Читать книгу … und Olkowitz liegt doch am Meer. Schönheit ist des Teufels - Alois Springer - Страница 8

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In den letzten drei Wochen des Zweiten Weltkrieges wurde der Bezirk um Olkowitz zum Kampfgebiet. Die siegreichen Frontsoldaten der sowjetischen Armee waren inzwischen weitergezogen. Sie hatten es eilig zum nächsten Siegesfest zu kommen. Ihnen folgte weit hinter der Front die nicht kämpfende, undisziplinierte wilde Etappentruppe des Nachschubs, die zwar nicht mordete, aber das besiegte Land mit hemmungslosen Vergewaltigungen in Angst und Schrecken versetzte.

Jene, die den Willen und die brutale Fähigkeit hatten, vorsätzlich und mit unerschöpflichem, sadistischem Einfallsreichtum lustvoll zu morden, kamen erst danach. Am 8. Mai 1945 kapitulierte Deutschland bedingungslos. Ende Mai tauchten in Olkowitz „Partisanen“ auf. Es waren Angehörige des Volkes, das mit uns, bereits 1199 und 1201 urkundlich erwähnt, gut nachbarlich zusammengelebt hatte, nämlich Tschechen. Als erstes verhafteten sie die Männer unseres Dorfes. Einige von ihnen wurden nach Znaim, die Perle Südmährens, gebracht und dort schwer misshandelt. Die anderen sperrten sie in die Keller des nahen Klosters Mariahilf, um sie dort zu verprügeln, zu schlagen und schwer zu foltern. Wenige dieser Männer überlebten diese Folter. Es war der Anfang der Drangsalierung der deutschen Bevölkerung Südmährens. Trotzdem dachte noch niemand an das scheinbar Unmögliche, das möglich werden könnte, obwohl Edvard Beneš, der Präsident der tschechischen Republik, schon am 27.10.1943 verkündet hatte: „In unserem Land wird das Kriegsende mit Blut geschrieben werden. Den Deutschen wird mitleidlos und vervielfacht alles heimgezahlt werden …“ Niemand dachte an eine Vertreibung. Aber am 18. August 1945 sollte es soweit sein.

Für „Iwan“, meinen Vater Alois, war die unmittelbare Gefahr zunächst vorüber. Um niemanden verraten oder ausliefern zu müssen, hatte er sich in den schwer zugänglichen Weinkellern versteckt. Sie führten tief in die Erde hinein, mit verwirrenden Verbindungsgängen unter den Kirchberg hindurch zum Friedhof und der Kirche, verästelten sich aber auch ins Dorf hinein. Für Flüchtende ein ideales Versteck. Hierher hätte sich der erschossene Soldat retten sollen.

Im Dorf breitete sich eine angstvoll lähmende Stille aus, eine Leere, in der jede Bewegung versickerte. Selbst die Luft schien still zu stehen. Ein bedrückender Schleier hatte sich über dieses sonst so sonnige Land gelegt. Ein Vakuum der Macht hatte sich gebildet, und wo ein solches ist, entstehen leicht Stürme, und Stürme fragen nicht, welchen Baum sie entwurzeln dürfen. Tausend Jahre Zusammenleben zweier Völker waren im Begriff, brutal und mit Absicht von einer Seite beendet zu werden. Die ethnische Säuberung begann mit Greueltaten.

Ich begriff noch nicht die Ursache meiner Angst. Jeden Morgen schlenderte ich barfüßig an den Weinkellern entlang, durch das Akazienwäldchen, wo ich auch meine drei Ziegen hütete, hinüber zu den wenigen Häusern, in denen, getrennt vom eigentlichen Dorf, die Ärmeren lebten, so auch mein Freund.

An diesem Morgen aber pochte ich vergebens an seine Tür. Niemand öffnete. Der Hund wedelte weder wie sonst an mir hoch, noch hörte ich von drinnen rufen: „Bist du’s, Alois?“

Ein noch nie erlebtes Gefühl des Zuspät-Gekommenseins und eines endgültigen Verlustes ergriff mich wie ein Naturereignis. Voller Ahnung, mit einem würgenden Weinen in der Kehle kletterte ich über die hohe Gartenmauer, sah mit Entsetzen die Kadaver von Hund, Katzen, Federvieh und Ziegen im Hof liegen. Beklommen schlich ich mich ins Haus. Keine Menschenseele! Das Haus ausgeräumt und leer! Für mich stürzte der Himmel ein.

Was war passiert? War meinem Freund Leid zugefügt worden? Oder hatte mich mein Freund ohne Abschied verlassen. Ohne Worte? Ohne ein „Adieu – dein Freund.“? Nicht einmal so tröstliche wie: „Sorge dich nicht um mich! Mir geht es gut, ich komme bald wieder!“ Grausame Hinweise auf ein schreckliches Geschehen, kein Zeichen von ihm, kein abgebrochener Zweig als ein Hinweis für mich, keine Spur im Sand! Musste der Freund fliehen? Wurde er vertrieben? Und wenn, warum? Was jetzt tun?

Ich würde ihn suchen gehen, aber wo? Die Weinkeller kamen mir in den Sinn. Ja, natürlich, wo sonst sollte er sein? Sie waren das sicherste Versteck.

Ich erinnerte mich an die drei versprengten russischen Soldaten, die ihr Leben durch das Verschwinden in die Weinkeller anscheinend hatten retten können. Aber es waren nicht wenige Weinkeller. Auf der Seite des Friedhofs und unter den Friedhof hindurch waren es vier, unter dem Akazienhügel der anderen Seite reihten sich zwölf, in die Felder auslaufend, aneinander. Sie verteilten sich unsichtbar unter dem ganzen Dorf wie ausgehöhlte Adern. Die Bauern hatten sie alle wegen der letzten dramatischen Ereignisse nicht mehr benutzt. Bei dieser Aussicht verließ mich der Mut.

Lange rührte ich mich nicht, überwältigt von unbegreiflichen Gefühlen. Dann begann ich einfach zu gehen, ging zu den weit vor mir liegenden Feldern in die Ebene hinein. Vor einer steinernen Martersäule im „Rustenfeld“ blieb ich stehen und begann die verwitterte Inschrift zu lesen: „Si pro te proprium peccator fundo cruorem, te saltem lachrimas fundere ne pigeat MDXCV.“ Erst viel später konnte ich das Lateinische übersetzen: „Der Heiland spricht: Wenn ich für dich, o Sünder, mein eigenes Blut vergieße, soll es dich nicht gereuen, wenigstens Tränen zu vergießen.“

Unter der Martersäule sitzend, begann ich, still und bitterlich zu weinen.

„Weine nicht! Sing dem Herrn ein einfaches Lied, zu seinem Lob, auf all deinen Wegen, spiel auf deiner Geige ein einfaches Lied zu seinem Lob.“ Ich glaubte, eine himmlische Stimme zu hören, aber niemand war auf dem Felde.

Die Sonnenstrahlen überfluteten die Ebene, Lerchen über den Feldern jubilierten in der immer hartnäckiger werdenden Hitze und das frische Grün des scheidenden Frühlings wich allmählich den Farben des erwachenden Sommers.

Von jetzt an ging ich jeden Tag mit meiner Nicolas Aine zum verlassenen Haus meines Freundes und zur Martersäule ins Feld, lehnte mich an sie und spielte nach Art der Zigeuner auf der höchsten Saite der Geige, der E-Saite, immer wieder das gleiche klagende Lied. Verwirrende Halb- und Vierteltöne im Wechsel von Moll und Dur vermischten sich mit denen der Lerchen hoch oben in den Lüften und dem Zizipe der Waldmeise.

Hatte ich nicht schon einmal dieses würgende, hilflose Gefühl des Verlassen-Werdens und des Wartens auf den, der gegangen ist, erlebt, das mir das Weinen aus der Seele in die Augen trieb? Gab es denn kein Mittel gegen diese Sehnsucht?

Ich erinnere mich: Ja, damals lag ich in einem Wiener Spital, kaum vier Jahre alt. Es war in der Zeit meines ersten Orgel-Klangrausches. Gerade hatte ich eine schwere Mittelohr-Operation überstanden. Die Trommelfelle waren mir durchstochen worden, die Ohren, mit denen ich bisher die Welt wahrnahm, aufgemeißelt. Mit verbundenem Kopf, aus dem nur noch die Augen herausschauten, lag ich unter Schmerzen im Krankenbett. Wie Puppen bewegten sich die Gestalten vor mir stumm hin und her, sie brauchten mich nicht, sich zu bewegen. Ich begann, auf jede Bewegung zu lauschen.

Die Mutter war in großer Sorge, dass ich mein Gehör verlieren würde, denn die Ärzte hatten diese Gefahr angedeutet.

Jetzt hieß es: „Die Operation ist gut verlaufen, liebe Frau. Sie können Alois bald mitnehmen. Nur, etwas müssen wir Ihnen sagen: Er wird nicht mehr gut hören können, wenn es später überhaupt noch einmal möglich sein wird.“

„Er wird später nicht mehr hören können? Mein Gott, soll das ein Zeichen sein?“, rief Mutter verzweifelt aus.

In ihrer Sorge verließ sie das Krankenbett, ging zurück in das Dorf zu dem Erdloch, in dem der alte Jakob, Sohn eines Pfarrers, als Sonderling und Wahrsager lebte, der mit Zahlen in die Unendlichkeit schauen und aus der Hand lesen konnte.

„Es ist etwas Besonderes mit deinem Sohn, er wird ein außergewöhnliches, schweres Schicksal haben, berühmt werden, vom Bettler zum König, dieser euer Sohn, aber dann?“

„Was, und dann?“ Darauf hatte Jakob nur in seine Zahlen geschaut und keine Antwort gegeben. Kein Wunder, er rechnete nur in Billionen-Reihen von Zahlen und sagte das Ende der Welt voraus. Murmelnd sagte er immer wieder vor sich hin: „Lazarus, Lazarus, der reiche Mann und der arme Lazarus. Lazarus von Bethanien … vier Tage wird er im Grabe liegen, vier Tage. Die Furcht vor dem Herrn ist der Beginn der Weisheit. Gesegnet der Mann, der den Herrn lobt, lobet ihn mit Posaunen, mit Psalter und Harfe, mit Trommeln und Tänzen, mit allen Pfeifen, mit hellen Zimbeln und wohlklingenden Zimbals. So hat schon vor fast 3000 Jahren der Psalmist in seinen letzten vier Gesängen seiner Psalmen 147-150 dem Herrn ein Lied gesungen.“ Darauf schaute der alte Jakob wieder in seine Zahlenreihen.

Dies geschah auch gerade in der Zeit, als ich zu sprechen begann. Bis dahin hatte ich alles nur mit den Ohren aufgenommen, hörte, was ich mit den Augen sah und hatte in mich hineingelauscht.

Die Mutter, von mir sehnlichst erwartet, kehrte, von Jakob, dem Geheimnisvollen kommend, endlich zu meinem Bett zurück, erzählte mir alles Geschehene wie ein Märchen, faltete ihre Hände und dankte dem Herrn mit den Worten des Psalmisten, die sie vom alten Jakob gehört hatte. Die sonst so Wortkarge beugte sich dann über mich, nahm meine Hände und begann leise, ein einfaches böhmisches Wiegenlied zu summen. Hatte ich mir das nicht schon immer gewünscht? Später wusste ich, es war kein böhmisches, sondern das Wiegenlied von Franz Schubert, op. 18 Nr. 2, und bestand nur aus acht Takten, die sie immer wiederholte, erst leise, dann lauter, wieder leise, schließlich im Diminuendo kaum mehr hörbar.

Danach stand sie auf und, wohl um mir und sich nicht weh zu tun, flüsterte sie: „Schlaf, mein liebster kleiner Alois, schlaf, ich muss dich für eine Weile verlassen, aber ich komme wieder“, küsste mich zärtlich und ging, sich noch einmal umdrehend, durch die Tür, auf die ich noch lange schaute, erwartend, dass sie endlich wieder aufginge. Aber es geschah nicht, nicht an diesem Tag und auch nicht am nächsten. Ich weinte still in meine Kissen hinein und wartete, horchte auf etwas, das kommen würde. Habe ich nicht mein junges Leben lang darauf gewartet? Inzwischen war ich neun Jahre alt geworden.

Nachdem ich mich in dieser Erinnerung fast verloren hätte, fand ich mich immer noch an die Martersäule gelehnt. Mein Weinen hörte auf. Dürstend legte ich die Geige weg und stieg, um meinen Freund zu suchen, in den ersten Weinkeller, dem von der elterlichen Mühle entferntesten. Ich wagte mich hinein ins unbekannte verbotene Labyrinth. Niemand wusste davon.

Alle meine Sinne waren in diesem Augenblick der großen Angst vor dem Unbekannten aufs Äußerste angespannt. Als ich die erste schwere eisenbeschlagene Eichentür aufzog und sich vor mir die Unterwelt öffnete, ich nichts mehr sah, schlug mir ein säuerlicher Geruch von Schwefel und Moder entgegen. Ich zitterte leicht vor Erregung. Das grelle Sonnenlicht reichte nur noch wenige Meter in das Dunkel hinein. Dann tauchte alles in tiefes Schwarz. Behutsam tastend wagte ich mich Schritt für Schritt in diese unentdeckte Welt hinein. Zunächst konnte ich nur riechen, tasten, fühlen, in die Stille hinein lauschen. Erst allmählich kamen mir aus der Schwärze Umrisse einzelner Gegenstände entgegen, nahmen Formen an, zwangen mich, mich mit ihnen abtastend zu beschäftigen. Der Gegensatz von hellstem Sonnenlicht und Dunkelheit wurde weicher. Die Augen begannen, sich den Ohren anzupassen, sogar meine Art, zu sehen und wahrzunehmen, veränderte sich. Ein Hörbild entstand in mir.

Was würde mich im Inneren des düsteren Labyrinths erwarten? Ein menschenfressendes Ungeheuer? Vielleicht eine verwunschene Prinzessin? Eine Riesenschlange oder die lustige Gesellschaft von Kobolden?

Je tiefer ich, nur mit einer Kerze ausgerüstet, in das Dunkel eindrang, desto verschlungener und rätselhafter wurden die Gänge. Ab und zu sprang hinter einer Biegung im unruhigen Flackern meines Lichts eine Inschrift aus der Wand. Eine Zahl, ein Gekritzel. Kleinste Gegenstände wurden zu gespenstisch großen Gemälden, das leiseste Geräusch eines Wassertropfens geriet zur erschreckenden Explosion, jedes dieser Geräusche hatte eine eigene Richtung. Meine Sinne wurden geschärft und erfüllten allmählich wieder ihre Aufgaben: das Tasten, Riechen, Fühlen. Ich konnte das Atmen der Höhle hören und es drang in mich ein, sehen aber konnte ich weder einen Anfang noch ein Ende, und das empfand ich nicht als großen Verlust. Die Dunkelheit brauchte meine Ohren, nicht meine Augen.

„Ich kann in der Stille hören“, flüsterte ich vor mich hin. „Ich kann hören, ich, ich, ich bin …!“ Hatten die Ärzte in Wien nicht gesagt: „Er wird nicht mehr gut hören können, wenn es später überhaupt noch einmal möglich sein wird.“

Gleichzeitig überkam mich dumpfe Ausweglosigkeit. Der Schwefel- und Modergeruch machten mich benommen. Ich bildete mir ein, das schmerzhafte Stöhnen der schwitzenden Höhle zu hören. War hier je ein Mensch gewesen?

Nein, hier konnte mein Freund nicht sein!

Ich hatte eine andere, eine neue Welt entdeckt. Mich an den kalten nassen Sandwänden entlang tastend, wurde mir plötzlich erschreckend bewusst, dass ich den Weg zurück nicht mehr finden würde, wenn ich weiter ginge. Panik überfiel mich. Hilfesuchend drehte ich mich im Kreis. In diesem Moment erlosch die Kerze. Um mich herum stockfinstere Nacht, keine Orientierung mehr. Das Kellergewölbe wurde zur totenstillen, grausam schwarzen Gruft – vielleicht zu meinem Grab 20 Meter im Berg unter dem Friedhof? Die plötzliche, erstickende Enge und feucht-salzige Luft pressten mich zu Boden. Ich schmeckte den Geruch von Sand und Stein, den Erdgeruch. So lag ich reglos in totaler Verlassenheit, ohne den wärmenden Hauch einer Menschenseele, ohne Freund. Allein!

Es dauerte lange, bis ich begann, nach dem Licht des Ausgangs zu suchen, aber ich konnte es nicht entdecken, fühlte nur, dass ich mich bewegen müsse, und zwar aufwärts, nicht mehr abwärts in den Berg hinein, wenn ich zurück zu den Lebenden kommen wollte.

So begann ich, auf allen Vieren hinauf zu kriechen, und wirklich, irgendwann blinzelte mir der erste Lichtstrahl zu: „Komm, Alois, folge mir!“, schien er mir sagen zu wollen.

Nach der feuchten Dunkelheit, vom gleißenden stechenden Sonnenlicht und der schneidenden Luft erschlagen, ließ ich mich vor Erschöpfung in den warmen Sand fallen.

Noch hatte ich meinen Freund nicht gefunden.

Geblendet und geschockt von der mittäglichen Hitze wurde ich plötzlich von rohen, brutalen Kräften gepackt und wusste nicht, wie mir geschah. Ich hörte nur die erschreckende Grobheit rauher Stimmen.

„Hier bist du also, du Vermaledeiter. Haben wir dich endlich! Was hast du in den Kellern zu suchen? Sag, was schnüffelst du hier herum. Es ist für euch verboten, da hineinzugehen!“

Ich sah nur die Umrisse hasserfüllter, grinsender Gesichter über mir und roch den beißenden Geruch roher Gewalt. Ich wurde den Sandweg hinabgeschleppt bis zur Mühle, Haus Nr. 94, und hier, mitten auf dem Binderplatz, erblickte ich meinen Vater mit der Geige in der Hand, umringt von bewaffneten Männern, die mit ihren Maschinengewehren wild in die Luft feuerten.

Als wäre ein Vorhang zur Hölle aufgerissen worden, sah ich, was ich bis dahin noch nie gesehen hatte: die Lichtgestalt meines Vaters gedemütigt und von Schlägen gezeichnet. Alle Farben ringsum verblasst, über dem Dorf, Grau in Grau, gespenstische Stille, die Schwalben tief über dem Boden fliegend.

Einer der zufällig Vorübergehenden blieb vor mir stehen und ohrfeigte mich.

„Geh zu deinem Vater, diesem deutschen Schwein!“

Meine Peiniger stießen mir, obwohl das nicht nötig war, mit ihren Gewehrkolben in die Rippen. Mit jedem dieser Stöße prügelten sie mich in eine andere Welt. Da gingen mir die Augen auf.

„Hier, du spielst doch auch auf der Geige?“, höhnten sie. „Nimm deine Geige mit! Du wirst sie noch brauchen!“

Dabei drückten sie mir zu meinem Erstaunen die verloren geglaubte Nicolas Aine, die einer von ihnen wie eine Jagd-Trophäe in der Luft geschwungen hatte, in die Hand und trieben mich weiter zu meinem Vater. Der sah mich lange still an, sich scheinbar der Situation fügend.

„Alois, um Gottes willen, wo warst du, du Schlingel? Ich habe mir solche Sorgen um dich gemacht! Warst wohl wieder bei deinen Ziegen?“

„Nein, Vater. Mein Freund Ludwig ist verschwunden, alle sind sie verschwunden. Sein Haus ist leer. An einer Wand steht mit roter Farbe geschrieben: ‚Cesky dom‘. Was bedeutet das, Vater?“

„Das bedeutet, dass dieses Haus leer ist, und jeder weiß, dass niemand von uns hinein gehen soll!“

„Warum hast du eine weiße Binde mit einem großen N um deinen Arm?“

Einer der drei Jäger packte mich an der Schulter.

„Ihr redet zuviel, ihr beiden. Komm her, Kleiner, du sollst auch so eine Binde mit einem großen N bekommen, ganz wie dein Vater!“ Er band mir die weiße Binde um und lachte dabei so heftig, dass sein Speichel mir ins Gesicht spritzte.

„Bravo, auf deine Binde kannst du jetzt stolz sein, Kleiner! Das ist eine Auszeichnung. Jeder wird dich erkennen und mit dir machen können, was er will.“ Er lachte höhnisch. „Und jetzt ab mit euch zur Kommandantur! Dort könnt ihr reden!“

Ich drängte mich dicht an meinen Vater.

„Vater, warum machen sie das mit uns?“

„Alois, du bist noch so jung, gerade erst neun Jahre alt geworden. Sorge dich nicht um das, was jetzt hier geschieht. Freue dich auf den Sommer, die Weizenfelder, deine Ziegen.“

„Trotzdem verstehe ich das nicht! Warum? Was habe ich getan, Vater? Ist es, weil ich im Weinkeller meinen Freund gesucht habe? Wer sind diese Leute? Kennst du sie?“

„Nein, aber ich werde sie wohl kennenlernen!“ Dabei zog er mich noch näher an sich.

Inzwischen waren wir an der weiß gekalkten, aus Ziegeln und Steinen erbauten Kommandantur angekommen.

„Vater, wo sind wir hier? Warum schießen die Männer in die Luft?“

Vater beugte sich zu mir, umarmte und küsste mich. Seine Augen glänzten so merkwürdig.

„Sei ganz still, Alois. Du musst jetzt tapfer sein mit deiner Binde am Arm. Mutter ist mit deinem Bruder nach Wien gefahren, um Wichtiges zu erledigen. Sie werden bald zurück sein.“ Und als würde er zu sich reden, fügte er hinzu: „Alois, du wirst lange brauchen, um das zu verstehen.“

„Aber Vater, wenn du wüsstest! Ich habe solche Angst!“

Später erfuhr ich, dass das N für das tschechische Wort Nmec, ‚Deutscher‘ stand.

Wir betraten das niedrige Gebäude.

Der Bretterfußboden knarrte bei jedem Schritt, als würde er warnen wollen: „Seid vorsichtig, es könnte sonst euer Verderben sein.“

Vor uns, flankiert von den drei schießwütigen Zivilisten saß an einem Holztisch ein nicht gerade gut gekleideter schmächtiger Mann mittleren Alters mit herausfordernder Gestik, die in merkwürdigem Widerspruch zu seinem schwächlichen Äußeren stand. Es war der Vorsitzende und Kommissar des Nationalausschusses der neuen Herren. Er trug eine Art Briefträgermütze in den Farben rotwei-ßblau als Machtsymbol auf seinem Kinderkopf, dazu einen abgetragenen Uniformrock mit glänzenden Knöpfen. In seiner Haltung drückten sich Eitelkeit, Geltungssucht und Ehrgeiz aus, Eigenschaften, die ich noch nicht kannte. Später begegnete ich diesem Kommissar sehr oft in den verschiedensten Verkleidungen, Tarnungen und Masken. Er begann das Verhör und schob dabei imaginäre Papiere auf dem Tisch hin und her.

„Sie sind der Müller der Getreidemühle dieser Gegend?“

„Warum fragen Sie mich das? Sie wissen doch, wer ich bin.“

„Sie sind Deutscher?“

„Sie sehen es doch an meiner Armbinde, Herr Vorsitzender.“

„Das ist Ihr Sohn?“

„Mein Gott, ja, der Jüngste!“

„Er ist auch Deutscher?“

„Ja, auch er hat eine Binde am Arm. Herr Vorsitzender, was wollen Sie von uns? Wir haben gegen nichts verstoßen! Was werfen Sie uns vor?“

„Ihr seid Deutsche, das ist genug.“

„Habt ihr nicht vor kurzem zu anderen gesagt: ‚Nur, weil ihr Juden seid?‘“, entfuhr es Vater. „Wenn ihr die Möglichkeit hättet, würdet ihr uns in die Gaskammern stecken wie diese, aber Gott sei Dank, seid ihr organisatorisch nicht dazu fähig.“

Das war zuviel für den Kommissar. Sein Gesicht wurde leichenblass. Gefährlich ruhig sagte er, kaum hörbar: „Beweist uns, dass ihr Deutsche seid, gute Deutsche! Ihr ward doch gute Deutsche? Wir wollen, dass ihr es bekennt, vor uns allen! Vor dem ganzen Dorf!“

„Nur, weil wir Deutsche sind?“, wiederholte Vater. „Was wollt ihr von uns? Wir haben lange mit euch zusammengelebt, und jetzt …!“

„Wir wollen, dass ihr euch als Deutsche bekennt, nichts weiter.“

„Und dann? Das ist kein Grund, uns so zu behandeln. Ihr sucht einen Vorwand“, sagte Vater unvorsichtig.

„Das ist Grund genug. Und wenn das nicht genügt, werden wir einen finden.“

„Und dann?“

„Dann raus mit euch, raus!“

Er überlegte einen Augenblick, kam dann endlich auf seinen teuflisch-zynischen Plan.

„Ihr beide spielt doch Geige, oder?“, rieb er sich die Hände.

„Ja, aber …?“

„Gut so. Dann spielt doch auf euren Geigen eure Nationalhymne. Wie geht sie noch? Na sagt schon! Wie geht eure Nationalhymne? Ihr habt sie doch in die ganze Welt hinausgebrüllt!“ Lauernd wie eine Wildkatze auf Jagd spannte sich sein Körper. Dann besann er sich. Mit gespielt galanter Geste forderte er: „Laßt uns eure Kunst bewundern. Spielt für uns eure Hymne. Wir hören!“ Aber Vater weigerte sich.

Da schnellte er aus seinem Stuhl hoch.

„Stellt sie draußen an die Wand!“, schrie er weiß vor Wut. „Stellt sie an die Wand. Da draußen werdet ihr vor dem ganzen Dorf euer ‚Deutschland, Deutschland über alles‘ spielen oder ich lasse euch abknallen. Packt sie euch! An die Wand mit ihnen!“

Deswegen also die Geigen! Ein geplantes Spektakel. Die weiß gekalkte Frontseite des bescheidenen Häuschens wurde in der prallen Mittagssonne zum Dorfpranger.

Mit den Gesichtern zur Wand stehend, im Rücken ihre Folterer, die Gewehre im Anschlag, daneben, mit schmalen Lippen genüsslich lächelnd auf einem umgedrehten Stuhl sitzend, der Kommissar, Arme auf Stuhllehne und Kinn gestützt.

Der Binderplatz war menschenleer, etwa zwölf Uhr mittags. Regie: die Willkür. Erster Aufzug, erste Szene. Ultimatum.

Voller Angst dachte ich: „Um Himmels willen, was wird Vater tun? Wenn er die Nationalhymne spielt, würden sie ihn als guten Deutschen und Nazi erschießen, oder foltern oder bestenfalls anklagen, ihn und unsere Familie. Sollte er sich aber weigern, würden sie ihn auch erschießen oder foltern oder als Zwangsarbeiter verschleppen.“

Vater spielte nicht. Die Jäger schossen. Von der Wand spritzte der Kalk. Während sie lachten, schossen sie gezielt neben uns Gejagte.

„Spielt, ich warte nicht lange!“, drängte der Kommissar mit bedrohlich leiser Stimme.

„Ich kann das Lied nicht spielen!“, sagte Vater. „Ich spiele euch einen wunderschönen Walzer, nein, ein böhmisches Lied, ‚Rosalka‘ kann ich euch spielen.“

„So, so, du kannst das Lied nicht spielen!“ Der kleine Kommissar schnalzte mit der Zunge, gab ein Zeichen. Sie schossen. Und wieder spritzte der Kalk, diesmal in unsere Gesichter. Ich hörte die Schüsse nicht und spürte nicht die harten Kalksplitter an meinen Wangen.

In diesen Augenblicken wuchs in mir das Wunder eines melodischen Einfalls zu einer Melodie. Sie schwoll an zu einem berauschenden, vielstimmigen Klang. Um mich herum schien alles still zu stehen. Vom hohen, wolkenlosen Himmel prallte die Mittagssonne ungehindert auf die Wand vor uns. Wir standen mit dem Gesicht zur Wand. Das Weiß bohrte sich in unsere Augen. Die träge Stille des Mittags, wieder ein Zustand des Wartens auf das Ungewisse, das kommen wird, lag über dem Dorf.

Die drei Jäger hatten die Mützen zum Schutz ihrer müde gewordenen Augen in die Stirn gezogen und überließen den Auftrag der zermürbenden Kraft der Sonne und der Zeit. In größeren Abständen gab der Kommissar mechanisch den Befehl.

„Schießen!“

Dann schoben sie ihre Mützen aus der Stirn und schossen vor unsere Füße, so dass die Erde aufwirbelte und sich dabei kleine Krater bildeten. Die Einschüsse schlugen in immer kürzer werdenden Zeitabständen neben uns ein, immer näher an unseren Körpern. Mit den Schüssen wuchs die Angst, die Erkenntnis der Ausweglosigkeit unserer Situation und des Sich-fügen-müssens.

Ich dachte an Mutter und Bruder, ob sie denn nun endlich aus Wien zurückkehren würden. Es geschah nicht. Der Abend näherte sich und mit ihm kam der Augenblick, da sich Vater zu den Jägern umdrehte, sich auf den Boden warf und sie bittend anflehte:

„Nun schießt doch endlich, schießt auf euer Wild, macht Schluss mit der Quälerei!“

Und zu mir gewandt: „Weine nicht, Alois! Spiel auf deiner Geige dein einfaches Lied zum Lobe Gottes!“

Ich glaubte, eine himmlische Stimme zu hören, aber niemand war zu sehen. Da nahm ich meine Geige und begann leise die Melodie zu spielen, die in mir entstanden war, während die Schüsse neben mir einschlugen: Das sehnsüchtige Lied von der Martersäule im Feld.

Alles um mich herum versank in der aufkommenden Dämmerung. Ich ließ mich von Welle zu Welle, vom Auf und Ab meiner Einfälle, fließendem Wasser gleich, treiben, durchstreifte auf den vier Saiten unbewusst alle Himmelsrichtungen dieser Erde, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft im einzigartigen Augenblick des Klangs vereinend.

Die drei Jäger ließen ihre Gewehre zu Boden sinken. Über das blasse Gesicht des Kommissars legte sich ein Staunen, streifte ein Hauch von Farbe seine Blässe. Die zugekniffenen Augen weiteten sich. Seine verkrampfte Haltung wandelte sich und drückte Faszination und Ratlosigkeit aus. Er richtete sich auf, ließ sich wieder entspannt zurückfallen, vergaß, seine mechanischen Befehle und lauschte.

Am Horizont färbte sich der Himmel in silbrig-goldene Streifen, als würde er, umschmeichelt von den Klängen der Geige, die Töne auf seine unvergleichliche Weise sichtbar in Farben umsetzen, oder veränderten sich die Farben in Töne, die ich auf meiner Geige nur hörbar machte. Es war, als würde ich mit meinem Spiel das Schauspiel dieses himmlischen Bewegungsbildes auf die vier Saiten meiner Geige herab spielen.

Der menschenleere Binderplatz belebte sich wie ausgedörrtes Land nach den ersten Regentropfen. Zuerst waren es Kinder, vereinzelte, dann immer mehr, angelockt von den ungewohnten Klängen, dann Frauen mit ihren traditionellen Kopftüchern, die wie zufällig vorbeigingen, noch letzte Wege vor dem Abend zu besorgen. Schließlich bildeten sich kleine Oasen in respektvoller Entfernung zu mir. Lose verstreut fanden sich Männer ein, die sich scheu das eine oder andere zuflüsterten. Allmählich legte sich eine alle bewegende Ruhe und Stille über das Dorf. Jäger und Gejagte öffneten sich angesichts des errötenden Himmels den bewegenden Klängen der Geige.

Ein krummer alter Mann löste sich aus der Gruppe der Männer, kam gebückt auf mich zu und murmelte kaum vernehmlich vor sich hin: „Es gibt viele Gemeinsamkeiten zwischen Medizin und Musik. Beide können heilen.“ Dabei nickte er heftig mit seinem ausgedörrten Schädel und wiederholte im Weggehen immer wieder diese Worte.

Erleichtert bemerkte ich, dass endlich auch die Mutter mit meinem Bruder aus Wien zurückgekehrt war und sich zu einer kleinen Gruppe gesellt hatte. Drüben auf dem Kirchberg-Hügel schien mir eine einsame, helle Gestalt, zuzuwinken. War es Micha, der Zigeuner? Er bewegte seine Lippen, als würde er mir zurufen: „Sie wird dir immer treu sein, die Nicolas Aine und deine Musik wird der Welt gehören und sie umfassen!“

In diesen Augenblicken spürte ich die umfassende, heilende utopische Kraft der Musik, die unmittelbar in die Seele der Menschen dringt. Ich hatte aufgehört zu spielen. Die Klänge lagen über dem Platz und wirkten noch lange nach. Niemand bewegte sich in der Stille. Es war, als würden die Menschen staunend zum ersten Mal das Meer rauschen hören. Erst allmählich lösten sie sich und gingen fast lautlos auseinander.

Mutter lief mit meinem Bruder über die Straße auf uns beide an der Wand zu, nahm mich und meinen Vater an der Hand und ging, ohne den Kommissar anzusehen, geschweige denn, ihn zu fragen, mit uns hinüber zur Mühle.

Der Kommissar hinderte uns nicht, schaute uns nur kurz nach. Wusste er, was uns bevorstand?

Im Eingang zur Mühle standen, mit Gewehren bewaffnete, schäbig gekleidete Zivilisten. Über dem Torbogen die befürchtete rote Schrift: „Cesky dom“, „Tschechisches Haus“.

„Was wollt ihr hier?“, hielt einer der unverhofft zur Macht Gekommenen uns auf, als wir in unser Haus eintreten wollten.

Hatten sie nicht auch unter dem errötenden Himmel zugehört?

„Es ist unser Haus! Was wollt ihr hier?“, entgegnete mit denselben Worten die Mutter.

Eine junge Frau erschien in der Tür.

„Hier ist kein Platz mehr für euch!“, herrschte sie uns Vier an. „Es ist vorbei. Wir …“, sie deutete auf einen Mann hinter sich, „sind die neuen Herren der Mühle. Für euch gibt es nur noch einen Platz, an den ihr gehört: bei den Schweinen. In den Schweinestall mit euch!“ Und zu den Häschern: „Packt sie! Werft sie in den Schweinestall!“

Sie taten es augenblicklich.

„Halt, der Kleine hier, der mit der Geige. Komm her, Kleiner, bist du der kleine Alois, von dem ich schon gehört habe?“

Anstatt ihr zu antworten, trat ich ihr mit wildem Zorn vor das Schienbein.

Sie schrie auf: „Du kleine Bestie. Nehmt ihm die Geige weg. Steckt ihn mit der ganzen Familie zu den Schweinen. Die werden ihnen was grunzen.“

Sie rissen mir die Geige aus der Hand, zerrten uns durch Flur, Küche und Hof hinüber zum Schweinestall und warfen uns alle in den Kot der Schweine, die ob der ungewohnten Einquartierung erschreckt auseinander stoben.

Vorne im Wohnhaus feierten die Jäger ihren Jagderfolg und den Einzug in ein unverhofftes Paradies.

Mit den Schweinen einige Zeit zu leben, ihr Futter zu teilen, ihr Grunzen und Beschnuppern als Liebkosung aufzunehmen, von ihrer Wärme zu profitieren, empfanden wir als eine wohltuende Erfahrung, die uns half, unbeschadet an Leib und Seele zu überleben. Hier, unter den Schweinen, war menschliche Wärme, da draußen nur Hass. War es das, was Jakob der Verrückte mit „Lazarus“ gemeint hatte: „und die Hunde leckten seine Wunden“?

In den darauffolgenden Nächten schlich sich Vater aus dem Schweinestall, kam nach einiger Zeit erleichtert, mit fröhlichem Gemüt zurück und legte sich zufrieden ins feucht-warme Stroh.

„Was um Himmels willen treibst du, Mann, in der Nacht da draußen?“, fragte Mutter. „Die Hühner gackern nicht, die Gänse schnattern nicht, sie sind doch sonst so wachsam. Hast du sie etwa umgebracht, geschlachtet? Was treibst du bloß mitten in der Nacht da draußen?“

„Weib“, antwortete er, „du weißt es doch, unten in unserem Weinkeller lagern die besten südmährischen Weine, in südmährischer Sonne gereift. Für die neuen Herren veredle ich sie mit meinem kostbaren, lang gereiften Urin.“ Und verschmitzt fügte er hinzu: „Betrogen zu werden, ist schlimm. Schlimmer aber ist, es nicht zu merken. Die edlen Herren werden es nicht merken. Sie werden eher die besondere Blume ihrer neuen Eroberung preisen und sich stolz wie Hähne als Weinkenner präsentieren, Sorte um Sorte abwägend vergleichen.“

„Und sonst tust du nichts mitten in der Nacht? Du bist so lange weg, als würdest du übers Gebirge gehen!“, forschte Mutter besorgt nach.

„Sorgt euch nicht!“, war seine kurze Antwort.

Wir schliefen im Stall, umgeben von den wärmenden Schweinen, unsere vorläufig letzten ruhigen Nächte, das Ganze hinnehmend als Laune der Geschichte.

Ich schlief auf Benjamin als Kopfkissen, dem einzigen Ferkel der Gesellschaft, und träumte in diesen Nächten mit offenen Augen den Traum von der großen Stadt, in der es seltsame Dinge gibt. Dinge, die ich mir nicht erklären konnte. Da gab es richtige Eisenbahnen in den Straßen, prächtige, bis in den Himmel reichende Häuser, ein großes Riesenrad, Geisterbahnen, die das Gruseln lehrten. Aber da gab es noch etwas besonders Geheimnisvolles, das jeden Morgen und Abend aus dem Radio erklang: Musik! Ich war mir sicher. Eines Tages würde ich zur Quelle dieses Stroms vordringen.

„Mutter“, flüsterte ich tief in der Nacht.

„Was ist, Alois? Kannst du nicht schlafen? Ja, es ist sehr warm hier und die Grillen zirpen so laut. Kein Lüftchen weht.“

Sie begann leise das Wiegenlied aus dem Wiener Spital zu summen, mich dabei zärtlich streichelnd. Es war nicht ihre Art, Zärtlichkeit zu zeigen, jetzt aber summte sie: „Schlaf, Alois, schlaf.“ Hatte ich seit Wien darauf gewartet?

„Was ist das für ein schwarzes, geheimnisvolles Ding?“, begann ich leise in das Summen hinein zu fragen.

„Alois, was meinst du? Was stellst du für unsinnige Fragen mitten in der Nacht. Du hast schlecht geträumt. Kannst du nicht schlafen?“

„Nein, Mutter, ich habe nicht geträumt. Ich habe es gesehen. Es war groß und schwarz und eigentlich ein Ungeheuer. Aber als ich es berührte, klang es, gab Töne von sich, wunderbare Töne.“

„Unsinn. Und jetzt versuche, zu schlafen. Du wirst mit deinen Fragen Vater und deinen Bruder noch wecken.“

„Ich kann Vater nicht wecken. Er ist im Weinkeller und veredelt die Weine. Und mein Bruder schläft fest.“

Nach einer Weile, da alles so still war, begann ich wieder:

„Mutter, sag mir, das schwarze große Ding im Salon der Tante in Wien, es klingt so schön. Wie heißt es? Warum klingt es so schön?“

„Du stellst Fragen, wenn die Hühner und Schweine schlafen. Mach deine Augen zu und zähle bis Tausend und eine Nacht. Dann wirst du einschlafen.“

Ich begann zu zählen. Aber in die Zahlen mischten sich Bilder und ich erinnerte mich, sah mich mit verbundenem Kopf und wunden Ohren nach meiner Operation in einem mit schweren Brokatvorhängen abgedunkelten Salon in der großen Stadt Wien. Es war bestimmt früher Nachmittag. Durch die dicken Teppiche und schweren Vorhänge wurde jedes Geräusch gedämpft oder hörte ich etwa bereits alles so leise? Hatte ich durch die Operation wirklich mein Gehör verloren?

Der weite hohe Raum wirkte in dem Dämmerlicht und der fast heiligen Stille auf mich wie eine mit Weihrauch durchzogene Kirche.

„Deine Tante ist schwer krank. Sie braucht absolute Ruhe“, hatte damals Mutter kaum hörbar zu mir gesagt und mich in diesem Raum, auf meine Einsicht bauend, allein gelassen.

Und da stand es, mir gegenüber, mitten im Raum, das schwarze Ungeheuer.

Nur ich und das stumme schwarze Ungeheuer.

Es dauerte lange, bis ich begann, mich auf den leisesten Sohlen behutsam dem Ungeheuer zu nähern. Zuerst befühlte ich mit den Fingerspitzen die verführerisch schimmernde Oberfläche, dann versuchte ich, es mit seinen Armen zu umfangen, als würde ich bereits den Klang der Welt umarmen wollen, glitt dann behutsam abwärts und hob den Deckel an. Das mattschimmernde Elfenbeinweiß der Tasten lockte.

Ich spürte, dass in diesem Augenblick etwas Außergewöhnliches geschah.

Als ich die erste weiße Taste niederdrückte und ein vibrierender Ton in mein Ohr drang, war ich so verwirrt, dass ich mich danach wie für eine heilige Handlung verkleidete und immer wieder diese heilige Handlung vollzog.

In der Garderobe entdeckte ich ein seidenes Cape, innen purpurrot und außen schwarz, das ich mir umhängte. Jetzt fühlte ich mich würdig, einem Priester gleich, Ton für Ton zu zelebrieren. Eine Taste – ein Klang – ein Staunen. Ein Klang ertönte, wie ich ihn noch nie gehört hatte. Und – ich konnte hören!

Fassungslos lief ich in die entfernteste Ecke des Salons, blieb dort betroffen stehen, lauschte dem Nachhall des Tons. Ja – ich konnte hören! Gleichzeitig hielt ich den Atem an, wartete auf das ärgerliche Rufen der schwerkranken Tante. War der Ton etwa zu laut, zu hart, zu störend? Wenn ja, dann musste ich ihn verändern, weicher anschlagen, halten, zur rechten Zeit loslassen. Es war ein Abenteuer, den Klang des Tons zu verändern, farbliche Nuancen zu entdecken, die Pausen zu dehnen. Immer wieder schlug ich ihn in bestimmten Abständen an, lief zur Nische, lauschte in die Stille, lief zurück, aber wagte noch nicht, mich mit den anderen Tasten vertraut zu machen.

Es war wie das Rezitieren eines Gebetes. Behutsam wagte ich mich ins unentdeckte Land der Tastatur und setzte die Töne dynamisch in Beziehung zueinander, so dass es im Verlauf der Zeit zu dramaturgischen Entwicklungen von Höhepunkten, einem Auf und Ab und schließlich einem Anfang und Ende kam.

Niemand hatte den Beginn meiner Entdeckungsreise in die Klangwelt bemerkt.

„Zähle bis Tausend und eine Nacht. Dann wirst du einschlafen“, hatte Mutter gesagt.

Längst hatte ich aufgehört, bis Tausend und eine Nacht zu zählen. Über dieser Erinnerung war ich schließlich eingeschlafen.

Plötzlich wurde ich brutal geweckt.

„Es ist Zeit, aufzuwachen. Raus mit euch Schweinen, in den Hof mit euch!“

Der schmächtige Kommissar mit der Briefträgermütze und den drei Mauerschützen stand in triumphierender Pose vor mir.

„Du da, steh auf!“, herrschte er mich an. „Diesmal wirst du mich nicht mit deinen Tricks und Zaubereien hindern, die Menschen mit deinem Fiedeln verwirren, das hast du nur einmal gemacht. Diesmal entkommt ihr mir nicht. Wo war euer Vater heute Nacht? Antworte!“

Mutter, die aus Sorge um ihren Mann, der aus der Nacht nicht zurückgekehrt war, kein Auge zugetan hatte, stellte sich vor mich.

„Warum fragst du meinen Sohn? Frage mich und lass meinen Sohn Alois aus dem Spiel, Kommissar! Was hast du mit ihm zu schaffen? Ärgert es dich, dass er eine andere Macht hat als du?“

Der Kommissar stierte sie verständnislos an. Es ist gefährlich, etwas nicht zu verstehen, was man verstehen sollte.

„Hat dir wohl deinen großen Auftritt als Kommissar vor der Wand verdorben? Sag mir: Warum hast du sie nicht erschießen lassen. Hat dich eine andere Macht wohl daran gehindert? War es gar Angst?“

„Frau, hüte deine Zunge. Sein Vater und er sind mir etwas schuldig.“

„Was schulden sie dir, eine Nationalhymne? Einen Beitrag zu deiner Rache? Einen Auftritt in deinem miserablen Theaterstück? Höre mir genau zu: Du musst erst einmal dahin riechen, wohin mein Mann geschissen hat. Wer bist du? Du Hosenscheißer! Ein Hosenscheißer, ja, das bist du, so wahr mir Gott helfe“, antwortete Mutter und bekreuzigte sich.

„Frau, dir stopfe ich das Maul, wenn du so weiter redest!“

„Bist du nicht jener, der mit mir Murmeln gespielt hat? Die Schulbank hast du mit mir gedrückt. Rausgeschmissen haben sie dich, nicht, weil du Tscheche bist, nein, weil du vor Dummheit gestunken hast und noch dazu mit Blindheit und Taubheit geschlagen warst. Bist du nicht der Tagelöhner, Tagelöhner in allen Ehren, der dann in Lohn und Brot stand am Hof meines Vaters? Hast wohl keine gute Zeit gehabt bei uns, mit Wein und Brot und Speck und gutem Auskommen? Aber jetzt trägst du ja eine Briefträgermütze auf deinem hohlen Kopf und einen gestohlenen Uniformrock der roten Armee. Bist kein Nichtsnutz mehr, bist ein Jemand mit einer Briefträgermütze und einem gestohlenen Uniformrock, bist immer noch mit Blindheit und Taubheit geschlagen.“

„Jetzt ist es genug, Bäuerin, rede nicht weiter so, sonst …“

„Was sonst? Hast wohl jetzt Macht mit deiner Mütze?“, ließ Mutter sich nicht aufhalten.

„Genau so hat’s Hitler auch gemacht, hat Nichtsnutze wie Deinesgleichen, die mit Blindheit und Taubheit geschlagen sind, eine Briefträgermütze aufgesetzt und einen Uniformrock angezogen, und schon waren sie wer. Du siehst, was daraus geworden ist. Was willst du von uns?“

Der Kommissar heulte in seiner ohnmächtigen Wut auf.

„Packt sie! Bringt sie in den Hof.“

Die Bewacher stießen uns in den Hof.

„Du hast wohl lange darauf gewartet, Herr zu werden, du Handlanger“, ließ sich Mutter nicht beirren. „Du kannst noch lange darauf warten. Besser, du gibst dich zufrieden mit dem, was du bist: ein Hosenscheißer! Also …?“

Wir standen mitten im Hof, unter Hühnern und Gänsen.

„Was wollt ihr von uns?“

„Wo war dein Mann heute Nacht? Wir haben Gewehre gefunden oben im Garten hinter dem Haus. Jetzt rede endlich: Wo war dein Mann heute Nacht?“

„So ist es also: Du suchst einen Grund, uns zu verurteilen, wirfst nachts mit deinen Gesellen Gewehre in den Garten, kommst früh morgens zur Tür herein und findest Gewehre.“

„Du wirst gleich deinen Mund halten und das sehr, sehr lange, Müllerin. Wo war dein Mann heute Nacht? Hat er nicht konspirativ Gewehre in den Garten geworfen für eure Leute?“

„Heuchler! Du weißt genau, daß es nicht so war, sagst mir besser, wo er jetzt ist. Was habt ihr mit ihm gemacht?“

„Wir werden das mit den Gewehren herausfinden. Man hat alle Männer des Dorfes zwischen 18 und 60 Jahren verhaftet. Sie werden alle abtransportiert werden. Dein Mann wusste von der bevorstehenden Aktion und wird der Konspiration beschuldigt. Daraufhin hat er sich im Weinkeller hier versteckt, nachdem er die Gewehre heute Nacht in den Garten geworfen hat.“

„Du weißt, daß es nicht stimmt, spielst dein Spiel, Kommissar. Wo ist er jetzt?“

„Er ist mit allen Männern im Dorfkrug inhaftiert. Auf Konspiration steht die Todesstrafe. Aber, du kannst ihn mit meiner Erlaubnis, weil wir zusammen Murmeln gespielt haben, kurz herausholen, dich verabschieden. Du wirst ihn nie wiedersehen. Rate ihm, zu gestehen. Nein, besser …“ Er winkte seinen Gesellen.

„Holt ihn. Ich will ihn hier haben!“

Sie gehorchten.

„Jetzt hast du deinen Triumph! Endlich hast du jemanden gefunden, dem es schlechter geht als dir. Freue dich! Aber ich flehe dich an, lass mich zu ihm.“

„Du flehst mich an? Sieh da, die stolze Müllerin fleht mich an. Habe ich dich etwa um den Schlaf gebracht?“ Und zum Haus hin: „Maria, ein kräftiges Frühstück mit Eiern und Speck für deine Gäste, sie werden es nötig haben.“

Maria tauchte auf.

„Ein Henkersfrühstück für Vier?“ Sie grinste zufrieden, kam bald darauf mit einem Korb Eiern, etwas gebratenem Speck und ausgerechnet Wein aus dem eigenen Keller zurück. Ironie des Schicksals?

Vom Kirchturm schlug es zehn. Der Korb blieb unberührt mitten im Hof stehen.

„Hier, dein Flehen soll nicht umsonst sein, Müllerin. Mit diesem Schein wirst du ihn herausholen und mir bringen. Ich will ihn hier haben.“ Er holte einen Schein aus einer seiner Taschen und reichte ihn ihr.

Das Wirtshaus lag auf einer kaum merklichen Anhöhe im Angelpunkt von Unter- und Oberdorf. Davor standen bereits wehklagend die Frauen des Dorfes mit ihren Kindern. Die einen weinten leise in sich hinein, andere versuchten mit allen Mitteln ins bewachte Gasthaus zu kommen, da hinein, wo ihre Männer dicht gedrängt, einer hasserfüllten Willkür ausgeliefert, einer ungewissen Zukunft entgegen bangten.

Ich sah voller Angst, wie meine Mutter den Passierschein des Kommissars über die Köpfe der Frauen schwang und sich zum Eingang des Gasthauses vorarbeitete, wie die Frauen in ihrer Not versuchten, ihr den Zettel zu entreißen. Sie erreichte schließlich einen der Bewacher und gab ihm das begehrte Stück Papier.

Nach einer Ewigkeit des Wartens öffnete sich die Tür und das schier Unglaubliche geschah: Vater kam heraus. Ein erstauntes Raunen ging durch die verzweifelt ohnmächtige Menge.

Wie konnte es zugehen, dass ausgerechnet er aus dieser sich anbahnenden Hölle herauskam? Mitgefühl war es nicht. Wurde er noch gebraucht für ein Schauspiel, musste ich noch auf die Bühne, letzter Akt, erster Aufzug für einen ehrgeizigen Regisseur?

Ich war verwirrt. Was hatte ich mit all dem zu tun? Auf dem Weg zurück zur Mühle fiel mir auf, dass die Vögel nicht mehr sangen. Die Pferdefuhrwerke mit ihren pfeifenrauchenden Kutschern waren verschwunden und kein Nachbar zog noch den Hut vor dem anderen. Nur die Gardinen bewegten sich hinter geschlossenen Fenstern.

Marias Korb stand immer noch mitten im Hof, unangetastet. Das zweite Verhör begann. Wir wurden an die Wand gestellt, die den Innenhof umgrenzte.

„Wo warst du heute Nacht, Müller?“, begann der Kommissar.

„Im Weinkeller habe ich den Wein veredelt.“

„Du lügst, bist auch noch unverschämt, wolltest die Männer des Dorfes mit Waffen versorgen!“ Er wandte sich zu den drei Jägern.

„Und Ihr, macht euch bereit. Bei jeder Lüge eine Salve. Wir werden schon sehen, wie lange das Leugnen anhält. Schießt!“

Und sie schossen, machten sich Spaß daraus, die Konturen von uns Vier sauber in die Wand zu löchern.

„Du warst also im Weinkeller, um die Weine zu veredeln. Im Keller haben wir dich erwischt, nachdem du die Gewehre in den Garten geworfen hast. Woher stammen die Gewehre? Wozu wolltet du sie benutzen?“

„Ich habe keine Gewehre in meinen Garten geworfen. Wer sie da hingebracht hat bist du!“

„Schießt!“

Und sie schossen wie Zirkusartisten fein säuberlich an uns Angeprangerten vorbei.

So ging es zermürbende Stunden, bis Mutter auf die Knie fiel und flehte: „Ist das eine Exekution? Dann schießt doch endlich, macht dieser Qual ein Ende!“

In diesem Augenblick kam Maria aus dem Haus, begleitet von einem Mann in Uniform.

„Halt! Schluss damit!“, sagte dieser und zog ein Stück Papier aus einer seiner Taschen. „Ich habe euch etwas mitzuteilen, was zur Klärung der Situation beiträgt.“ Seine Miene wurde amtlich. Er stellte sich mit Maria breitbeinig vor uns Vier und las:

„Dekret des Verwaltungskommissariats Groß-Olkowitz vom 09.07. 1945.

Weil Sie Deutsche sind, bestellt das Verwaltungskommissariat mit sofortiger Wirkung die Nationalverwaltung für Ihr Unternehmen – auf Grund des Dekrets des Präsidenten der Republik vom 19. Mai 1945 – und setzt als Nationalverwalterin ein: Frau Maria Jaroslava Hracka aus Tavicovic.

Es wird Ihnen aufgetragen, einschließlich aller Forderungen und Bargeld Ihr gesamtes Vermögen mit allen Rechten und Vorräten sofort der oben angeführten Nationalverwalterin zu übergeben.

Jede Disposition ist Ihnen verboten und wird strengstens bestraft. Gegen dieses Dekret können Sie innerhalb von 15 Tagen beim Verwaltungskommissariat Berufung einlegen an den Nationalausschuß.

Der Verwaltungskommissar.“

Er befeuchtete seine Lippen, holte ein anderes Papier hervor und wandte sich zu Maria. „Das ist für dich, Maria, damit wirst du verantwortlich für die Mühle“, und las:

„Zur Kenntnisnahme:

An den Landesnationalausschuß in Brünn

Grundbuchs- und Handelsgericht

Steuerverwaltung in Znaim.

Dekret!“

Hier machte er eine wirkungsvolle Pause, schaute Maria lange an, als wollte er ihr eindringlich klar machen, dass er seinen Anteil am neuen Glück beanspruche.

„Dekret …“ wiederholte er.

„An Frau Maria Jaroslava Hracka in Groß-Olkowitz.

Zur Kenntnisnahme mit dem Auftrag, die Nationalverwaltung sogleich zu übernehmen und mit der Verantwortlichkeit einer guten Wirtschafterin durchzuführen. Hinsichtlich der Abrechnung wie auch des Entgeltes für die Durchführung der Nationalverwaltung erhalten Sie später Anweisungen. Die Kontrolle der Nationalverwaltung führt die Steuerverwaltung Znaim durch.

Beschluss und Räumungsbefehl: Morgen früh 10 Uhr müssen das Haus, die Mühle und das Dorf von allen Dorfbewohnern verlassen worden sein.

Der Verwaltungskommissar.“

Mutter kniete immer noch. Als sie diese Worte hörte, neigte sie ihren Kopf, beugte sich tief auf den Boden und küsste die Erde ihrer Vorfahren. „Diese Vertreibung ist ein Unrecht, eine ethnische Säuberung, gegen die Menschenwürde. Ein Jahrhundertverbrechen!“, sagte sie. „Die Beneš-Dekrete sind eine Willkür.“

Dann stand sie auf, nahm mich und meinen Bruder bei der Hand und sagte zu meinem Vater: „Geh in die Mühle, hole ein kleines Säckchen und eine Schaufel.“ Als Vater zurückkam, schaufelte sie Erde in den kleinen Sack.

„Es ist nur für eine kleine Weile, bis wir die Erde wiedersehen“, flüsterte sie. „Ich verlöre meine Seele, verlöre ich dich.“

Sie sollte diese Erde nie mehr wiedersehen.

Am nächsten Morgen reihte sich unter Bewachung Leiterwagen an Leiterwagen die Mühle entlang hinaus aus dem Dorf, beladen mit dem Notwendigsten zum Überleben, vertrieben von Haus und Hof, Richtung Westen.

Ich sah die Mühle zurückweichen, erkannte noch schwach die Silhouette Marias in der Tür, sprang vom Leiterwagen, rannte zurück und blieb fassungslos, atemlos vor ihr stehen.

„Wo hast du meine Geige? Du hast mir meine Geige genommen!“

„Was willst du noch, kleiner Alois? Kannst dich wohl nicht trennen von mir?“, grinste die Frau.

„Wo hast du meine Geige? Du hast mir meine Geige genommen!“

„Deine Geige? Ich habe deine Geige nicht. Deine Geige hast du selber mitgenommen! Und wenn ich sie hätte, würde ich sie teuer an einen Zigeuner verkaufen.“

„Du lügst. Sie haben mir die Geige entrissen, du weißt es!“

„Willst du mir wieder gegen das Schienbein treten, du kleines Biest? Geh und schau nach. Vielleicht findest du deine Geige, vielleicht liegt sie in der Küche? Aber beeile dich, sonst verlierst du noch deine Familie!“

Der Film der Erinnerung, der sich vor meinen Augen abgespielt hatte, riß. „Bist du der kleine Alois?“

Ich schaute in den gekachelten, langen Flur. Nichts und alles hatte sich verändert: Der geschlossene Innenhof, vorne das Wohnhaus, auf der Rückseite die Ställe, mitten im Hof der Brunnen und hinten in die Ecke gedrückt, das Plumpsklo, und der Weg zur Küche und direkt in die Mühle …

Jetzt, nach 55 Jahren, schaute ich mich wieder in der Küche um. Alles war leer und öde, Maria alt und grau. Ich hörte sie jammern.

„Alois, was hast du für eine Rente?“

Von dieser Frage überrascht, hielt ich nicht mehr an mich.

„Du warst es damals, Maria“, erwiderte ich. „Wie konntest du mich sonst nach so langer Zeit wiedererkennen. War nicht dein erster Satz: ‚Bist du der kleine Alois?‘ Du warst es also mit deinen Schergen, die uns in den Schweinestall gesperrt hat.“

„Aber schau uns doch nur an, wir sind jetzt alt und gebrechlich. Damals waren wir jung und töricht. Schau dich um! Willst du den Weinkeller sehen? Es gibt keinen Wein mehr. Sieh dich nur um! Der Hof ist verfallen, der Garten verwildert. Aber …“, dabei zeigte sie auf die Kredenz und öffnete die Tür zum elterlichen Schlafzimmer, „alles ist noch da von euch. Wir haben es aufbewahrt. Das Schlafzimmer deiner Eltern mit den alten Eichenmöbeln, nur die Mühle ist nicht mehr.“

Als ich diese alte Maria so vor mir sah, kam Mitgefühl in mir auf und eine seltsame Dankbarkeit dafür, dass ich zurückgekehrt war in die Küche meiner Kindheit, dahin, wo die Geige meines Vaters an der Wand hing mit bunten Bändern geschmückt.

Ich stand auf, wusste nicht, was ich tat, ging auf Maria zu und umarmte sie. Hinten, im Eingang zur Mühle, stand der Alte, kramte ein Taschentuch hervor und schnäuzte sich. Ein letzter Blick, dann verließ ich mit Rafael das Haus. Rafael hatte alles gesehen und schwieg, wie es seine Art war.

Wir gingen über den alten Friedhof, zwischen den zum Teil bereits verfallenen Gräbern hin und her. Wir blieben vor einigen Eisenkreuzen stehen, versuchten, die verwitterten Inschriften zu entziffern. Rafael entdeckte das Eisenkreuz eines Vorfahren aus der Mitte des 19. Jahrhunderts, ebenfalls mit dem Namen Alois. Auf dem Friedhofshügel neben der Kirche, in der ich getauft worden war und die Orgel gehört hatte, setzten wir uns, schauten über den Binderplatz zur Schule hinüber, zu den verfallenen Kellern, hin zur Martersäule im Feld. An der Säule glaubte ich, eine Gestalt sitzen zu sehen. War es Micha, der Zigeuner? Gebannt schaute ich hin.

Nun erzählte ich Rafael alles, was ich eben in der Küche nur vor meinem geistigen Auge sah.

„Wie alt warst du damals?“, holte mich Rafael zurück.

„Neun Jahre und drei Geigenstunden bei der Nonne“, antwortete ich, immer noch ein wenig abwesend.

„Wie geht deine Geschichte weiter?“, fragte Rafael.

Ich schwieg daraufhin lange.

„Ich will mich nicht in meiner Vergangenheit verankern, damit ich meine vitale Kraft zum Handeln nicht verliere, Rafael.“

Bedacht fuhr ich aber fort, zu erzählen.

„Es dauerte drei lange Jahre, Rafael, bis endlich der Vieh-Waggon eines kalten trüben Morgens in Sterbfritz stehen blieb und meine Mutter sagte: ‚Das ist der Anfang vom Ende.‘ Dein Großvater hätte sich das nie träumen lassen.“

„Drei Jahre wart ihr unterwegs?“

„Ja, drei Jahre der Vertreibung von Ort zu Ort, Demütigung, Hunger, Ausgrenzung, Elend, Betteln um ein Stück Brot. Zertrümmerte Erinnerung, zertrümmerte Zukunft. Ich erinnere mich, wie ich mit meiner Mutter und einer Geige, die ich eines Weihnachten meinem Bruder unter Tränen weggenommen hatte, über die Dörfer ging, von Bauernhof zu Bauernhof und bettelte: Eine Melodie für drei Eier oder ein Stück Brot, wie mein Vater drei Stunden über Land ging für ein Stück Fleisch, das dann ausgerechnet zum Heiligen Abend das Festmahl hungriger Katzen wurde.

Die Geschichte dieser drei Jahre des Überlebens wiederzugeben, dafür würden die Abende, um 5000 Gänse zu rupfen und dabei Geschichten zu erzählen, nicht ausreichen. Man muss es erlebt haben, um es zu verstehen.

In Sterbfritz blieben wir nur wenige Tage. Der Drang nach den besten Entfaltungsmöglichkeiten für die Zukunft seiner Söhne ließ meinen Vater nicht ruhen. Wir zogen von einer Stadt in die nächst größere, bis ein angemessener Ausbildungsplatz gefunden war, denn seine Söhne sollten es besser haben als es ihm vergönnt war. Ein katholisches Internat der Marianisten für meinen Bruder Hubert, gleichzeitig dort eine Hausmeisterstelle für ihn selbst, und für mich … aber da beginnt wieder meine Geschichte.“

„Du weißt doch: Die geheimnisvollsten Geschichten fangen alle mit einem einfachen Satz an: Es war einmal …!“

Ich atmete tief den Duft des jungen Grases ein, entspannte mich in der milden Frühlingssonne und ließ mich von ihren umschmeichelnden Strahlen in den Garten meines Labyrinths entführen.

„Also gut. Inzwischen waren ungefähr fünf Jahre vergangen.“

… und Olkowitz liegt doch am Meer. Schönheit ist des Teufels

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