Читать книгу Der Stadtrat in Passau - Alois Huber - Страница 5
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ОглавлениеDie Stadt Passau hatte wie jede Stadt eine vornehme Einkaufsstraße, die Schustergasse genannt wurde und quer durch das Zentrum verlief. Sie verband den Residenzplatz mit dem Karolinenplatz.
Der Karolinenplatz grenzt an die Innstraße, an der konzentrierte Amtsluft herrschte. Sie kam aus den Behörden ringsum, dem Finanzamt, der Agentur für Arbeit und der Universität Passau.
Ganz anders war es hingegen auf dem Residenzplatz. Hier standen ausschließlich ansehnliche Geschäftshäuser mit Schaufensterfronten, Läden aller Art, verschiedene Cafés, einer gemütlichen Cocktailbar und einem lärmerfüllten Wettbüro für Pferderennen. Hier wehte daher der frische Wind des lebendigen Alltags.
Dennoch gab es auch am Residenzplatz ein Haus mit Modergeruch. Es stand in der Mitte der Periphere und trug eine große dunkle Metalltafel mit der Inschrift:
»In diesem Haus lebte, schaffte und starb der deutsche Lyriker und Erzähler Hans Carossa, 1878-1956, Ehrenbürger der Stadt Passau«
Man glaubte nun nicht, dass dieser Hans Carossa ein Heros der Lyrik gewesen wäre. Er hatte einige Gedichtsbände geschrieben. Das war zu wenig, um Eingang in die Lehrbücher der Literaturgeschichte zu finden. Für eine Reihe Passauer Bürger hatte es indes genügt, ihm den Kranz der Unsterblichkeit zu verleihen. Sie erhoben nach seinem Ableben sein Sterbehaus zur Weihestätte, weshalb es fortan nicht mehr gelüftet wurde, und stifteten ihm außerdem noch ein Denkmal, das die Stadt in ihre Obhut nahm. Die Haupttreiber dieser erstaunlichen Ehrungen waren freilich die Angehörigen seiner weitverzweigten Sippe, allen voran sein Schwiegersohn Alois Buschinski, der seliger Vater von Horst Buschinski.
Nun also das Denkmal!
Es stand etwa zwanzig Meter vor der Front des Dichterhauses: ein dreistufiger Sockel aus rohbehauenen Quadern, aus dem eine dorische Säule anderthalb Meter hoch zu einem quadratischen Kapitell emporwuchs, und auf diesem Kapitell thronend die Büste Hans Carossas, langhaarig und bärtig wie der leibhaftige Zeus. Kenner hatten es schon bei seiner Enthüllung als dilettantisches Machwerk gekennzeichnet, das man schnellstens in die Luft sprengen sollte.
Trotzdem stand das steinerne Mal über ein halbes Jahrhundert da, ohne dass ihm ein Mensch etwas zuleide tat. Aber nun, just sechzig Jahre nach dem Ableben des Dichters, wurde ihm doch etwas angetan. Nicht, dass man es besudelte oder beschädigte. Nein, viel Schlimmeres. Man möchte es von seinem angestammten Platz entfernen und startete zu diesem Zweck eine wüste Lästerkampagne, die monatelang die ganze Stadt in Atem hielt und nun in der heutigen Ratssitzung als Punkt 5 der Tagesordnung zur Debatte stand.
Die Sache hatte übrigens eine zeitbedingte, sehr reale Ursache. Wie überall hatte sich in den letzten Jahren auch die Geschäftswelt der Passauer Innenstadt motorisiert. Es mussten täglich Lieferwagen zu den Geschäften, und deren Lenker pflegten den Platz just dort als Fahrweg zu benutzen, wo er das Dichterdenkmal trug.
Man konnte ihnen das nicht verdenken; denn die Strecke war die kürzeste Verbindung zum Residenzplatz. Aber das Denkmal stand ihnen im Wege; es zwang zu einem Bogen und sperrte die Sicht. Außerdem erschwerte es bei den Nachbarn des Poetenhauses, dem Metzgermeister Anton Kälberer und dem Bäckermeister Josef Gutbrot, die Ein – und Ausfahrt durch die Haustore.
Was Wunder also, dass die autofahrenden Handwerker und Kaufleute dieser Gegend das Denkmal auf einmal entschieden falsch am Platze fanden? Sie randalierten jedenfalls immer lauter gegen das Verkehrshindernis, und eines Tages machte einer von ihnen seinen Groll in einem Leserbrief an die Passauer Neue Presse Luft.
„Das Denkmal“, so stand im PNP zu lesen, „passt nicht mehr auf den Residenzplatz, der lebhafte Autoverkehr stößt sich laufend daran. Es ist darum ein Erfordernis unsere Zeit, dass es von da verschwindet. An den Ufern des Inn, oder am Bahnhof mag es nicht stören. Hier aber ist es zum Skandal geworden. Also reißt es ab und baut es irgendwo im Grünen wieder auf! Aber dalli, dalli, ehe uns der Kragen platzt! Einer der Betroffenen.“
Das wirkte wie ein Stich ins Wespennest!
Nicht im Rathaus. Die für das Wohl und Wehe des Denkmals verantwortliche Stelle der Stadtverwaltung tat vielmehr, als ginge sie die hier zum Ausdruck gekommene öffentliche Meinung einen Dreck an; sie beharrten abwartend in ihrer Ruhe und blieb stumm.
Umso mehr fühlten sich jedoch der „Verein der Freunde Hans Carossas“ getroffen. Hier saßen die Söhne und Töchter der Denkmalstifter und die nachgelassenen Verwandten des Dichters. Und die gerieten ob der brutalen Kriegserklärung des anonymen Schreibers augenblicklich ins Kochen.
„Ha, dieser Halunke“ tobte der Fabrikant Horst Buschinski in seiner Eigenschaft als Vorsitzender besagten Vereins und Enkel des Dichters. „Nicht genug, dass er das Denkmal verächtlich zu machen sucht und das Andenken unseres unsterblichen Hans Carossas schmäht – er droht auch! Er kündigt zwischen den Zeilen ein Attentat an! Na, warte, du feiger Barbar, dich werden wir Mores lehren!“
So Horst Buschinski. Und so auch sein doppeltes Echo: Studienrat Dr. Franz Weißnicht und der Abteilungsleiter Reiner Hohn.
Bis tief in die Nacht hinein brüteten die drei Tapferen mit dampfenden Köpfen über eine Erwiderung. Dann hatten sie ihren aufgewühlten Seelen einen Schriftsatz abgerungen, der eine Verlegung des Denkmals von seinem traditionsgeheiligten Standplatz an jede beliebige andere Stelle als Entwürdigung der Stadt brandmarkte und von Spott und Hohn über die Kulturlosigkeit und Unverfrorenheit des anonymen Angreifers nur so troff.
Die Kanonen, mit denen sie solcherart nach Spatzen schossen, sollten dem unbekannten Widersacher einen derartigen Schreck einjagen, dass ihm die Lust zu weiteren Leserbriefen ein für alle Mal verginge.
Aber was geschah, als die Entgegnung im PNP wortwörtlich veröffentlicht wurde? Die ganze Stadt geriet augenblicklich in einen wahren Taumel der Verzückung: Ah, endlich einmal im grauen Alltagseinerlei der Flüchtlingskrise mal eine Sensation, die das Zwerchfell kitzelte!
Und der „Betroffene“? Er zog sich keineswegs bestürzt in den Schmollwinkel zurück. Im Gegenteil. Er zeigte sich in seiner Anonymität überraschend mutig und hatte auf die geharnischte Antwort sofort eine nicht weniger geharnischte Erwiderung.
Und da keiner daran dachte, dem anderen das letzte Wort zu lassen, ging es so Schlag um Schlag weiter, Spott gegen Spott, Hohn gegen Hohn, Zorn gegen Zorn.
Ein Gaudium, wie es Passau seit hundert Jahren nicht genossen hatte!
Und ein Knüller für die Passauer Neue Presse, die nie zuvor so interessierte Leser hatte wie in diesen Wochen!
Doch auch das spannendste Duell geht einmal zu Ende. Hier beschloss es, als in der Hitze des Wortgefechts die Sache selbst schon völlig in den Hintergrund gerückt war, ein dröhnender Paukenschlag, der Horst Buschinski und seinen Vereinsbrüdern schier das Blut gefrieren ließ. Es war der bewusste Antrag des Ratsherrn Anton Kälberer und Josef Gutbrot an das Stadtparlament.
„Diese Unverschämtheit setzt allem die Krone auf!“, keuchte der Enkel Hans Carossas, als er das Verlangen seiner Ratskollegen schwarz auf weiß vor Augen hatte. „Nein, dass sich Vertreter der Bürgerschaft zu einem so nichtswürdigen Antrag hergeben! Dass es Geschäftsleute in Passau gibt, denen die höchsten Kulturwerte unserer Stadt nicht mehr als eine Tonne Heringe bedeuten! Unglaublich! Unglaublich – und doch wahr!“
„Nun ja, verehrter Herr Buschinski“, fistelte Dr. Weißnicht, ebenfalls zutiefst entrüstet. „Metzger und Bäcker – gedankenarme und gefühlslose Grobiane von Berufswegen! Wer sonst könnte sich so dummdreist aufführen? Doch wenn Sie zu bemerken erlauben, verehrter Herr Buschinski; jetzt kennen wir unsere Gegner von Angesicht, jetzt wissen wir endlich, mit was für armseligen Geistern wir es zu tun haben!“
„Gottlob, ein Gutes wenigstens bei diesem Antrag!“
„Ich darf wohl annehmen, verehrter Herr Buschinski, dass Sie die kommende Debatte zu einem Höhepunkt Ihrer parlamentarischen Tätigkeit machen werden – nicht wahr?“
„Das muss ich, lieber Doktor, und das will ich!“, rief der Ratsherr flammenden Auges.
„Dann gratuliere ich schon jetzt zu dem Vergnügen, das Ihnen die triumphale Abfertigung dieser Tölpel bereiten wird, verehrter Herr Buschinski. Passau wird aufatmen und Ihnen zu tiefstem Dank verpflichtet sein!“
Das öffentliche Interesse an dem Denkmalstreit war, nachdem seit der Bekanntgabe des Antrages Kälberer/Gutbrot kein Leserbrief mehr im Stadtblättchen erschien, merklich abgeklungen. Man hatte wochenlang gefeixt, getuschelt oder sich vor Lachen ausgeschüttelt. Nun hatte der Spaß seine Kraft verloren. Vor dem Stadtparlament war er nur noch eine nüchterne Sache, über die man ein wenig debattieren würde, um sie dann mit einem Ja oder Nein artig zu verabschieden.
Ob das Denkmal auf dem Karolinenplatz verbleiben durfte oder ob ihm die Ratsherren irgendwo im Grünen einen andern Platz zuweisen würden, das interessierte die Volksmasse nicht.
Was bedeutete ihr schon der selige Hans Carossa?
Es gab genug Leute, die bisher nicht einmal gewusst hatten, dass in Passau ein Denkmal dieses Dichters existierte. Sie hatten es noch nie gesehen, sie waren achtlos daran vorbeigegangen, oder sie hatten geglaubt, die steinerne Büste sei eine Art Sagenfigur aus der heidnischen Vorgeschichte des Landes.
Doch als nun endlich der Abend jener Ratssitzung gekommen war, in der über das Denkmal entschieden werden sollte, erwies es sich, dass unter den fünfzigtausend Passauern doch etliche Dutzend gab, die sich die parlamentarische Behandlung des Falles nicht entgehen lassen wollten.
Wie Reiner Hohn seinem hochmögenden Chef versichert hatte, stellten dabei die „Freunde Hans Carossas“ tatsächlich eine gute Zweidrittelmehrheit. Die Gegenseite war nur durch drei Personen vertreten. Und die übrigen mussten als Neugierige gelten oder als solche, die eine Auferstehung der munteren Komödie witterten. Immerhin füllten diese drei Gruppen den Zuschauerraum bis auf den letzten Stehplatz.
Es herrschte schon sehr stickige Luft im Rathaussaal, als der Oberbürgermeister Jürgen Duppmayr zur Klingel griff. Er wollte die Sitzung pünktlich eröffnen. Doch er kam nicht dazu. Ein asthmatischer Anfall machte ihm für zehn Minuten den Präsidentensitz zur Hölle. Erst als er vier Tabletten mit zweieinhalb Glas Wasser hinuntergespült hatte, konnte er sich auf seine Obliegenheit als Sitzungsleiter besinnen und die Tagung endlich in Gang bringen.
Die ersten Verhandlungspunkte betrafen allerdings Lappalien, die nur der Form halber zur Aussprache gestellt wurden. Sie wurden reibungslos erledigt. Dann aber kam es.
„Als Punkt fünf steht auf der Tagesordnung der Antrag der Ratsherren Kälberer und Gutbrot betreffend Verlegung des Carossa - Denkmals. Der Antrag liegt allen Ratsherren im Wortlaut vor und dürfte zudem der gesamten Einwohnerschaft hinreichend bekannt sein“, erklärte der Oberbürgermeister, jetzt wieder im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte und daher verhalten lächelnd. „Das Wort hat zunächst Ratsherr Anton Kälberer.“
Der Vertreter der Passauer Neuen Presse hielt drei gespitzte Bleistifte, einen Block und sein Laptop bereit. Er war sicher, dass jetzt die Sensation, von der sein Blättchen so gut gezehrt hatte, aufgefrischt werden würde. Auch auf der Zuschauertribüne schärften alle Augen und Ohren. Und selbst im Plenum schien trotz der stickigen Atmosphäre und einschläfernden Ruhe eine gewisse Gespanntheit Platz zu greifen.
Doch Anton Kälberer war kein Mann von vielen Worten. Wenn er in seinem Schlachthaus einem Ochsen das Lebenslicht ausblasen musste, sagte er nur: „Na denn, halt mal stille!“, und schon ließ er den tödlichen Bolzen knallen. So ähnlich glaubte er’s auch hier mit seinen Ratskollegen machen zu können.
Wuchtigen Schrittes bestieg er das Rednerpodium. Aber kaum stand er da oben im Angesicht eines erwartungsvollen Auditoriums, da presste ihm eine jämmerliche Befangenheit fast die Kehle zu. Mit tremolierender kleiner Stimme, die so gar nicht zu seiner martialischen Gestalt passte, sagte er endlich:
„Tja, meine Herren – tja, mein Nachbar Josef Gutbrot und meine Wenigkeit, wir haben also den Antrag gestellt, das olle Denkmal auf dem Residenzplatz wegzuschaffen. Wir wollen damit keinen Bürger kränken. Wir sind ja schließlich Geschäftsleute. Aber als Anlieger des Residenzplatzes kennen wir besser als jeder andere die dortige Verkehrslage. Und die ist nun einmal zwingend. Deshalb meinen wir, dass eine Verlegung des Denkmals doch halb so schlimm wäre und dass der Rat der Stadt wohl damit einverstanden sein könnte. Tja – das ist eigentlich alles, was ich dazu zu sagen hätte.“
Er machte eine Pause, in der er hörbar aufatmete. Dann fügte er hinzu: „Aus den Leserbriefen in der Zeitung kennt ja wohl jedermann das Für und Wider. Ich für meinen Teil meine, es ist nicht zu viel verlangt, wenn wir auf dem Residenzplatz reine Bahn schaffen. Tja – und das möchte ich noch betonen: die Leserbriefe im PNP haben wir nicht geschrieben, weder Josef Gutbrot noch meine Wenigkeit. Das war die Stimme des Volkes. Aber wir schließen uns dieser Stimme an und rechnen mit einem vernünftigen Beschluss. Und der kann doch nur im Sinne unsere Antrages ausfallen.“
Punktum!
Wuchtig, wie er gekommen war, schritt Anton Kälberer wieder zu seinem Platz zurück. Dann herrschte eine Weile Tempelstille. Man hatte ein ganz anderes Auftreten des Antragstellers erwartet, eine ausgiebige und wohlfundierte Begründung seines Verlangens. Dazu Zwischenrufe, Beifalls – oder Missfallenskundgebungen und dergleichen mehr. Doch nichts von alledem war geschehen. Der Metzgermeister Kälberer hatte den Saal auf der ganzen Linie enttäuscht. Er war und blieb nun einmal der Mann, der nicht viele Worte machte, weil er mit Worten nicht eben sicher umgehen konnte.
Und nun - ?
„Ich stelle den Antrag zur Debatte“, sagte der Oberbürgermeister und sah im gleichen Augenblick hinten rechts einen Arm hochgehen. „Aha! Das Wort hat Ratsherr Horst Buschinski.“
Ein Raunen ging durch den Raum, als der Namen des Keksfabrikanten fiel. Doch Buschinski eilte schon selbstbewusst und beschwingten Schrittes zum Rednerpult. Ha, wie anders wirkte er schon mit diesem Auftritt. Der feierliche Anzug, die große Hornbrille mit den funkelnden Gläsern, die forsche Stimme! Und nun gar die wohlakzentuierte Rede, der man die fleißige Einstudierung nach wenigen Sätzen anmerkte!
„Meine Herren! Sie haben soeben vernommen, was die Antragsteller von uns Vertretern der Einwohnerschaft verlangen“, rief er dem aufhorchenden Plenum zu. „Sie waren Zeuge einer Attacke gegen das einzige Denkmal, das die dankbare Nachwelt unserem unvergesslichen Hans Carossa gewidmet hat. Das Denkmal hat über ein halbes Jahrhundert lang sowohl dem Andenken des Dichters als auch zur Zierde des Residenzplatzes gedient. Niemals ist es in der langen Zeit jemanden eingefallen, Anstoß daran zu nehmen; es sei denn, er wäre ein verkappter Anarchist gewesen. Umso erschütternder war für uns deshalb die Diffamierung des Dichters wie des Denkmals, die vor einiger Zeit in der Presse meuchlings vom Zaun gebrochen wurde.
Meine geehrten Damen und Herren, Sie haben sich vielleicht über die Schärfe des Tons gewundert, mit der wir Freunde Hans Carossas auf die ominösen Leserbriefe antworteten. Aber wir wurden dazu herausgefordert. Und wir wollten gleich den Anfängen wehren um rechtzeitig etwaigen Gefahren vorzubeugen. Es hat leider nichts genutzt. Dass wir jedoch recht taten, ja, noch viel entschiedener hätten reagieren müssen, beweist nur der vorliegende Antrag…“
Schnell und sicher hatte Horst Buschinski gesprochen. Nun hielt er kurz inne, um sich ein paar Atemzüge lang zu verschnaufen. Dabei stellte er fest, dass die Stadtväter, die allerdings zumeist nur über die Härte der Erwiderung staunten, gebannt lauschten. Auf vielen Gesichtern las er Neugier oder sogar Schmunzeln. Nur Kälberer und Gutbrot verzogen keine Miene.
„Es wird in diesem Antrag von uns der Beschluss verlangt, das Denkmal zu verlegen“, setzte er seine Rede dann unbeirrt fort. „Gut; aber warum, so fragen wir, warum soll das Denkmal vom Residenzplatz verschwinden?“
Er lachte spöttisch und fuchtelte mit dem Zeigefinger.
„Warum also? Weil es in unserer Stadt Autobesitzer gibt, die zu bequem sind, um bei der Fahrt über den Residenzplatz einen Bogen um das Denkmal zu schlagen – einen Bogen, meine Herren, der vielleicht zehn Sekunden Zeit kostet und ein bisschen Vorsicht erfordert. Und weil außerdem die Antragsteller nicht gerade im Schnellzugtempo durch ihre Torwege ein – und ausfahren können!
Das allein sind die Gründe, die wir aus den Leserbriegen kennen, die aber Herr Kälberer hier vor dem Plenum nur andeutungsweise zu nennen wagte. Höchst persönliche Gründe einiger weniger unwichtiger Zeitgenossen also! Sind die aber stichhaltig, um das Denkmal zu einem gefährlichen Verkehrshindernis zu stempeln? Und sind sie gewichtig genug, um die Kosten zu rechtfertigen, die eine Verlegung verursachen würde?“
Er hielt wieder inne, als warte er darauf, dass ihm ein vielstimmiges Nein entgegenschalle. Doch es blieb still. Die Ratsherren saßen jetzt starr vor Staunen. Was für ein Sturmlauf gegen die sanften, beinah kläglichen Worte Meister Kälberers!
Merkte denn Buschinski gar nicht, dass er wiederum viel zu grobe Geschütze auffuhr? Bewahre! Er wollte seinen Triumph haben. Zudem hatte er seine liebe Not mit dem Schweiß, der ihm aus allen Poren brach. Immerhin hob er kurz die Augen zum Zuschauerrang empor. Dr. Weißnicht sah er, der ihm, an der Brüstung stehend, mit einer stummen Geste Beifall zollte. Aber schon drängte in ihm der Redefluss nach Fortsetzung.
„Nun“, hub er wieder an, „das eine wie das andere ist entschieden zu verneinen. Zu verneinen sind aber auch die Vorschläge, die man in Bezug auf den neuen Platz des Denkmals machen zu können glaubte. Hans Carossa an den Karolinenplatz verlegen? Ein Unsinn, meine Herren, ja, ein übler Witz, über den man nur den Kopf schütteln kann!
Ach nein, was hier verlangt wird, ist wirklich zu viel! Die Antragsteller haben offenbar genau so wenig wie der Anonymus in der Zeitung gewusst, welche Dummheit – um nicht zu sagen: welche Infamie – sie begingen. Sie sind überhaupt nicht in der Lage, die überragende Bedeutung Hans Carossas zu ermessen oder auch nur die einfache Wahrheit zu begreifen, dass ein Denkmal nur vor seinem ehemaligen Wohnhaus stehen kann und nirgends sonst!
Wir Freunde des verewigten Dichter, die wir uns zur Aufgabe gemacht haben, sein Erbe und Andenken zu wahren und zu fördern, können den Antrag daher nur als völlig undiskutabel bezeichnen. Wir wehren uns jedenfalls bis zum Äußersten gegen das schändliche Verlangen!“
Und jetzt hob er nicht nur die Stimme, sondern auch die Fäuste, um sie, wie daheim vor dem Spiegel, beschwörend auf seinen Brustkasten zu trommeln: „Wir stellen uns, wenn es sein muss, mit unseren Leibern schützend vor das Denkmal! Der Ratsversammlung aber rufen wir zu: Hände weg von Hans Carossa! Weist die Dummheit in ihre Schranken!“
Beinahe hätte er noch „Heil unserem geliebten Heimatdichter!“ hinzugefügt. Doch er verkniff es sich im letzten Augenblick, so dass seinen Zuhörern ein erhebendes Bild erspart blieb, machte ruckartig eine Kehrtwendung und stapfte, hochrot und vor Erregung heftig nach Atem ringend, zu seinem Platz zurück.
„Donnerwetter!“, entfuhr es in der abrupten Stille, die seinem Abtritt folgte, einem Ratsherrn auf der linken Seite des Hauses. Dann war es, als fühlte man sich von einer peinlichen Last befreit. Ein allseitiges Ausatmen wurde hörbar. Die Ratsherren erwachten aus ihrer Erstarrung und sahen sich verwundert an. Erst nach einer Weile setzte starkes Gemurmel ein. Aber seltsam genug, es klang keine Spur von Beifall heraus.
Nicht einmal oben auf der Zuschauertribüne, wo die Freunde Hans Carossas mit Zweidrittelmehrheit saßen. Sie taten allesamt etwas betreten. Vor allen Dr. Weißnicht; denn dem war wohl aufgefallen, dass Buschinskis Rede im letzten Teil verstümmelt war. Wichtige und höchst pathetische Sätze fehlten. Hatte der Ratsherr sie absichtlich ausgelassen?
Nein, Horst war vor der Starre der Zuhörerschaft etwas aus dem Konzept geraten. Sein Gedächtnis hatte ihn zwei – oder dreimal im Stich gelassen. Daher der Schweißausbruch und die ausgebliebene mitreißende Wirkung des Finales.
Doch es reichte auch so. Die Ratsherren hatten den Mangel nicht bemerkt. Und wenn die Wirkung auch nicht mitreißend war, so war sie doch verblüffend. Am meisten für Oberbürgermeister Duppmayr. Man muss nämlich wissen, dass Buschinski, der als einzeln gehender Unabhängiger in den Rat gewählt worden war, der politischen Gruppe des Oberbürgermeisters, in der auch die beiden Antragsteller saßen, als Hospitant angehörte. Zudem hatte er ihm bei der Bürgermeisterwahl seine Stimme gegeben, und schließlich bildete er, sobald ein bürgerlicher Ratsherr fehlte, bei den Abstimmungen das sogenannte Zünglein an der Waage.
Jürgen Duppmayr hatte deshalb von vorneherein zur Mäßigung bei der Behandlung dieses Antrags gemahnt. „Zeigt der Linken kein beschämendes Schauspiel der Uneinigkeit in unseren Reihen!“ hatte er den feindlichen Brüdern ins Gewissen geredet. „Bleibt sachlich! Beleidigt euch nicht gegenseitig! Nehmt Rücksicht auf die Fraktion!“ Kälberer war dem Rat gefolgt, nicht aber der hitzköpfige und immer streitbare Buschinski.
Dennoch: der Friede blieb gottlob gewahrt. Kälberer und Gutbrot hatten sich gegen die scharfen Worte ihres Widersachers nicht einmal mit einer Geste aufgelehnt. Sie saßen wie teilnahmslos da und grinsten sich eins. Und Buschinski? Buschinski putze sich im Augenblick nervös die beschlagene Brille. Er schien dabei sehr fahrig zu sein und irgendwie mit den Gedanken abgelenkt.
„Na“, dachte der Bürgermeister, „denn so will ich versuchen, die leidige Sache für heute zu begraben.“ Er erhob sich, klingelte und hub mit fast väterlich gütiger Stimme an:
„Meine Herren, ich denke, dass die Debatte über den vorliegenden Punkt geschlossen werden kann. Aber ich muss hinzufügen, dass ich für meine Person noch nicht klar sehe. Das Problem scheint mit so ernst und bedeutungsvoll, dass ich eine überstürzte Abstimmung über den Antrag nicht gutheißen kann. Ich glaube, es wäre besser, wenn sich zunächst einmal der Kulturausschuss damit befassen würde. Es müsste statistisches Material über die Verkehrslage am Residenzplatz beschafft werden, Gutachten über den künstlerischen Wert des Denkmals, über die historische Bedeutung des bisherigen Standplatzes, über die Kosten einer Verlegung und so weiter. Kurzum, alle diese Fragen sollte der Kulturausschuss erst gründlich klären, und erst nach seinem Bericht dürfte das Plenum in der Lage sein, wirklich nach bestem Wissen und Gewissen zu beschließen. – Kollege Kälberer, bestehen Sie auf sofortige Abstimmung?“
„Ach“, rief Kälberer auflachend, „es kommt ja auf ein bisschen mehr Hin und Her nicht mehr an. Von mir aus: lassen wir’s für heute!“
„Und was meinen Sie, Kollege Buschinski?“
Horst fuhr verwirrt auf. Er war wegen der Mängel seiner Rede mit sich selbst böse und fürchtete schon, dass er in der Ratsversammlung nicht genug Eindruck gemacht hätte, um eine Ablehnung des Antrags zu erreichen. Die Hintergründe des oberbürgermeisterlichen Vorschlages begriff er nicht gleich. Aber er ahnte, dass ihm Duppmayr entgegen kommen wollte, dass er eine Niederlage der Freunde Hans Carossas hinauszuschieben oder gar zu verhindern suchte. Und überhaupt: Kulturausschuss? Er war ja selbst Mitglied des Kulturausschusses, und es saßen noch vier, fünf Herren darin, die ihm und seinem Anliegen bestimmt wohlgesonnen waren – eine Überweisung an den Kulturausschuss war doch kein schlechter Ausweg! Im Gegenteil, das käme fast seinem Sieg gleich!
„Ich finde Ihren Vorschlag gut und richtig, Herr Oberbürgermeister“, rief er erleichtert.
„Dann ist ja alles in Ordnung“, lächelte Duppmayr. Und laut rief er: „Wir stimmen also ab. Wer für die Überweisung des Antrages an den Kulturausschuss ist, den bitte ich, die Hand zu heben.“
Überrascht stellte er fest, dass sämtliche Ratsherren zustimmten. Sogar die Linke, die zwar an der in Frage stehenden Sache gänzlich unbeteiligt tat, aber offenbar darauf spekulierte, dass die dumme Angelegenheit der bürgerlichen Ratsmehrheit noch einigen Schaden zufügen könnte.
„Einstimmig!“, schloss er dann den fünften Punkt der Tagesordnung. „Ich danke, meine Herren!“