrafe verhängt. Aber was machte ich - ich verhielt mich auch noch demonstrativ widerspenstig. Da konnte das Hohe Gericht schließlich gar nicht anders. Und dieser Essay war immerhin auch nur ein Indiz in einer ganzen Kette von Beweisen, dass ich für das Leben in Spezialdemokratien – womöglich sogar in ganz Deutschland, dem neuen, alten, wiedervereinigten Deutschland - ohne ernsthafte pä-da-go-gi-sche Maßnahmen nicht qualifiziert war.
Okay - und das ist jetzt die Gelegenheit, hier den kompletten Text dieses Essays zu präsentieren. Ich bin verdammt gespannt, wie er ankommt:
„Unter anderem als Folge der kleinstaatlichen Isolation bis 1871 sind die Bewohner dieser Sprachregion zurückgeblieben in ihrer Entwicklung. Der andere Grund hierfür liegt ganz einfach darin, dass die Deutschen, genau wie die ähnlich zurückgebliebenen östlichen Nachbarn, allzu lange Zeit über keine Hochsee-Schifffahrt verfügten. Eine unmittelbare Folge dieser (im direkten Sinn des Begriffs) WELTFREMDHEIT ist die charakteristische brisante Mischung aus Lebensangst und Paranoia, wie sie schließlich Anfang des 20. Jahrhunderts eskalierte und zu den beiden Weltkriegen führte.
Als Spätentwickler sind die Deutschen zwangsläufig klassische Neurotiker oder sogar potenzielle Borderliner‚ und als solche kann ihre chronische Angst sie jederzeit in kollektive Hysterie versetzen.
Als Spätentwickler werden sie noch sehr lange unter einem ungefestigten Charakter leiden. Infolge dessen hatten sie auch nicht die Möglichkeit, noch innerhalb der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu AUTHENTISCH entwickelten Demokraten zu werden - mit allem, was eben dazugehört, z.B. Werte wie individuelles Selbstbewusstsein oder Zivilcourage.
In ihrem psycho-sozial chronisch retardierten Zustand waren viele (höchstwahrscheinlich sogar die Mehrheit) auch keine richtigen Nazis (im Sinne ihrer „Führer“); vielmehr glichen sie besonders nach dem Ersten Weltkrieg schwerst traumatisierten, extrem irritierten Kindern, die sozusagen ihre Eltern verloren hatten und in Hitler (Vater) sowie in der Nazi-Partei (Mutter) Ersatz zu finden glaubten: Ersatz für Zuneigung (Gemütlichkeit bzw. Schutz gegenüber der großen, unbekannten Außenwelt) und Ernährung.
Viele liefen Hitler ganz einfach deshalb nach, weil er ihnen endlich wieder, wenigstens sonntags, ein Huhn im Topf versprach. In ihrem ungefestigten, unerwachsenen Zustand unterwarfen sie sich um diese Gegenleistung höchst bereitwillig dem Nazismus, denn logischerweise fehlte es ihnen auch an eigener, individueller Identität.
Als sich schließlich herausstellte, dass nicht nur die Hühner ausblieben, sondern auch keine Töpfe mehr vorhanden waren, kamen die Amerikaner daher und verteilten Schokolade - woraufhin die meisten (West-)Deutschen auf der Stelle den Amerikanern hinterherliefen, so wie zuvor Hitler. Der neue Vater hieß ab jetzt ganz einfach nicht mehr „Führer“, sondern „Onkel Sam“ bzw. „Ami“. (Die Russen konnten den Ostdeutschen zwar keine Schokolade geben, dafür aber eine Ideologie, also eine Art Philosophie, und damit erhielt der Affe dieser Elfenbeinturmbewohner genau die Dosis Zucker, an die sie seit Nietzsche & Co. gewöhnt waren. Soll heißen: Die Russen machten die Ostdeutschen tragikomischerweise noch eine Spur deutscher als deutsch, obwohl sie eigentlich doch reichlich Gründe hatten, sich genau davor zu fürchten).
Im Westen dagegen fraßen die Deutschen dem neuen (Über-)Vater buchstäblich die Schokolade aus der Hand. Und als der Marshall-Plan und Wirtschaftsminister Erhard ihnen erneut ein Huhn im Topf in Aussicht stellten (jetzt aber täglich, nicht nur sonntags), wenn sie als Gegenleistung demokratisch würden, präsentierten sich die Westdeutschen wie brave Chorknaben und nickten gehorsam (Hände an der Hosennaht - an der auf zivil getrimmten früheren Militärhose) und wollten auf der Stelle Demokraten sein.
Doch Menschen, die naiv genug sind, zu glauben, Demokratie sei lediglich ein satter Bauch, haben die wesentlichen Faktoren leider nicht verstanden. 1943 jubelten die Berliner Massen Goebbels zu, als er seine Sportpalast-Rede hielt und zum totalen Krieg aufhetzte. Dieselben Leute, lediglich rein physisch - aber eben nicht reifemäßig - zwanzig Jahre älter geworden, jubelten 1963 Präsident Kennedy zu, als er ausrief, er sei ein Berliner. Wie er uns später hinter den Kulissen verriet, hatte er auch den Eindruck, mehreren hunderttausend Kindern gegenüberzustehen, die an seinen Lippen hingen, und wenn er, ihr aktueller Über-Vater, ihnen den Auftrag gegeben hätte, auf der Stelle hinzugeben und die Mauer niederzureißen, wären fast alle auf der Stelle losgelaufen und hätten wahrscheinlich wenigstens den Versuch gestartet, wirklich und wahrhaftig die Mauer zu stürmen. (In diesem Zusammenhang der Hinweis, dass Kanzler Adenauer sich immer vor den (Zitat) „gläubigen Augen“ seiner Wähler fürchtete.) Die latente Bereitschaft dieser Menschen, sich, besonders in der Masse, manipulieren zu lassen, ist nach wie vor groß.
Sollten die Deutschen jemals (wieder) auf die Idee kommen, die Welt retten, beglücken oder sonstwie missionieren zu wollen, dann gnade jedem, der darauf besteht, seine Identität als Individuum bewahren zu wollen. In ihrer Gründlichkeit würden sie zu diesem Zweck wahrscheinlich wieder eine spezielle Partei gründen (oder sogar mehrere, schließlich will man ja demokratisch sein), um mit ihren Strukturen alles und jeden in den Griff zu bekommen. Wehe, jemand tanzt dann noch irgendwie aus der Reihe! Es mag ein Kindergarten sein, nach wie vor, aber logischerweise muss es in ihm sehr geordnet zugehen.“
Anders als Prof senior hätte mir mein Erzeuger wahrscheinlich vorhersagen können, dass es in Deutschland - und besonders im Kulturgeschäft - von durch und durch verdrehten Nazinachfahren wie Miss Bildung und Miss Handlung und Sag-Rolf-zu-mir nur so wimmelt. Und dass es glattweg lebensgefährlich ausgehen kann, wenn man nicht darauf vorbereitet ist, mit all diesen realitätsfernen Leuten klarkommen zu müssen. Zum Beispiel, dass sie einen eben nur dann respektieren, wenn man auch den Kopf unterm Arm trägt. Und dass sie einem den Hintern an die Wand nageln, sobald man sich als Dissident herausgestellt hat, der seine Identität behalten und sich nicht verrücktmachen lassen will. Und der keinen Wert drauf legt, an ihre phantastische Maschine angeschlossen zu werden, die nur Mittelmäßigkeit anerkennt und auch nur verdammte Mittelmäßigkeit herstellt.
Prof senior lehrte Psychologie und Sozialphilosophie und zog Anfang der 50er Jahre nach London, weil er die Kommunistenhysterie in Amerika nicht länger ertrug, die der Senator McCarthy im ganzen Land verbreitete. Es war eben die Epoche des Kalten Kriegs - die Sowjetunion und China drohten, die ganze Welt erobern zu wollen, und Prof senior fand sowohl das Getue der Kommunisten als auch das der Antikommunisten einfach nur kindisch und wollte nichts mit ihnen zu schaffen haben. Prof senior war Sokratiker. Der alte Sokrates handelte sich schließlich dadurch jede Menge Freunde ein, indem er als seine Hauptthese den Satz „Ich weiß, dass ich nichts weiß“ aufstellte.
Das entsprach im Prinzip genau der Art, wie Prof senior auch dachte. Ihm war nur klar, dass er nicht wusste, welche Seite er im Kalten Krieg einnehmen sollte. Aber nicht, weil er politisch zu naiv gewesen wäre oder doch insgeheim mit einer bestimmten Seite sympathisierte, sondern einzig und allein weil er jede Art von Krieg, egal ob heiß oder kalt oder sonstwie‚ als alberne Spielchen verstand, die von kindisch gebliebenen Charakteren betrieben wurden. Prof senior sah Politiker und Militärs natürlich in erster Linie aus der Perspektive seiner Wissenschaften. Für den Psychologen in ihm waren ideologische Auseinandersetzungen vor allem die Fortsetzung unterdrückter Konflikte aus der Kindheit und Pubertätsphase. In einem seiner Bücher schrieb er auch, man könnte Militärleute selbst in Zivilkleidung leicht an den ständig abgekauten Fingernägeln erkennen - und selbstverständlich an ihrer Ausdrucksweise. Die Mehrzahl der Militärleute sei nicht aus der Analphase herausgekommen, und die Ausbilder, also diese Unteroffizierstypen, die eingesetzt werden, um Rekruten herumzuscheuchen‚ verrieten ihre chronisch gewordene Analfixierung schließlich auch durch die einschlägigen Schimpfwörter, mit denen sie ständig um sich werfen - übrigens ganz egal in welchem Land. Diese Leute sind die geborenen infantilen Sadisten.
Prof senior, mein Onkel, änderte aber nicht nur ganz demonstrativ seinen Wohnsitz, sondern er nahm auch noch den Geburtsnamen seiner Mutter an. Deswegen heißen seine beiden Kinder, meine einzige Freundin und mein Cousin in New York, Baumgartner statt Singer.
Eigentlich sind sie gar nicht seine richtigen Kinder, leiblich, meine ich, aber das erzähle ich erst später. Ich muss Ihnen jetzt erklären, dass mein Onkel die Namensänderung wirklich und wahrhaftig deshalb vornehmen ließ, weil sein zwei Jahre älterer Bruder, also mein Erzeuger, Colonel D.B. Singer‚ nicht aufhörte‚ für Onkel Sams Geheimdienst zu arbeiten. Dass mein Erzeuger es unter anderem vielleicht auch deshalb machte, weil er so leichter blondbezopften Gretls nachlaufen konnte, war aus Prof seniors Sicht nur eine Strategie, vor Mama S. fortzulaufen‚ oder sich eben auf einem anderen Kontinent vor ihr zu verstecken. Vor all den Neurosen und Komplexen, die sie verursacht hatte.
Prof senior war derartig schlecht zu sprechen auf meinen Erzeuger‚ dass er, wie er manchmal sagte, ihn nur getroffen hätte, um ihn zu therapieren. Obwohl sie doch nach Prof seniors Umzug beide in Europa wohnten, trafen sie sich, soviel mir bekannt ist, kein einziges Mal; höchstens telefonierten sie zwei- oder dreimal im Jahr miteinander. Und während mein Erzeuger logischerweise oft in die USA reiste, setzte mein Onkel nach seinem Umzug nach London kein einziges Mal mehr einen Fuß auf amerikanischen Boden. Er meinte, dieser Boden sei durch und durch blutgetränkt und es würde darauf nichts Gutes wachsen können. Die durchschnittlichen Amerikaner mit ihrem grenzenlos scheinenden Konsumfetischismus und den an jeder dritten Ecke frei erhältlichen Schusswaffen waren ihm natürlich immer schon absolut fremd geblieben, aber die vielen Attentate auf Politiker und Bürgerrechtler in den 60er Jahren erzeugten in Prof senior eine Mischung aus Angst und Ekel, was die USA betraf.
Prof senior fand die Vorstellung entsetzlich, in einem Land gelebt zu haben, das so verdammt jung war wie die USA. Er meinte, gemessen an europäischen Verhältnissen hätte das Land überhaupt keine Geschichte und deshalb auch keine Kultur. Die Tatsache, dass er sich in einem Land befand, dessen durchschnittliche Bevölkerung mit Namen wie Freud oder Jung oder Adler nichts anzufangen wusste‚ war allein schon ganz großartig dafür geeignet, meinen Onkel irgendwann seine Sachen packen zu lassen - und zwar eher früher als später. (Es wurde schließlich doch etwas später, weil Mama S. natürlich auch bei ihm klammerte.)
Dass er theoretisch Städte im Westen wie Reno, Nevada, oder Flagstaff, Arizona, besuchen konnte, ohne zuerst wochenlang mit der Botschaft eines sehr fremdartigen‚ exotischen Landes in mindestens zehntausend Meilen Entfernung über die Einreisebedingungen streiten zu müssen, fand Prof senior schwer zu verstehen. Als Kind hatte er auch ganz besondere Schulen besuchen müssen, denn die Anwesenheit Gleichaltriger‚ von denen die meisten Baseball spielten oder Football‚ und die bei sich zuhaus in einer Cowboyausrüstung herumtobten, wäre für ihn zum auslösenden Faktor für massivste Entwicklungsschäden geworden - das beteuerte er noch, als er kurz vor seiner Emeritierung stand.
Während ich jetzt darüber nachdenke, wird mir natürlich klar, dass mein Onkel mich zwar schon ziemlich stark geprägt hat (mit seiner kontinentalen Art und alles, meine ich), aber ganz so weit oben im Elfenbeinturm wie er manchmal saß ich schon damals nicht, als ich noch in die Grundschule gehen musste und er mir in seiner freien Zeit half, die Welt kennen und verstehen zu lernen.
An einigen Stellen, fand ich damals, gingen seine Rechnungen nicht immer auf. Wenn er zum Beispiel von Wien oder anderen alten Städten auf dem Kontinent schwärmte. Dort waren immerhin so gut wie überall die Nazis gewesen und hatten versucht, die Entwicklung der Zivilisation um mehrere tausend Jahre zurückzudrehen. Seine, Prof seniors, Altersgenossen, nicht nur die aus New York und New Jersey, sondern auch und besonders die „Cowboys“ aus Reno‚ Nevada, und Flagstaff, Arizona, mussten erst kommen, um den Spuk der Nazis zu beenden. Sie hätten das nicht unbedingt tun MÜSSEN, aber sie rafften sich eines Tages auf, nachdem ein bestimmter Punkt des Unrechts erreicht worden war, und sorgten schließlich wieder für klare Verhältnisse. In Wien, wo Prof senior so gut wie jeden Sommer hinreiste, um Freuds Haus in der Berggasse zu besuchen (oder um zu kontrollieren, ob es noch dastand und nicht etwa von amerikanischen Souvenirjägern heimlich eingepackt worden war - die eingeborenen Wiener hätten das kaum mitgekriegt) -; also in Wien mussten alle möglichen Leute, die beim Einmarsch der Nazis in Wien im Frühling 1938 nicht sofort losjubelten, die Straßen mit Zahnbürsten putzen. Wären die Jungs in Oliv aus Reno‚ Nevada, und Flagstaff, Arizona, nicht gewesen, wären in Wien die größten Zahnbürstenfabriken der Welt gebaut worden.
Damals, als ich mit meinem Onkel darüber sprach, lag es erst kurze Zeit zurück, dass zwei engagierte Journalisten der „Washington Post“, Carl Bernstein und Bob Woodward‚ es ganz allein geschafft hatten, den korrupten Präsidenten Nixon und mehrere seiner kriminellen Drahtzieher aus ihren Ämtern befördern zu lassen. Anfangs mussten sie dafür zwar ganz schön kämpfen, aber sie schafften es, weil sie an das Freiheitsideal glaubten - und daran, dass dieses Ideal nicht missbraucht werden darf. Mit solchen Werten und Traditionen war es dagegen in Mitteleuropa nicht weit her. Was nützen mir schöne Gebäude im Barockstil, wenn die Menschen darin unfrei und feig sind? Ich würde lieber in einer Holzhütte hausen, wenn dafür garantiert ist, dass mir irgendeine verdammte Feudalherrschaft erspart bleibt.
Insofern hatten wir alle es in London natürlich besonders gut. In Großbritannien gab es eben schon sehr früh Aufklärung und Demokratie und eine zivile Gesellschaft. Urbane Kultur und alles, was die Menschen auf authentische Weise selbstbewusst und kritikfähig macht. Je weiter man auf dem Kontinent Richtung Osten und Südosten kommt, umso weniger gibt es davon. Und umso deformierter sind die Menschen, weil sie sich jahrhundertelang nicht frei entwickeln und entfalten durften.
Das ist einer der Hauptgründe, warum der Kontinent vielen Briten so exotisch vorkommt - je weiter sie sich von London entfernen, umso verdrehter und archaischer erscheint einem die Bevölkerung. In ihren Märchen und Mythen wimmelt es nur so von Angst, Paranoia und Gewalt. Und Minderwertigkeitskomplexen‚ die eben auf fehlende Aufklärung und Isolation zurückgehen. Bei Hitler zum Beispiel, der seine Kindheit in einer Gegend erlitt, wo sich diese Weltsicht bis ins 20. Jahrhundert halten konnte, kamen diese Eigenschaften noch einmal ganz massiv zum Ausdruck. Vor allem, was sie nicht kannten, fürchteten sich diese Menschen, und weil sie praktisch immer in ihren engen Grenzen bleiben mussten, blieben ihnen die fortschrittlichen Kulturwerte des Westens unbekannt. Im Fall Hitler funktionierten die archaischen Muster jedenfalls noch ganz großartig - die Märchen voller Angst, Paranoia und Minderwertigkeitskomplexe‚ die man ihm in seiner Kindheit erzählt hatte, präsentierte er später -zig Millionen Deutschen, und weil ihre Prägungen mit seinen identisch waren, nahmen sie ihm auch alles ab.
Was die Deutschen im 20. Jahrhundert machten, sie reagierten wie der Klassenstreber, der einen Kopf kleiner ist als die anderen, und auch sonst zurückgeblieben, und der beim Sport nie mitmacht. Er tickt einfach nicht richtig, weil er in der Entwicklung hinterherhinkt, und deshalb fühlt er sich ausgeschlossen und gemobbt. Irgendwann passiert etwas, das dem Affen seiner Paranoia ordentlich Zucker gibt - und als nächstes brennen ihm von jetzt auf gleich sämtliche Sicherungen durch. Eben so wie Deutschland 1914 und 1939.
Die westlichen Länder sind aber auch nicht ganz unschuldig daran, dass Deutschland sich vor 1914 nicht richtig entwickeln konnte. Die westlichen Nationen fühlten sich so aufgeklärt, dass man die Deutschen nicht ernst nahm‚ statt sie dabei zu unterstützen, endlich ihren Horizont zu erweitern. Zum Beispiel im Rahmen der europäischen Kolonialpolitik. Statt sie auszugrenzen, hätte man mit ihnen reden und mehr Verantwortung geben müssen. Am Beispiel der paar Sandwüsten und Krümelinselchen, wo sie ihren pä-da-go-gi-schen Trieb austoben konnten, wird immerhin klar, dass sie - anders als die anderen Kolonialmächte - gar nicht so sehr auf Ausbeutung aus waren, sondern die Bewohner der Kolonien erziehen und zivilisieren wollten.
Eben nach ihren preußisch-protestantischen Maßstäben. Wenn man sie damals gelassen hätte, würden sie heute wahrscheinlich nicht so sehr unter der fixen Idee leiden, die ganze Welt missionieren zu müssen.
Und wenn Miss Bildung und Miss Handlung nicht ihre Naziväter gehabt hätten, wären sie nicht darauf programmiert gewesen, aus mir einen Zombie machen zu wollen, wie sie es bei ihren eigenen Kindern schon geschafft hatten. Sie wollten mich so hintrimmen‚ dass ihre defekten Kinder mich als legitimen Bruder anerkannt hätten. Die im Kindheitstrauma steckenden Kinder der Nazis und Kommunisten und die Kinder dieser Kinder machen einem Erwachsenen, der wie ich damals nach Deutschland kommt, wirklich ganz schön das Leben schwer. Und alles nur, weil die totalitären Ideologien kaum etwas mehr fürchten als Analyse und Analytiker, und weil dieses Defizit nun einmal besteht, schleppen so viele Deutsche die unbewältigten Leiden ihrer Kindheit mit sich herum und blockieren damit ihre eigene Entwicklung. Man kriegt schon glattweg Bauchkrämpfe, wenn man sieht, wie viele Deutsche nur rein körperlich erwachsen sind, während sie psychisch und sozial ewig in der Pubertät steckenbleiben. Wahrscheinlich sind sie deshalb auch Weltmeister in der Spielzeugherstellung.
Mich hat es ja auch erwischt. Ich meine, kaum war ich in Spezialdemokratien angekommen, als meine Entwicklung eingeschränkt wurde. Die beiden Nazitöchter und alle anderen Kulturfunktionäre stellten mich vor diese typisch deutsche Alternative: Entweder würde ich so werden wie sie alle - also mehr oder weniger jemand, der seinen Kopf unterm Arm trägt -, oder sie konnten mich nicht brauchen für ihre phänomenale Maschinerie. Anders ausgedrückt: Wollte ich nicht ihr Bruder sein, schlügen sie mir den Schädel ein. Haha. Und so ähnlich ist es dann schließlich auch gekommen. ES dauerte zwar ein paar Jahre, in denen sie sich alle die größte Mühe gaben, mich mit ihren pä-da-go-gi-schen Methoden zu bearbeiten, und sie demonstrierten mir gegenüber fast rund um die Uhr, wie sie endlich die Welt ändern wollten, aber zum Schluss lief doch alles wieder auf die alte Tour hinaus: „Los, mitkommen, der Wagen steht unten!“ und all das.