Читать книгу Der Stadtrat in Passau - Alois Huber - Страница 3
1
ОглавлениеHorst Buschinski sonnte sich wieder einmal in dem Gefühl, der bedeutendste Mann zu sein, den er kannte.
Er stand in Unterhosen im ehelichen Schlafgemach vor einem riesigen Ankleidespiegel, hatte eine dickrandige Hornbrille auf der Stupsnase und memorierte die auswendig gelernte Rede, mit der an diesem schwülen Hochsommerabend seine Widersacher im Stadtparlament in Grund und Boden zu donnern gedachte.
Die Rede konnte Herr Buschinski im Schlaf. Er schmetterte sie denn auch mit solchem Pathos heraus, dass die große Ampel über seinem kugelblanken Haupt hingerissen zu schaukeln begann.
Aber was und wie er redete, interessierte ihn im Augenblick nur wenig. Wichtiger waren ihm jetzt die Gesten, die seinen Worten die Wucht grimmiger Keulenschläge geben sollten.
Deshalb hieb er vor den Spiegel zu jedem zweiten Satz mit geballten oder gespreizten Händen wilde Terzen und Quarten. Auch vergaß er nicht, einen imaginären Pultdeckel mit Inbrunst zu taktieren, die Gegner immer wieder sozusagen mit dem Zeigefinger aufzuspießen und sich im Finale der Rede schließlich wie ein zorniger Gorilla furchterregend die haarige Brust zu trommeln. Dennoch: so kühn und hitzig er auch gestikulierte, die Eigenkontrolle befriedigte ihn nicht.
Irgendetwas verlieh dem Redner im Spiegel eine lächerliche Wirkung.
Lag es an dem schweren Birnenbauch, der seine mittelgroße, kahlköpfige Gestalt verunzierte?
Machten es die ungelenken Arme, die er im Schwung der Gesten auszukugeln schien?
Die bleichen O–Beine, die sich so schrecklich nackt und dürr den Blicken preisgaben?
Oder lag es an den halblangen Unterhosen, deren Bund am prallen Leib keinen Halt zu finden vermochte?
Natürlich lag es all diesem!
Aber Horst Buschinski empfand das Groteske seiner menschlichen Topographie ebenso wenig wie die Verrücktheit, sich in Unterhosen und Hornbrille in parlamentarischen Rednerposen zu üben.
Er schob die Schuld an dem komischen Eindruck vielmehr auf einen Mangel an mimischem Talent, der ihm schon oft genug Kummer bereitet hatte. Und über diesen Mangel ärgerte er sich erneut!
Er wurde nervös und unsicher und erlitt nach der ungewohnten körperlichen Anstrengung obendrein auch noch einen wüsten Schweißausbruch.
In diesem Zustand fiel Herrn Buschinski plötzlich ein, dass er nicht im Schlafzimmer weilte, um Gesten zu üben.
Er wollte sich für die Sitzung des Stadtparlaments umkleiden, und verdammt, das wurde nun auch Zeit!
Hastig griff er also nach dem bereitliegenden Oberhemd. Es machte ihm Mühe das blütenweise Kleidungsstück unbeschädigt über den schweißnassen Kopf zu streifen. Immerhin gelang es. Doch das Zuknöpfen gelang ihm nicht. Die feuchten Finger fummelten und fummelten, ohne dass es ihnen glückte, auch nur einen der winzigen Brustknöpfe durch die steifgebügelten Löcher zu bringen.
Bald riss das untere Knöpfchen ab und gleich darauf das mittlere. Buschinski war von der Tücke des Objekts so verblüfft, das er eine Weile stumm und starr dastand. Nur sein rapide anschwellendes Schnaufen verriet, wie es in ihm kochte. Dann aber begann er, wütend an der Hemdbrust zu zerren und zu reißen, bis er auch das dritte und letzte Knöpfchen von seinem Bestimmungsort getrennt hatte.
Da stürzte er auf den Korridor und brüllte hilfeschreiend nach seiner Frau.
„Claudia!“, schrie er nach unten. „Claudia! Komm doch schnell mal rauf! Claudia! Zum Kuckuck, wo steckst du wieder? Claudiaaaaaa!“
Doch im ganzen Haus rührte sich nichts. Die Villa war wie ausgestorben.
Das Hausmädchen Inés hatte wochenendfrei.
Marvin, der Herr Sohn, glänzte wie meist durch Abwesenheit.
Und Claudia Buschinski, die Ehefrau und Hausherrin, saß draußen auf der Veranda und hatte sich in die »Passauer Neue Presse«, von den Bayerischen Ureinwohnern kurz PNP genannt, vertieft.
Sie las übrigens gerade die Ankündigung, dass am heutigen Samstagabend in der 27. ordentlichen Ratssitzung der Stadt Passau unter anderem auch über den Antrag der Ratsherren Metzgermeister Anton Kälberer und Bäckermeister Josef Gutbrot entschieden werden sollte.
„Es handelt sich dabei“ – so schrieb das Blättchen – „um das Ersuchen, der Rat der Stadt Passau möge beschließen, das Denkmal des Heimatdichters Carossa aus verkehrstechnischen Gründen von seinem bisherigen Standplatz auf dem Residenzplatz an den Karolinenplatz zu verlegen. Dem Antrag, dem ein hitziger Meinungsstreit in Leserbriefen unserer Zeitung vorausging, wird bekanntlich vom Verein der Freunde Hans Carossas unter Führung seines Vorsitzenden, des Ratsherrn Horst Buschinski, heftiger Widerstand entgegensetzt. Aus diesem Grunde ist wohl damit zu rechnen, dass die heutige Ratssitzung einen stürmischen Verlauf nehmen wird ...“
Das also las Claudia gerade, und da der hier genannte Ratsherr Buschinski kein anderer war als Horst, ihr streitbarer Ehepartner, las sie das Ganze mit besonderem Genuss.
Danach freilich schüttelte sie den Kopf, nicht ohne ein wenig spöttisch zu lächeln und dachte: „Mein Gott, was haben die Herren der Schöpfung doch nur für Sorgen! Um das kitschige Monument eines harmlosen Kleinstadtpoeten nun schon seit Monaten ein Getöse, als ginge es um einen Weltuntergang! Anstatt sich mit den Flüchtlingen zu beschäftigen, die ständig über die Österreichische Grenze nach Passau kamen, zu beschäftigen!“
Claudia mochte mit ihrer spöttischen Meinung Recht haben. Sie überhörte jedoch dabei die verzweifelten Rufe Buschinskis, die nur schwach zur Veranda herausdrangen, und das hatte zur Folge, dass der Ratsherr schließlich zornbebend und mit fliegenden Hemdschößen die Treppe herab gestürmt kam. Plötzlich riss er die Tür zur Veranda auf.
„Claudia! Himmeldonnerwetter, sind deine Ohren verstopft? Ich schreie mich hier heiser, und du sitzt seelenruhig hier draußen und träumst!“
Als die Ehefrau diese heftigen Worte vernahm, fuhr sie erschrocken herum und war zunächst sprachlos. Sie hatte in über zwanzig wechselvollen Ehejahren ihren Horst oft genug in mehr oder weniger enthülltem Zustande gesehen und es sich längst abgewöhnt, an dem verwirrenden Bilde Anstoß zu nehmen.
Dass er jedoch in der halben Aufmachung eines Schlossgeistes auf der offenen Veranda erschien und durch laute Stimme die Leute in den Nachbargärten aufmerksam machte, verschlug ihr den Atem. Entsetzt starrte sie in sein zorngerötetes Gesicht.
„Du irrst, Horst“, sagte sie dabei abweisend. „Ich träumte nicht, sondern las die Zeitung. Im Übrigen vergisst du, dass hier die Öffentlichkeit nicht ausgeschlossen ist.“
Buschinski stand wie eine Bildsäule. Er war nahe daran, zu explodieren. Doch die Mahnung vor den Augen der Nachbarn kühlte ihn merklich ab. Er trat in die Tür zurück und zwang sich mit Gewalt zur Beherrschung.
„Bitte, Claudia!“, fleht er dann ziemlich sanft. „Hilf mir doch! Am Oberhemd sind sämtliche Knöpfe abgerissen. Ich habe doch nicht mehr viel Zeit!“
Da erhob sich die Ehefrau lässig, ging ihm voran nach oben, kramte aus dem Wäscheschrank ein anderes Oberhemd und machte sich wortlos daran, ihn anzuziehen, als hätte sie ein kleines Kind vor sich.
Horst ließ es sich gern gefallen. Ja, unter Claudias geschickten Händen glätteten sich auch die Wogen seines Gemüts. Er wurde zahm wie ein Lamm, trocknete sich gehorsam die Schweißperlen vom Kopf und gluckste vor Behagen, als die geduldige Eheliebste ihm zum Schluss auch noch die Krawatte um den Eckenkragen band.
„So, nun aber fix in die Hose!“, rief Claudia dann, indem sie von dem fülligen Ehemann zurücktrat und ihm die gestreifte Anzughose in die Hände drückte. „Wenn du erlaubst, decke ich inzwischen den Abendbrottisch.“
„Abendbrot? Ach Gott, das hätte ich bald vergessen!“, rief Buschinski. „Aber bitte, Claudia, für mich nur eine einzige Wurstschnitte! Mehr kann ich bei dieser Hitze wirklich nicht essen.“
Wenn die Hitze doch nur recht lange anhielt, damit ihm eine gehörige Menge Bauchfett wegschmelzen möchte, dachte die Ehefrau in einer burschikosen Regung. Wie vieles, behielt sie indes auch dies für sich, nickte verständnisvoll und entschwand.
Als Buschinski wieder allein war, sank er auf einen Stuhl nieder und begann, sich die Hose über die krummen Beine zu würgen. Das war, da ihm der Birnenbauch bei keiner Verrichtung so im Wege saß wie bei dieser, eine schwierige und höchst anstrengende Sache.
Aber unter vielen Ächzen schaffte er es, und als er wieder aufgestanden war und die Hosenträger angelegt hatte, richtete sich auch sein Selbstbewusstsein zu alter Höhe auf.
Dann stellte er sich noch einmal von dem riesigen Spiegel in Positur, tat, als stünde er bereits auf dem Rednerpodium des Stadtparlaments, und rief mit beschwörend erhobenen Händen:
„Wohlan denn, Herr des Himmels, nun segne meinen Kampf für die Ehre und das Andenken Hans Carossas, meines unsterblichen Ahnen mütterlicherseits! Ich bin bereit ...!“