Читать книгу … und Olkowitz liegt doch am Meer. Schönheit ist des Teufels - Alois Springer - Страница 6

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Jetzt, in der Stunde zwischen Hund und Wolf, beim hartnäckigen Läuten des Telefons, war ich tatsächlich über das bewegende Ereignis jenes Vormittags ins Sinnieren gekommen, musste ich an die erschütternden Worte Rafaels denken – „Ich bin dein Sohn“ – und daran, dass es an der Zeit wäre, auf den Grund zu gehen, auf den Grund des Meeres, wo alles begann.

Seitdem wissen wir beide voneinander, Rafael und ich. Wir stellen keine Fragen. Es sind die seltenen Begegnungen, wortlosen Umarmungen, meist beim Billard oder bei Rafaels Gemälde-Ausstellungen in Luxemburg, Brüssel, Paris oder Frankfurt am Main, die uns immer enger zusammenführen. Rafael ist ein Besessener, gleichzeitig ein Philosoph – er malt und malt, schreibt Gedichte, wirre Prosa, entwirft mit einem Achselzucken provokanten Schmuck, dreht Filme, agiert als männliches Mannequin, lässt sich anheuern als Taxifahrer in ganz Europa, ist Tankwart, Türvorsteher, Innenausstatter, Zeitungsausträger, Vorstandsmitglied, freischaffender Künstler.

Irgendwann hatte ich erfahren, dass der Philosoph Rafael sich das Leben nehmen wollte. Ursache war die Liebe. Er wurde gerettet. Die Wunden an seinem Körper blieben sichtbar. Seitdem sehe ich Rafael noch fokussierter, mit anderen Augen. Ich stelle immer noch keine Fragen, sollte es tun. Warum tue ich es nicht? Sicher hätte ich gerne gewusst, wie es damals passieren konnte und warum. War es die Folge meiner Katastrophe, das Mitgerissenwerden im Fallen eines mächtigen, großen Baumes. Warum frage ich nicht Rafael: „Wie konnte es dazu kommen? Sag es mir, damit ich besser leben kann.“

Rafael würde antworten: „Was gräbst du in der Vergangenheit? Ich male jetzt!“

Vielleicht wird es der Zufall an den Tag bringen.

Nun war Rafael, mein Sohn, am Apparat und redete ohne Umschweife.

„Ich habe einige Tage Zeit. Lass uns gemeinsam wegfahren, nur wir beide, endlich einmal wir beide alleine.“

„Wo willst du denn mit mir hinfahren? An die Côte d’Azur? An die Riviera?“, tat ich erstaunt, um meine Bewegung zu verbergen.

„Ja, lass uns doch ans Meer fahren!“

„Ans Meer? Wo bist du?“, versuchte ich, Zeit zu gewinnen. „Von wo rufst du an? Aus Brüssel?“

„Nein, aus meinem Atelier in Luxemburg. Ich male ununterbrochen, leiste mir dabei den Luxus, Menschen zu meiden, die mir den Tag verderben könnten. Deshalb … es wäre wunderbar, mit dir ans Meer zu fahren, mit dir irgendwo am Strand Billard zu spielen, dich dabei endlich zu besiegen, mit dir zu reden, über dies und das!“

„Du bist in Luxemburg? Seltsame Fügung. Ja, Rafael, das wäre wunderbar. Wenn das so ist, dann lass uns nach Olkowitz fahren!“

„Liegt Olkowitz denn am Meer?“

„Ja, ich zeige es dir.“

„Ich zweifle an deinen geografischen Kenntnissen! Du bist dort zwar geboren, in Böhmen-Mähren, aber …“

„Zweifle nur! Du wirst es sehen: Olkowitz liegt doch am Meer! Vielleicht liegt am Grunde dieses Meeres mein Geheimnis.“

Ich wusste, dass es an der Zeit wäre, auf den Grund zu gehen, auf den Grund des Meeres, wo alles begann.

Drei Tage später saß ich mit Rafael in einem klapprigen 89er Japaner und war guten Mutes, von Frankfurt aus ans Meer zu fahren. Mir wurde erst jetzt bewusst, dass diese Fahrt in ein Labyrinth führen würde, außerdem wäre es die erste gemeinsame lange Zeit miteinander seit der dramatischen Katastrophe vor mehr als einem Vierteljahrhundert.

Die ersten Kilometer fuhren wir mit den Ohren, jedes Geräusch abtastend, sei es das merkwürdig nagelnde, hämmernde, trockene vom Motor oder die möglicherweise eintretende erste Gefühlsäußerung des Nachbarn. Eine wirklich ungewohnte Situation. Nach einer Weile, bis zur Geburt des ersten Satzes, begannen die Augen, ohne Worte, mitzufahren. Die Nadel des Temperaturmessers stieg ebenso bedrohlich wie ein Crescendo in Beethovens „Eroica“ zum Höhepunkt.

„Das ist nur die heiße Außentemperatur“, schauten wir beide uns aufmunternd an.

Die drohende Gefahr ignorierend, fuhren wir solange weiter, bis unsere Nasen einen beunruhigenden Geruch aufnahmen, alle Sinne koordinierten, alarmierten und die erste treffsichere Äußerung Rafaels veranlassten: „Es qualmt!“

„Ja, es qualmt, sogar zunehmend!“

Schweigen.

„Wie weit ist es noch ans Meer?“

„1200 km hin, 1200 km zurück, siehst du das Schild nicht?“

„Ach ja! Wir sind schon weit gekommen, bravo!“

„Ja! Die ersten 25 km! Und es ist Samstagnachmittag!“

„An deiner Stelle würde ich zurückfahren …“

„Aber ich fahre doch schon zurück.“

„Du fährst schon zurück? Ich könnte meinen Freund in Luxemburg, der auch ans Meer …“

„Vor fast genau 55 Jahren bin ich die gleiche Strecke in umgekehrter Richtung gefahren.“

„Ich verstehe dich nicht! Wie meinst du das?“

„Damals schaute ich aus der kleinen Luke eines Viehwaggons, das Symbol jeder Vertreibung, zusammengepfercht mit verängstigten Menschen, der uns vom Meer wegbrachte und staunte über all die unverständlichen Ereignisse, die um mich herum geschahen. Jetzt, nach 55 Jahren, fahre ich mit dir zurück. Auf den Spuren meiner Vergangenheit. Der Viehtransport mit nach Schweiß und Urin riechenden Menschen hielt damals schlussendlich an einem grauen frühen Morgen in STERBFRITZ. Die knappe Äußerung deiner Großmutter dazu war: ‚Das ist der Anfang vom Ende.‘ Großvater sagte nur, das hätte er sich nicht träumen lassen, von Sibirien bis Sterbfritz. Und wahrhaftig: was für ein Weg!“

„Wieso Sibirien? Großvater hat mir von Sibirien nie etwas erzählt.“

„Das ist auch eine lange Geschichte, die sich lohnen würde, sie in Stein zu hauen. Er erzählte sie manchmal, aber immer wieder, bei guter Laune und in seinem lebensfrohen Humor: Er erzählte dann von seinem heldenhaften Einsatz in den ersten Tagen des Krieges 1914 als österreichischer Gebirgsjäger. Sein Pech war: an der russischen Front gab es halt kein Gebirge. So wurde er bei der ersten Feindberührung als Spähtrupp prompt gefangen genommen und nach Sibirien gebracht. Da erlebte er das blutige Hin und Her zwischen den Roten und den Weißen, eine zufällige Begegnung mit Trotzki, das Abschlachten der Grundbesitzer, den Mord an der Zarenfamilie, schließlich die Oktoberrevolution 1917-18. Er wurde verschleppt nach Nowosibirsk – Semipalatinsk – Omsk – Tomsk. Hier beginnen seine Geschichten von ganz hinten in Sibirien, die uns Kinder in Staunen versetzten. Mit seinen leuchtend verschmitztblauen Augen erzählte er dann von Balalaika-Klängen, der russischen Seele und seinen Liebesabenteuern mit der Müllerstochter auf dem warmen Samowar und davon, wie er erfuhr, dass er zu Hause für tot erklärt worden ist – nach zehnjähriger Gefangenschaft.“

„Eine seltsame Parallele zu deiner Geschichte. Auch für uns warst du verschwunden, als wärest du gestorben …“

Rafael hielt erschrocken inne, als hätte er sich bei etwas Ungeheuerlichem ertappt. Nach einer Weile des Schweigens fragte er weiter.

„Und wie ist er wieder auferstanden?“

„Meinst du, wie ich wieder auferstanden bin?“

„Auch. Aber dein Vater …“

„Es war für ihn ein langer Marsch von Tomsk nach Hause, nicht zuletzt mit Elsa von Lindströms Hilfe, einer schwedischen Diplomatin, die sich für die vergessenen deutschen Kriegsgefangenen in Sibirien einsetzte. Endlich zu Hause angekommen, war er von den Seinen nicht mehr gewünscht und um sein rechtmäßiges Erbe betrogen. So schnürte er sein Bündel, zog die Bachläufe entlang bis Olkowitz. Und jetzt …“

„Bis Sterbfritz.“

„Ja. Bis Sterbfritz. Sein nahes Ende – für mich der Anfang einer großen Karriere.“

„Wie konnte das zugehen, aus dem Nichts?“

„Wir werden genug Zeit haben, darüber zu reden.“ Der Qualm aus der Motorhaube wurde immer dichter.

„Also fahren wir zurück, aber an deiner Stelle würde ich umkehren!“

„Hier, diese Ausfahrt nehmen wir!“

Es war Samstagnachmittag. Kaum dass wir unsere Fahrt begonnen hatten, hielten wir an einer gottverlassenen Reparaturwerkstatt nahe der Autobahn mit dampfendem Motor. Mit Mühe fanden wir durch polizeiliche Absperrungen und Barrikaden hindurch den Eingang.

„Sterbfritz, trostlos! Weit und breit kein Mensch zu sehen. Wochenende! Es sieht nach einer Polizeiaktion aus, fast nach Kriegszustand.“

„Du meinst, wie damals?“

„Ja, nur damals war Kriegsende, jetzt ist Wochenende!“

„Sterbfritz? Was hat der Name zu bedeuten?“

Der Thermostat, dieses kleine Ding, machte der Superwerkstatt an einem Samstagnachmittag mitten in Europa nahe einer Weltstadt die größten Schwierigkeiten.

„Nicht zuständig – nicht zuständig, nur der Chef ist zuständig, aber der ist nicht mehr im Haus.“

„Sterbfritz – der Name passt zu unserer Situation. Man sagt, das Pferd vom Friedrich dem Großen, dem ‚Alten Fritz‘, hieß auch Fritz. An dem Ort, wo wir ankamen, musste er seinen müden Gaul erschießen lassen. So sagte er zu diesem treuen Tier: ‚Sterb, Fritz.‘ Von da an heißt nun dieser Ort Sterbfritz.“

„Das fängt ja gut an. Was für eine Fahrt!“

Aus einer der Hallen kam schlürfenden Ganges über den sauber gefegten Hof ein buckliger, irgendwie vergessener Alter auf uns zu. Er schien aus einer anderen Zeit zu kommen, aus einer, in der Improvisation und Nachbarschaftshilfe noch geschätzt wurden. War das unser Fährmann, der uns ans andere Ufer bringen konnte?

„Was haben diese Absperrungen zu bedeuten, guter Mann?“, fragte Rafael den Alten.

Ohne ein Wort zu sagen, geschweige denn, uns beide eines Blickes zu würdigen – möglicherweise, um sein vernarbtes Gesicht zu verbergen – öffnete er die Motorhaube und begann, als gebe es für ihn nichts anderes auf der Welt als diese Arbeit, unter ihr zu hantieren. So, wie er sich völlig konzentriert dem Motor widmete, alle Geräusche um sich herum vergessend, nach dem Motto: wenn ich sitze, sitze ich, wenn ich gehe, gehe ich, wenn ich trinke, trinke ich und wenn ich repariere, repariere ich, erinnerten seine Bewegungen an Qi Gong-Übungen.

In regelmäßigen Abständen tauchte sein verquollenes, großporiges Gesicht mit der auffallenden Nase wieder auf, als müsste er nach bestimmter Art frische Luft schnappen.

„Was glauben Sie, guter Mann, wird es wieder werden?“

Keine Antwort. Immerhin, der Qualm hatte nachgelassen. So überließen wir ihn seiner Bestimmung.

Nach beruhigend langer Zeit kroch der Mann mit der vernarbten Nase unter der Motorhaube wieder hervor.

„Sie wollen wissen, was diese Absperrungen bedeuten, junger Mann?“

„Ja!“

„Sie werden es nicht glauben: Morgen wird hier eine Fliegerbombe, ein Blindgänger aus dem Zweiten Weltkrieg entschärft. Alle in der Umgebung sind evakuiert.“

„Nach über 50 Jahren gibt es noch gefährliche Bomben aus dem Zweiten Weltkrieg? Ich kann es nicht glauben.“

„Wo wollen Sie hin? Habe ich richtig gehört?“, wechselte der Alte das Thema.

„Ans Meer!“

„Mit dem hier? Und ohne Lotsen?“ Er zeigte ungläubig auf den Wagen. Dabei fingerte er ein kleines Fläschchen aus einer seiner Taschen hervor, als würde das seine Situation verbessern.

„Ja! Ans Meer!“

Diese Auskunft traf ihn.

„Wollen Sie etwa auch etwas entschärfen?“, murmelte ich mit einem Anflug von hämischen Lachen in mich hinein. Seine Qi Gong-Bewegungen gerieten für einen Moment ins Stocken.

„Na dann“, sagte er und verschwand wieder in seiner sicheren, schützenden Höhle unter der Motorhaube.

„Der Wagen ist, wie mir scheint, in erfahrenen Händen“, meinte Rafael.

Nach einer Weile tauchte der Unheimliche unter der Motorhaube wieder hervor.

„So, das wär’s.“ Er schaute uns beiden so merkwürdig in die Augen, als wüsste er bereits von dem Geheimnis und von dem was auf uns zukommen würde. War das ein Blick in unsere Zukunft?

„Es ist gefährlich, nach mehr als 50 Jahren eine Bombe zu entschärfen, die vergessen tief in der Erde lag. Sie hat darauf gewartet, vergessen zu werden, nur umso heftiger explodieren zu können“, kicherte der Alte. „Blindgänger werden mit den Jahren noch gefährlicher. Je vergessener, desto gefährlicher! Man hat ja alles schon vergessen. Aber die Bombe hat nichts verloren von ihrer Gefährlichkeit.“

Er wischte sich das Motoröl von den Händen.

„Bis zur nächsten Stadt werdet ihr wohl kommen. Ja, ja, bis zur nächsten Stadt, diese paar Kilometer, werdet ihr wohl kommen. Na dann, gute Fahrt!“

Er sagte es so, als wäre er tatsächlich der Fährmann, der uns ans geheimnisvolle, verbotene andere Ufer bringen würde.

„Ja, ja, es ist gefährlich, eine vergessene Bombe …“, hörten wir ihn noch vor sich hin murmeln. „Tretminen als Gruß aus der Vergangenheit“, wandte er sich noch einmal kichernd um und verschwand.

Wir machten uns auf den Weg, froh und ungläubig staunend zugleich über jeden zurückgelegten Kilometer ohne Komplikationen. Die letzten Sätze des Alten blieben zäh in unseren Köpfen haften: „Bis zur nächsten Stadt werdet ihr wohl kommen …“

Es war, als würden wir ins nebelumhangene dunkle Niemandsland fahren, ohne Lotsen und Leuchtturm, als würde der geheimnisvolle Alte uns nachschauen. Diesen langen, stummen Blick, der wohl sagen sollte: „Fahrt nur, was geschehen soll, geschieht!“ Wir konnten ihn nicht abschütteln.

Der Motor nagelte immer noch, aber beruhigend beständig. Die Temperatur blieb konstant. All unsere Sinne waren aufs Äußerste angespannt, wir nahmen jedes kleinste Geräusch, ja sogar die nicht vorhandene Unregelmäßigkeit wahr, aber wir waren merkwürdig zuversichtlich.

Und doch: Wann würden wir abstürzen, der Motor aufhören zu nageln, der Qualm wieder aufsteigen?

Wir fuhren zum größten Teil schweigend, Rafael jetzt am Steuer. Nur hin und wieder wies ich ihn auf bestimmte Orte hin, die sich mir so oder so eingeprägt hatten.

Rafaels empfindsame Art und Weise, liebevoll den Wagen durch das Abenteuer der Ungewissheit zu steuern, war wohltuend, ähnlich dem ruhigen Fließen eines breiten Stroms, der ohne Ehrgeiz und unbeirrbar in seinem Bett dahin zieht, sich geduldig allen Hindernissen anpassend und sicher, dass er sein Meer erreichen wird.

„Es ist merkwürdig“, sinnierte Rafael nach den ersten 150 Kilometern vor sich hin. „Ich weiß sehr wenig über dich! Dass du ein großer Spieler bist zum Beispiel.“

„Was weißt du über mich?“

„Das meiste aus Zeitungen, von Überschriften über einen großen Mann.“

Er schwieg, wie es seine Art war, lange zu schweigen. Die Straße rollte unter uns weg. Landschaften kamen uns entgegen, blieben kaum wahrgenommen zurück.

„Nicht, dass ich dich nicht mochte“, nahm er das Gespräch behutsam wieder auf. „Im Gegenteil. Ich muss dich sehr geliebt haben, damals, als ich noch jung war und dich noch kannte.“

Wieder machte er eine Pause, deren Länge genau auf die darauffolgende Selbstbefragung bemessen war, ihr ein besonderes Gewicht gebend.

„Wieso hätte ich dich denn nicht mögen sollen?“

Ich schwieg und war betroffen. Welches Abenteuer kam da auf mich zu? In welchen Strudel geriet ich da?

„Nicht, dass ich dich nicht mochte? Aber …?“

„Was konnte diese Frage bedeuten?“, grübelte ich. Da schwang doch ein beunruhigendes „aber“ nach, blieb zwischen uns hängen!

Rafael ließ für einen Moment die Straße aus den Augen, blickte mich an, schmunzelte verlegen.

„Aber komisch war das schon mit dir!“

Ich, der so plötzlich und unerwartet mit sich selbst Konfrontierte, der Betroffene hatte keine Wahl. Vielleicht gab es ein Bild von mir, das ich noch nie gesehen hatte. Längst vergessen geglaubte Ereignisse, von der Zeit und dem Alltag verschüttet, die jetzt an die Oberfläche stiegen. In die eigene Vergangenheit zurückgehen, ist gefährlich, dachte ich. Wer war der Betroffene, ich oder Rafael, der sich endlich äußerte?

„Es war nicht leicht mit mir, Rafael, sagst du? Erzähl!“, drängte ich.

Fern am Horizont tauchte zu unserer Linken, in zartes rötlichsilbermattes Dämmerlicht gehüllt, die grandiose Silhouette des Stift Melk auf, eine dramatische Etappe in meinem damals noch jungem Leben.

Ohne Rafael darauf hinzuweisen, tastete ich mich behutsam weiter.

„Was war nicht leicht mit mir?“

„Also gut, wie du willst! Einmal nahmst du mich auf eine Reise mit, eine Tournee“, begann Rafael langsam zu erzählen und legte dabei wieder eine dieser spannungsgeladenen höchst wirkungsvollen Pausen ein.

„Ich war mächtig stolz auf dich, bestimmt! Als wir im Auto auf der Autobahn fuhren und ich allmählich anfing, zu gähnen, drehtest du mir den Sitz runter, damit ich etwas schlafen konnte. Dann stellte ich mich auch schlafend, aber ich konnte um nichts in der Welt auch nur ein Auge schließen. In Gedanken, unter meiner Jacke, glaubte ich, zu sehen, wie du mich mit einem Schlachtermesser wecktest und mir den Kopf langsam abhacktest. Oft ließest du dir einen Bart wachsen, und wenn dieser schön voll war, rasiertest du ihn wieder ab. Ich muss dich einfach geliebt haben, wie ein Sohn seinen Vater nun einmal liebt. Und außerdem war ich noch zu jung, um dich zu verachten!“

In diesem Augenblick war es gut, sich den Windungen der Donau, die sich durch das romantische Waldviertel ihren Weg bahnte, hingeben zu können, scheinbar schweigend den Schiffen nachzusehen, betroffen und ratlos aus dem Fenster zu schauen in das allmähliche Dunkelwerden hinein. Ja nicht aus der Fassung kommen nach den letzten Worten Rafaels!

„Jetzt, da wir alle getrennt sind, denke ich oft daran, wie es gewesen wäre, wenn ich einen Vater gehabt hätte!“, sinnierte Rafael weiter.

Der Motor nagelte immer noch, nur aufdringlicher, die Nadel des Thermostats war fast bis ins verbotene Rot gestiegen. Oder schien es mir nur so?

„Bis zur nächsten Stadt werdet ihr wohl kommen …“ Da war er wieder, der Fährmann, der irgendwie vergessene Alte, und schaute uns nach.

„Ist das alles, was du über mich weißt, Rafael?“

Orte und Menschen begannen plötzlich wie in einer Geisterbahn an uns vorbei zu huschen. Die Dämmerung saugte sich bereits in Bäumen, Sträuchern, Fensterhöhlen und Nischen fest, machte Worte und Landschaften noch unwirklicher. In dieses Zwielicht hinein hörte ich Rafael sagen:

„Du warst für uns tot.“ Endlich war es heraus. Nach einer dieser langen Pausen fügte er in wirkungsvoller Agogik hinzu: „Inzwischen weiß ich mehr über dich, aber nicht alles! Was ist dein Geheimnis?“

Es hatte mich schon lange gedrängt, alles aufzuschreiben, festzuhalten, nach 55 Jahren Schweigen. Jetzt aber glaubte ich, dass im Erzählen der Ereignisse die größere Chance läge, meinem Sohn das Geschehene mit all den Schrecken und tödlichen Augenblicken, aber auch großartigen Höhepunkten zu erzählen und dadurch von Generation zu Generation lebendig zu erhalten.

„Sag mir: Was war das für ein Dorf, in dem du geboren bist? Und was glaubst du, da zu finden?“, begann Rafael wieder, als hätte er meine Gedanken erraten.

„Ich will nicht, dass die Vergangenheit Macht über mich gewinnt. Aber ich werde dir vom Ort meiner Anfänge, der ersten Stille, des ersten Geräusches, der ersten Freude, der ersten Tränen erzählen:

Es war ein stilles Dorf. Das Lauteste waren die Flüche der Bauern. Ein Auto im Jahr konnte bereits große Unruhe verursachen. Flugzeuge gab es überhaupt nicht am Himmel, dafür später um so mehr mit todbringender Fracht. Die Menschen säten, ließen es wachsen, ernteten und lebten davon. Sonntags stritten sie sich aus Langeweile. Es war ein Dorf so nach deinem Geschmack, glaube ich, das war ein echtes Dorf mit …“

„Mit echten deutschen Schweinen …?“

„Ja, mit deutschen Schweinen. Und alle katholisch, also die Einwohner, alle deutschstämmig! Ja, das war noch ein bäuerliches Leben! Jeder hatte Kühe, Schweine, Pferde. Wir selber hatten Schweine, Gänse, Hühner, Ziegen …“

„Das muss schön gewesen sein für dich als Kind!“

„Einen Garten mit Äpfeln, Birnen, Maulbeerbäumen, einen Weinkeller. Jeden Morgen wurden die Gänse zusammengetrieben am Skalitz-Bach – da haben sich 5000, vielleicht auch mehr Gänse versammelt – das war ein weißes Meer.“

„Ein malerisches Bild! Hast du die Gänse gehütet?“

„Nein“, lachte ich. „Abends sind die Gänse von alleine heim gelaufen oder heim geflogen. Die wussten immer, wohin sie gehörten. Nur eines Abends, ich erinnere mich genau – es gab eine furchtbare Aufregung – waren alle unsere Gänse weg. Sie hatten einfach einen Ausflug gemacht so zehn Kilometer weit weg. Nach acht oder zehn Tagen sind sie wiedergekommen, reumütig, mit hängenden Hälsen, angeführt vom Gänserich – nur, um gestopft, im Herbst geschlachtet und gerupft zu werden. Karriere einer Gans. Aus den Federn wurden Daunen gemacht und dabei Geschichten erzählt.“

„Hattet ihr auch Pferde?“

„Ja. Es gab noch den Hufschmied mit der Esse, dem offenen Feuer, mit dem Blasebalg. Noch heute habe ich den Geruch in der Nase, wie er seine Hufeisen, die feurigen, glühenden, den Pferden anpasste.“

Rafael staunte.

„Für Kinder muss es ideal gewesen sein! Was habt ihr denn gespielt?“

„Im großen Flur, am Eingang, wo wir oft spielten, haben wir uns beispielsweise Papier in die Nase gesteckt, woraufhin ich in Wien ins Spital kam. Dort wurde mir das Trommelfell durchstochen. Die Älteren haben viel Schlagball am Binderplatz gespielt, dem größten Platz der Welt. Er wird wohl jetzt zusammengeschrumpft sein. Bei Gewitter haben wir schön das Wasser gestaut, sonst haben wir im Sand Murmeln gespielt, Eisenreifen geschoben. Es war ja ein sandiges Weingebiet mit vielen Akazienwäldern, das sonnigste Gebiet im Windschatten der Sudeten. Alles, was aus der Gegend von Luxemburg herüberkam, hatte sich vorher ausgeregnet.“

„Es war wohl ein fruchtbares Land?“

„Es war die Kornkammer Böhmen-Mährens. Zu Ostern ratschten wir den himmlischen Gruß und im Sommer haben wir auf dem Feld die Neuner, die Zehner, die Garben gestellt. Im Herbst wurde gedroschen.“

„Habt ihr auch Weinfelder gehabt?“

„Ja, auch die. Wir waren überall und immer dabei. Im Herbst mit dem Kartoffelfeuer, dem Federn-Schleißen. Da wurde der Mais gerebelt, der Kukuruz und die Kürbisse geerntet. Anstatt Fernsehen gab es beim Federlesen Geschichten zu erzählen.“

„Das klingt ja wie in einem Heimatfilm. Eine heile Welt. Wo aber liegt die Ursache des späteren Geschehens? Kannst du mir das sagen?“

Ich tat so, als hätte ich die Frage nicht gehört und fuhr in meiner nostalgischen Erzählung fort.

„Es war aber die Wirklichkeit. Oft denke ich, dass ich mir diesen Platz ausgesucht habe, dieses Stück Erde im Einklang und Rhythmus mit der Natur, in vollkommener Harmonie. Diese Landschaft, übersät mit Sonnenblumen, Akazienwäldern, im Wind klingenden Weizenfelder soweit das Auge reicht. Diese Landschaft, ich und meine Musik, glaube ich, gehören zusammen. Im Grunde bin ich überall fremd geblieben seit der Vertreibung aus diesem Land.“

„Ich kann mir das alles gut vorstellen. Seid ihr barfuß über die Felder gelaufen?“

„Ja, vom Frühling bis zum Spätherbst. Von meinen Großeltern will ich dir auch erzählen. Jeden Tag ging mein Großvater zu seinem Weinkeller, setzte sich unter die Akazien, schnitt das Brot, bestreute es mit Salz und trank seinen Wein. „Dich haben wir noch gebraucht“, schimpfte er damals und versuchte mich, mit seinen Stöcken einzufangen. Und wenn es ihm gelungen war, begann er kopfnickend von Kaiser Franz-Joseph zu erzählen, von ’66, oder von ’70/71, Österreich gegen Preußen, von einem Münchner Abkommen und ’38, dem ‚schlimmen 38er Jahr‘, dem Einmarsch der Deutschen, der ihn überhaupt nicht begeistern konnte. Von alledem verstand ich so gar nichts, sondern fing lieber mit einer Glasscherbe die Sonne ein. Nein, er war auch darum nicht begeistert vom ‚Reich‘, weil für Hitler das Sudetenland ein Vorspiel zum 2. Weltkrieg war“, beharrte ich auf dem Thema.

Rafael schwieg. Dachte er etwa, wie merkwürdig das alles sei?

„Was du mir da alles erzählst von euch und deinem Dorf! Und ich dachte, du seiest in New York oder Luxemburg oder Zürich groß geworden. Jetzt bin ich neugierig. Hattet ihr denn elektrisches Licht?“, fragte er aufgregt.

„Wir hatten sogar Radio, das einzige im Dorf. Das haben wir ins Fenster gestellt und die Bauern haben es draußen gehört. Sie wollten wissen, was um sie herum im Gange ist. Mein Vater hörte Beromünster, den Landessender in der Schweiz oder London mit Beethovens dumpfem Schicksalsmotiv aus seiner 5. Sinfonie. Ich bedaure es jetzt, damals nicht mehr gesehen und wahrgenommen zu haben, ich war noch zu unbeteiligt an allem. Dieses dumpfe ‚Bum-Bum-Bum-Bumm‘ kam mir vor, als würde Rübezahl mit Macht an die Tür klopfen, Einlass begehrend. Wie du weißt, später habe ich dieses Klopfen, dieses Schicksalsmotiv, noch oft in meinen Konzerten mit großen Orchestern wiedergegeben.“

„War das die Stimme der Freiheit in der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs?“

„Ja, sozusagen. Es gab Krieg und dadurch wurden auch unsere Spiele anders. Die Größeren rotteten sich zusammen, bekämpften sich und sammelten ‚Ritterkreuz-Träger‘. Ein ‚Rommel‘ gegen zwei ‚Galland‘ oder drei ‚Mölders‘.“

„Wann hast du denn angefangen, Geige zu lernen?“

„Die ersten Bomberpulks kamen bereits zu Hunderten aus Italien, von Nordafrika und luden ihre Fracht ab, dazu donnerten die Tiefflieger über unsere Felder. Das letzte Aufgebot der alten Männer wurde zum ‚Volkssturm‘ und den Übungen an den Panzerfäusten zusammengezogen, als wehrhafte Verteidigung gegen die Untermenschen. Auch Vater. Während alle anderen Schutz in den Kellern suchten, fuhr ich mit dem Fahrrad übers Land zu meinem ersten Geigenunterricht bei einer Nonne. Ich war noch sehr klein und habe fast nichts verstanden, aber die Spannung des ersten Halbtonschritts von der leeren E-Saite zum F bewegte mich und die Dur-Terz, die ich beim Spiel mit der Nonne zum ersten Mal bewusst hörte.“

„Warum bewegte dich das so sehr?“

„Ich weiß es nicht. Es war ein Staunen wie beim ersten Anblick des Meeres, es war die Welt für mich.“

Inzwischen hatten wir uns Wien genähert. Es war Nacht geworden und höchste Zeit, Quartier zu machen. Der Motor hatte standgehalten und wir waren inzwischen an sein Nageln gewöhnt.

„‚Mayerling‘, dies ist der Ort, wo der Thronfolger Österreichs, Kronprinz Rudolf seine Geliebte Mary Vetsera tötete und dann selbst sein Leben beendete. Lass uns hier nächtigen.“

„Wie bist du geworden, was du bist? Warum wolltest du Geige spielen?“, war Rafaels letzte Frage an diesem Tag.

„Ich weiß es nicht. Warum malst du und schreibst?“

Pastellfarben-silbrig lag die tiefe Ebene vor uns und dehnte sich in sanfter Melancholie in den erwachenden frischen Morgen hinein. Ein flageolettartiger Klang zwischen Dur und Moll lag in einem südlich milden Sonnenlicht über der Weite. Wer es wollte, konnte mit dem Intervall der fallenden Quarten das hohe langgezogene Flageollet der Geigen am Anfang von Gustav Mahlers 1. Symphonie und die fernen Trompeten aus den Kasernen von Leitmeritz hören – als seien es Signale einer unheilvollen Zukunft. Eine seltsam still-klingende Farbe vibrierte unerklärlich erotisierend in der Luft.

„Es ist, als wären wir bei van Gogh in Arles, bei den Sonnenblumen“, meinte Rafael. „Dieses verrückt gelb mild strahlende Licht, mein Gott, ein Zustand, keine Aktion, was für eine Landschaft! Was für eine Sonne! Hier würde ich gerne meine Bilder malen.“

„Du sprichst als Maler – ich höre den Klang der Gräser, den Gesang der Blumen, Halme, den Sound des Lichts in dieser Landschaft. Es ist für mich eine Vielfalt von Stimmen, die in einer gewaltigen Polyphonie zusammen erklingen. Aber spürst du nicht? Wir nähern uns dem Meer!“

„Ja, es wird immer flacher, heller, gelber. Es verschwimmt alles in nicht messbarem Licht. Meinst du das mit dem Meer?“

„Es ist die Heimkehr, Rafael! Wir alle liegen am Meer! Irgendwann kehrt jeder zurück zum Holunderbaum seiner Kindheit, zu seinem Klang.“

Nach einer Weile fügte ich hinzu: „Willst du mit mir auf den Grund des Meeres gehen, Rafael? Muscheln suchen und Perlen fischen?

„Ja, Vater!“

Langsam fuhren wir die weizengelbe Ebene hinab in die Unendlichkeit der mährischen Tiefebene, in das Labyrinth meiner Vergangenheit. Lag hier die Ursache der späteren Katastrophe?

„Die Akazien, Rafael, schau doch nur, die Akazien!“

Dabei hätten wir es beinahe übersehen, das verwitterte, vermoderte Holzschild auf einem maroden Pfahl. Es wies von der schottrigen Hauptstraße altersschwach, verschämt verlassen in einen kleinen Feldweg hinein, hinunter in den Grund. Da stand es, kaum leserlich, unfassbar: OLKOWITZ. Es war in fremder Sprache geschrieben.

Es gibt wenige solcher Augenblicke im Leben, in denen alles still zu stehen scheint.

55 Jahre einmal Olkowitz – New York – und zurück! Ein Weg mit tausend Namen, Blumen und Blut.

Da begannen für mich die Lerchen zu singen, hoch über den Feldern. In das Singen mischte sich der Klang der böhmischen Musikanten, der Schmelz der Zigeunergeigen und Zimbals, der wundersam klagende Wechsel von Dur und Moll der Kindertotenlieder von Gustav Mahler, die klirrenden, quietschenden Klarinetten und betrunkenen Trompeten der Bauernhochzeiten, das Lied vom fahrenden Gesellen und der „Winterreise“: „Fremd bin ich ausgezogen, fremd zieh ich wieder ein.“

„Die Akazien, siehst du, hörst du die Akazien mit ihren weißen Blütenkerzen, wie sie heute Nacht aufgegangen sind, Rafael? Du wirst mein Geheimnis erfahren. Es ist Zeit!“

„Nein! Es ist gut, ein Geheimnis zu haben. Aber ich möchte mehr wissen, damit ich besser sehen kann!“

Von diesem Zeitpunkt an schwieg Rafael.

… und Olkowitz liegt doch am Meer. Schönheit ist des Teufels

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