Читать книгу … und Olkowitz liegt doch am Meer. Schönheit ist des Teufels - Alois Springer - Страница 7

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Behutsam, als würden wir absinken in lang Vergessenes, näherten wir uns dem Dorf unten auf dem Grund. Der Motor schnurrte nur noch wie eine zufriedene Katze, aber die Sandkörner auf dem Weg schienen einzeln zu explodieren. Allmählich, im Diminuendo wichen die Akazien mit ihren weißen Blütenkerzen links und rechts respektvoll zurück, als hätten sie sich auf diesen Empfang lange vorbereitet. Vorsichtig wie Archäologen, die gerade im Begriff sind, einen Jahrtausende alten, unberührten Schatz zu heben, glitten wir den Sandweg hinab auf den Grund. Erste Häuser tauchten auf, grau, leblos, tot.

Die lange Brunnsuttenstraße hinunter zum Glockenturm an der Kreuzung lag wie eine Schlange vor uns, eingerahmt von Häusern nach Art der Straßendörfer, dicht aneinandergedrängt nebeneinander, ihre Fronten der einzigen Straße zugewandt, mit dahinterliegenden Wirtschaftsgebäuden, Scheuern, Gärten und Feldern.

Sollte ich mich an diese trostlose Straße erinnern, auf der damals Panzer siegessicher nach Osten zogen und einige Zeit später ganz andere Panzer siegreich heranrollten? Wie viele Völkerschaften mochten bereits diesen Weg gegangen sein, hin und zurück? Um 1250 herum, das hatte ich gelernt, sollen sie von Westen hergekommen sein, um in dieser Gegend sesshaft zu werden, denn es ist belegt, dass dieser Ort schon im Jahre 1192 eine Pfarre war. Die frühe Besiedlung ging der späteren Katastrophe von Unrecht und Vertreibung voraus.

Immer wieder rücksichtslose Wechsel nationaler Machtansprüche, plündernde, brandstiftende Hunnen, Kelten, römische Legionen, Slawen, kaiserliche Truppen und ungarisches Kriegsvolk prägten diesen Landstrich, zerstörten und befruchteten es gleichzeitig.

Mit diesen Gedanken beschäftigt erreichten wir den Glockenturm, bogen scharf links in die Moßkowitzer Straße ein, gelangten zum Markplatz, dem Binderplatz, und ließen die Räder ausrollen. Der Wagen blieb mitten auf dem größten Platz der Welt einfach stehen. Aus. Stille.

„Bis zur nächsten Stadt werdet ihr wohl kommen“, hatte der Unheimliche von der Tankstelle gesagt. Wir aber waren am Ziel angekommen.

Es war später Vormittag und strahlender Sonnenschein. Nichts bewegte sich um uns herum, das Dorf schien verlassen worden zu sein, wirkte wie ausgestorben. Aber wir hatten das beklemmende Gefühl, beobachtet zu werden, misstrauisch, ängstlich, hinter zugezogenen Gardinen und mit gespitzten Ohren.

Mein „größter Platz der Welt“, in der Form eines unregelmäßigen Vierecks, als Marktplatz das lebhafteste Zentrum meiner Kindheit, Ursprung all meiner grundlegenden, prägenden Kindheitserlebnisse, war geschrumpft auf 15 mal 15 m und lag ohne Leben vor uns.

Erinnerungen an langhalsige Gänse und zweispännige Leiterwagen mit starken Rössern, an das Hüh und Hott von pfeifenrauchenden Bauern auf dem Kutschbock, ihr Peitschen in der Luft, an Kühe und Ochsenfuhrwerke mit ihrer Last, an das Aroma der Maulbeerbäume und an hochfliegende Schwalben wurden in mir lebendig.

Nichts davon regte sich jetzt.

Nur aus dem Schulgebäude kam, als wäre ich es selbst, ein etwa siebenjähriger Knabe, schaute kurz zum Lindenbaum hinauf – was suchte er da wohl? – lief dann verträumt, verspielt über die Straße zum Feuerwehrdepot hinüber, dann zur Milchgenossenschaft daneben, hinauf zum Kirchberg, dem abenteuerlichsten Hügel der Welt von mindestens zehn Meter Höhe, auf dem sich die altgotische Kirche von anno 1220, das massive, schlossähnliche Pfarrhaus von 1776 und der schon annähernd 700 Jahre alte, ummauerte Friedhof mit romanischem Beinhaus befanden. Hier, auf dem höchsten Berg der ganzen Gegend, setzten wir uns nieder und schauten auf den uns gegenüberliegenden Akazienhügel mit der darunterliegenden Mühle, dem letzten Gebäude vor den beginnenden Weinkellern, auf das Haus Nr. 94.

Ich hatte den Weg des Knaben mit heftigster Anteilnahme verfolgt, und auch meine Blicke blieben an der Mühle haften. Mir war, als sei ich es selbst, der gerade aus der Schule käme, hätte sehnsüchtig zum Lindenbaum hinaufgeschaut nach meiner ersten Uhr, die Frau Lehrerin vor Zorn aus dem Fenster geworfen hatte mit den Worten: „Du träumst schon wieder, Alois. Damit ist jetzt Schluss!“ Die Uhr, mein kostbarster Besitz, war für ewig im Duft des Lindenbaum hängen geblieben. Eine solche Uhr hatte ich nie wieder bekommen!

„Lass uns zur Mühle hinübergehen“, unterbrach ich das Schweigen.

Der Weg über den Platz war im Zeitraffer von 55 Jahren die Überquerung bis zu jener Tür, durch die ich zuletzt als Neunjähriger gegangen war, ehe wir vertrieben wurden.

Hatte ich mir diesen geschichtsträchtigen, von vielen Völkern und Kulturen befruchteten Ort zwischen Ost und West ausgesucht, um hier geboren zu werden, um mich zu dem, was ich geworden war, entfalten zu können? War der sich verströmende Geruch dieser Erde in mein Musizieren eingeflossen und so die Faszination der Menschen zu erklären? Zu lange hatte ich gebraucht, um zum Grund des Meeres, von dem ich aufgetaucht war, zurückzufinden! In diesem Haus war ich geboren, hier erlebte ich meine Kindheit zwischen Mehlsäcken, dem Geräusch der mahlenden Mühlsteine, Akazienblüten und meinen drei Ziegen, die ich auf dem Kirchberg täglich hütete, zusammen mit einem Freund, den ich nie mehr wieder sah und dennoch nicht vergessen konnte.

Wir waren vor dem Haus stehengeblieben. Ich zögerte, an diese Tür zu klopfen. Sollte ich es überhaupt tun? Wer war hinter dieser Tür? Die Gardinen hatten sich schon länger bewegt.

Ich klopfte an. Das ganze Dorf schien es zu hören. Welche Ungeheuerlichkeit war da im Gange? Es tat sich nichts. Dann hörte ich schlürfende Schritte. Die Tür öffnete sich. Eine missmutige Alte mit ängstlichem Ausdruck und geduckter Haltung stand vor uns.

„Einen schönen guten Tag, ich komme aus …“, sagte ich. Weiter kam ich nicht. Die Alte schaute mich ungläubig an. Das auch für sie Unfassbare und doch zu lang Erwartete, Befürchtete, Unvermeidliche war nach 55 Jahren eingetreten. Als käme sie aus einem langen quälenden Alptraum, zeigte sie fassungslos mit ihrer Rechten auf den Boden, hielt inne, schaute mich an und deutete zweifelnd die Größe eines etwa neunjährigen Knaben an. Dann fragte sie zögernd: „Bist du der kleine Alois?“

Ich aber schaute über sie hinweg in den gekachelten, langen Flur und sah mich auf dem Flurboden spielen, draußen im geräumigen Hof herumtollen, hinübergehen zum Schweinestall mit meinen drei Schweinen und erinnerte mich an den beißenden Geruch. Nichts hatte sich verändert: der geschlossene Innenhof, vorne das Wohnhaus, auf der Rückseite die Ställe, mitten im Hof der Brunnen und hinten in die Ecke gedrückt, das Plumpsklo, und der Weg zur Küche und direkt in die Mühle.

Hier, in diese Küche trat ich nun ein. Die Alte machte mir fast untertänig, heuchlerisch Platz.

„Alles ist geblieben, wie es früher war …“, beeilte sich Maria, die Alte, ohne Aufforderung zu erklären. „Alles! Sogar dieselben Möbel stehen noch am gleichen Platz – wie damals! Hier, siehst du, die Kredenz, den Ofen mit den Ringen!“

Wie in Trance streiften meine Blicke durch den Raum. Meine Kindheit kam langsam auf mich zu, wurde gegenwärtig. Die dramatischen Ereignisse kurz vor der Vertreibung.

„Wir mussten alles bezahlen, alles hier“, redete die Alte auf mich ein. „An den Staat, an diesen Staat!“ Sie meinte damit wohl, dass sie die Mühle, den Garten, die Felder nicht geraubt hätten, sondern erworben durch harte Arbeit und eigenes Geld.

Ein weißhaariger Alter, Marias Mann, kam vom Hof her in den Flur. Wir sahen uns an, abtastend. Dieses hasserfüllte Gesicht, jetzt faltig und zermürbt, hatte ich schon einmal über mir gesehen, ja, die Mordlust und der stumme Schrei in diesen Augen – „Kreuzigt sie!“

Je länger ich die beiden Ergrauten ansah, desto deutlicher trat die Erinnerung hervor. Waren es nicht dieselben Menschen, inzwischen voller Angst gealtert, von denen meine Familie aus der Mühle in den hintersten Schweinestall zu den Schweinen gesperrt wurde, in den Kot der Schweine, während sie vorne als Herren lachend einzogen?

„Wir sind bettelarm, Alois, schau dich um! So ist es uns ergangen. Inzwischen sind wir alt und schwach“, jammerte der Weißhaarige.

„Unsere Rente reicht nicht einmal für das Grab.“ Und er fügte hinzu: „Wir mussten dem Staat alles bezahlen. Und ihr – ihr seid reich!“

Maria, die Alte, seine Frau, nickte. Sie stand an demselben Herd wie meine Mutter damals, schob ein Holzscheit in die Glut und rückte die Ringe auf der Herdplatte zurecht. Betroffen bemerkte ich, wie sich ihr Bild in mir veränderte und das besorgte Gesicht meiner Mutter auftauchte. Sie bot mir den Platz an, auf dem ich mit meinem größeren Bruder Hubert um die besten Happen auf dem Tisch gekämpft hatte – wie so oft in den glücklichen ahnungslosen Tagen meiner Kindheit zwischen dem Beginn des Zweiten Weltkriegs 1939 und dem daraus folgenden lang anhaltenden Trauma der Vertreibung aus Olkowitz und Südmähren am 18. August 1945.

„Setz dich, Alois. Und wie du wieder ausschaust. Warst wieder auf den Feldern mit deinem Freund Ludwig. Und immer barfuß. Weißt du überhaupt, wie Schuhe aussehen? Vater wird bald aus der Mühle kommen. Vorher gehst du dich aber waschen.“

„Mutter, ich habe keinen Hunger.“

„Weil du immer Germ isst und Akazienblüten mit all dem Ungeziefer drin!“

Ja, ich schaute mich um und erinnerte mich an den Duft der Mehlsäcke, spürte die Wärme des frisch gemahlenen Mehls, hörte das Geräusch der mahlenden Mühlsteine und jenes aus den Schwalbennestern in den Dachrinnen, lauschte dem Gurren der Tauben im Hof, schmeckte auf der Zunge die süßen weißen Blüten der Akazienbäume, die ich beim Ziegenhüten vom Stengel saugte und als Köstlichkeit genossen hatte. Ich erinnerte mich der Marillenbäume, an Ribisel und Erdäpfel im Garten, an die Kopftücher der Frauen und das sonntägliche Vor-dem-Haus-Sitzen und das Nachbarn-Grüßen, denn man zog den Hut vor allem, was sich vorbei bewegte. Ja, ich schaute aufmerksam um mich.

Hier, in der Küche, der Keimzelle meiner Träumereien, Phantasien und Sehnsüchte, saß ich, als wäre keine Zeit vergangen, am Tisch meiner Kindheit, sah, wie mein Vater aus der Mühle kam, die mit bunten Bändern geschmückte geheimnisvolle Geige von der Wand nahm und mit klobigen Fingern und verklärten Augen anfing, darauf zu spielen: Josef Lanner, Johann Strauß, den Schlittschuhläufer. Damals ergriff mich dasselbe Staunen, das ich zum ersten Mal spürte, als ich vierjährig an der Hand meiner Mutter hinüber zum Kirchberg ging und die betäubenden, alles bewegenden Klänge in der Kirche hörte. Verwirrt und hingerissen von dem überwältigenden Klang hatte ich mich nach diesem Brausen umgedreht. Es war mein erster Rausch! Meine Seele hatte begonnen, zu schwingen. Prompt hatte ich die Quittung dafür bekommen: eine Ohrfeige vom Herrn Pfarrer, dem Dechanten des Dorfes.

„Schönheit ist des Teufels, mein Junge!“, hatte der Pfarrer mit gerunzelter Stirn und erhobenem Zeigefinger gesagt. „Da vorne spielt sich die Hauptsache ab, nicht da oben. Schreibe dir das hinter die Ohren, Amen!“

War das der Anstoß alles Kommenden, der Katastrophe, die mich ereilen sollte?

„Da vorne spielt sich die Hauptsache ab, nicht da oben!“


Die geheimnisvolle Geige

„Schönheit ist des Teufels. Siehe den für uns Gekreuzigten da vorne. Schreibe dir das hinter die Ohren – Amen – Amen – Amen!“

Der männliche tiefe Klang der Bass-Stimme des Dechanten hatte Ähnlichkeit mit dem mächtigen Brausen der Orgel. Das von allen Seiten darauf antwortende, weich reagierende Echo dieser Worte füllte in versöhnender Wiederholung den Kirchenraum, türmte und wölbte sich für mich wie eine anschmiegsame Welle über das Kirchengestühl an Bildern und Statuen entlang hinauf zur Orgel, senkte sich wieder herab hin zum Altar, da, wo es in Stille im Tabernakel zu verschwinden angekommen schien, da, wo die eigentliche Musik spielt.

Nicht nur meine Seele, mein ganzer Körper hatte zu schwingen begonnen und, als ich längst schon mit meiner Mutter über den Kirchhof gegangen war, schwang es in mir weiter.

Es war jener Urklang, der mich nicht mehr los ließ.

Von diesem Augenblick an machte ich mich auf den Weg nach dem Ursprung des Klangs und der Schönheit, ins Labyrinth der Sehnsucht und des Unfassbaren.

Die Musik hatte begonnen, mich zu machen, bevor ich Musik machte.

Jahrzehnte sollten vergehen, bis ein leibhaftiger Engel und Bote der Schönheit mir die einfache Frage stellte: „Glaubst du?“, und ich darauf die falsche Antwort gab.

Einige Zeit später wurde die alte Orgel mit Manual, Pedal und zehn Registern aus dem Jahre 1780 von einem Blitz getroffen und völlig zerstört. Zur Anschaffung einer neuen Orgel war es nicht mehr gekommen. Hatte sie zu schön geklungen?

Nach diesem einschneidenden Erlebnis der rauschenden Orgel und der strafenden Worte des Dechanten hatte sich mein Alltag verändert. Der sorgenvolle Dialog zwischen Vater und Mutter wird sich daraufhin öfter sicher so angehört haben:

„Es wird schon dunkel und Alois ist noch nicht da. Wo steckt er bloß?“

„Frau, du weißt, wo er sich herumtreibt. In den Akazien bei den Ziegen oder bei den Musikanten. Die Zigeuner mit ihren verführerischen Klängen haben es ihm angetan. Er hat nur Augen und Ohren für sie.“

„So, so. Aber die Zigeuner sind schon weg, sind weitergezogen heute Abend!“

„Dann wird er wohl mitgezogen sein.“

„Wenn das nur gut geht!“

„Frau, was sagst du da? Unsere Gänse waren schon einmal drei Tage und drei Nächte unterwegs. Sie kamen aber alle zurück. Sie wussten, wo sie zu Hause sind!“

„Wenn du meinst, Mann! Aber was soll nur aus ihm werden? Wir werden ihn suchen gehen!“

Drei Tage später fanden sie mich im Böhmischen, schon außerhalb Mährens, wie Jesus im Tempel, allerdings umgeben von böhmischen Musikanten, mit der Geige in der Hand, nicht der Bibel.

„Kind, hast du nicht gehört, was der Herr Pfarrer gesagt hat: Das ist des Teufels!“, sagte Mutter.

„Warum spielen nur Zigeuner Geige, Mutter?“, war meine erste Frage.

„Aber Kind! Weil sie damit immer herumziehen und davon leben können.“

Vorläufig zufrieden mit der Antwort, nahmen sie mich mit nach Hause, gaben mir statt einer Ohrfeige eine Geige, ein Fahrrad und eine Nonne im benachbarten Kloster als Lehrerin. War es hierfür nicht schon zu spät?

Die schweren englischen oder russischen Bomber luden bereits wahllos ihre tödliche Last ab auf Bewegliches und Unbewegliches, machten keinen Unterschied zwischen einem hoffnungsvoll dahin radelnden jungen Talent auf einem Feldweg und einem feindlichen Panzer.


Alois und sein Fahrrad

Ungeachtet dessen nahm ich mein großes Fahrrad, schob, da ich noch zu klein war, um das Pedal zu erreichen, virtuos mein rechtes Bein samt Unterkörper unter die Fahrradstange, griff mit dem linken Arm an die Lenkstange und klemmte die nackte Geige unter meinen rechten Arm. So fuhr ich in halsbrecherischer Schräglage so oft ich konnte übers Land zu meiner Nonne ins Kloster.

Aber eines Tages, als der Binderplatz belagert war von betrogenen, geschlagenen, flüchtenden Soldaten, die nichts Besseres mehr wussten, als alles stehen und liegen zu lassen, Panzer, Granaten, Uniformen, Medaillen, sagte Mutter zu mir: „So kannst du nicht fahren, Alois, nicht mit der roten Hose, schon gar nicht mit diesem bunt-gefleckten Hemd! Hier, nimm das!“

Sie hielt mir einen grüngrauen, sackähnlichen Kittel hin.

„Hier, so werden sie dich nicht sehen, die Flieger, wenn sie kommen! Und es ist bequem!“

Nachdenklich fügte sie hinzu. „Du musst wohl fahren?“

Sie hatte nicht an die Geige gedacht, die nicht einmal ein Kasten schützte.

Und sie kamen, die Tiefflieger. Über meinen Kopf hinweg, als hätten sie es nur auf mich abgesehen, diese Riesen-Raubvögel, und feuerten wie besessen aus ihren Bordwaffen, als müssten sie ihre Seligkeit verteidigen.

Es konnte wohl nur ihr Neid auf die Schönheit und den Glanz der Geige sein, der sie in ihren kalten Maschinen so wild machte, sie so unbeherrscht und machtbesessen auf das kleine geheimnisvoll funkelnde Ding im Sonnenlicht da unten feuern ließ. Kein Wunder!

Das Sonnenlicht badete sich im Lack der Geige und gab verschwenderisch die geheimnisvollsten Farben frei.

„Was, wenn die Geige noch klingen würde?“, dachte ich, als ich ein lautes Krachen hörte, Granatsplitter um mich herum einschlugen, eine gelbe Flamme irgendwo aufloderte, Bomben detonierten und es anfing, verbrannt zu riechen. Diesen Geruch konnte ich erst später als Menschenfleisch identifizieren. Um mich herum ragten die in Panik verlassenen Panzer verloren wie Reptilien der Urzeit oder wie Felsbrocken einer Vulkaneruption aus den sonst so fruchtbaren Feldern.

Ich sprang vom Fahrrad, hechtete in den mit Büschen umgebenen Straßengraben, warf im Fallen die Geige in weitem Bogen ins weiche, hohe Gras des Straßengrabens und presste mich in den Boden. Im Heulen der Tiefflieger und dumpfen Plopp der Einschläge um mich herum hörte ich plötzlich einen seltsam stillen Knall, der alles Laute übertönte. Aus den schwächer werdenden Schwingungen, die ich am ganzen Körper verspürte, wusste ich: es war die Geige. Die Geige war getroffen! Die Bordschützen hatten sie wirklich getroffen und auf ihre Art zum Klingen gebracht. Regungslos hatte ich mich in den schwarzen Ackerboden gekrallt und meine Tränen in die Erde sickern lassen. Ich dachte an die Ohrfeige des Pfarrers und seine Worte: „Schönheit ist des Teufels.“ Verstand ich sie jetzt?

Nach einer Zeit der unheimlichen Ruhe über Tage hinweg rasselten bald darauf die Panzerketten der Sieger die Brunsuttenstraße hinunter zum Glockenturm, bogen links ab zum Binderplatz, dem größten Platz der Welt, und blieben vor der Schule gegenüber der Mühle stehen.

Die Reste der geschlagenen Armee hatten längst schon diesen Ort geräumt, ihre Gerätschaften, Panzer, Geschütze, Granaten, Funkanlagen und verendeten Pferde einfach liegen lassen. Kadavergeruch breitete sich aus.

Für nichts und wieder nichts wurde der letzte zurückgebliebene junge Soldat, der keine Kraft mehr gehabt hatte, sich wie die drei anderen Nachzügler und Versprengten in die rettenden nahen Weinkeller zu flüchten, erschossen. Er war ihnen einfach im Wege.

„Ist dem Todesschützen denn nicht klar gewesen, dass nur die Gefangenen gezählt werden?“, entsetzte sich Vater. „Oder musste einer sein Soll erfüllen, weil er einen anderen hatte laufen lassen?“

Der Zufall, nicht Schuld oder Verdienst, bestimmte in jenen Tagen das Schicksal des Einzelnen.

Dem jungen Soldaten, zu müde, um zu glauben, dass sie ihn erschießen würden, hatte ich noch drei frische Eier mit auf den Weg gegeben.

„Hier, mach schnell, sie sind schon da, die Panzer haben dich schon entdeckt, die Panzer. Schnell, in die Weinkeller. Vor den dunklen tiefen Kellern haben sie Angst.“ Aber der Soldat war wohl zu geschwächt gewesen. Die Eier waren dem Toten später aus der rechten Hosentasche gekullert neben die eingebrochene Friedhofsmauer.

Der Führungsstab nahm Quartier in der Mühle dem Kirchplatz gegenüber, da, wo früher die böhmischen Musikanten zum Tanz aufgespielt hatten, und feierte den Sieg mit viel Wodka, Kasatchok und Gesang.

Jetzt machten sich die zehn Jahre russischer Gefangenschaft des Vaters in Sibirien bezahlt. In perfektem Russisch erzählte er den Offizieren und Soldaten, wie er die große Oktoberrevolution und die Kämpfe zwischen den Roten und Weißen als Gefangener erlebt hatte, erzählte ihnen vom Baikal-See und den bitterkalten Nächten in Nowosibirsk, dass sie ihn Iwan nannten, wie er sich allmählich assimilierte und mit der Zeit Russe wurde. Und als Gefangener weit hinten in Sibirien hätte er die Freiheit kennengelernt, die er daheim nie hatte. Da war er einer unter Gleichen, eins mit den Unbilden und den Schönheiten der Natur und wollte nicht mehr zurück!

Das alles erzählte er ihnen. Daraufhin nannten sie ihn auch Iwan.

„Iwan, hol deine Geige von der Wand. Spiel uns auf mit unseren Balalaikas. Erzähl von Sibirien, Väterchen. Du bist doch einer von uns. Du sprichst unsere Sprache und kannst mit uns fluchen. Du liebst Russland, wie wir dich lieben, deine Familie, deine Kinder.“

Dabei warfen sie mich bis zur Decke hoch wie einen Ball, von einem zum anderen, sangen betrunken ihre Lieder vom Don, vom Baikal, von der Wolga und der Liebe.

Ich erinnerte mich an meine unerklärliche Angst, wenn sie mich liebevoll auf ihre Knie nahmen, mich mit erbeuteten Sahnebonbons fütterten und dazu russische Kinderlieder sangen. Einer ihrer Ältesten intonierte mit stolzer Geste: „Ich weiß nicht, was soll das bedeuten, es geht mir nicht aus dem Sinn …!“ Als wären sie alle meine Väter, versuchten sie, mit mir und meinem Bruder „Hoppe-Hoppe-Reiter“ und allerlei andere Spiele zu spielen, sich dabei noch zu übertreffen. In ihrer selbstverständlichen Herzlichkeit nahmen sie meine und die Angst der anderen nicht wahr. Aber meine Angst blieb und hielt lange an. Um sich vor ihr zu schützen, steckte ich, so oft ich konnte, meinen Kopf zwischen die wärmenden Mühlsäcke und summte in sie hinein: „Schlaf, Alois, schlaf, dein Vater hüt‘ die Schaf.“

Nicht nur ich hatte Angst. Die Frauen im Dorf verkrochen sich tief in die Heuschober der Felder, versteckten sich auf Heuböden, verkleideten sich als Geisteskranke, als Verrückte, denn nur das fürchteten die Soldaten.

Die Soldateska begann zu wüten. Das Nebeneinander von brüderlicher Herzlichkeit, menschlichen Mitgefühls und grausamer Vergewaltigung war unfassbar.

Draußen bliesen die Jäger das Signal zur Jagd auf alles Weibliche – dem biologischen und kulturellen Keim des Volkes. Aber das Halali zur Beendigung der Treibjagd blieb in diesen Nächten aus, die Schreie der Vergewaltigten in den Feldern nahmen zu.

Drinnen in der Mühle aßen die Offiziere die geschlachteten Hühner und Gänse, ließen den kostbaren Wein wie Wasser durch ihre rohen Wodka-Kehlen fließen und tanzten nach den mit einem accelerando ins furioso steigernden Balalaika-Klängen auf Stühlen und Tischen.

„Wenn du je wieder solche Musik hören solltest, Kleiner“, packte mich einer, der aussah wie ein Mongole, mit wild blitzenden schwarzen Augen und wirbelte mich um sich herum, „solltest du je Lust haben, solche Musik zu hören, dann lass die Weiber dabei weg, ich rate es dir!“, und warf mich in die Arme eines anderen. Im Fliegen dachte ich an die Ohrfeige und die merkwürdigen Worte des Pfarrers: „Alles Schöne ist wohl des Teufels.“

In diese schwül erotisierende Atmosphäre hinein brüllte plötzlich ein Offizier: „Stoi! Wo ist Iwan?“

Als würde der schwere Vorhang einer Bühne fallen, verstummten die Balalaikas. Die Blicke fielen unwillkürlich auf die Geige an der Wand. Für Augenblicke hörte das Stampfen der Militär-Stiefel auf. ‚Iwan‘ hatte sie unbemerkt wieder dahin gehängt, war still und heimlich verschwunden. Die Gesellschaft stob aufgeregt auseinander, hinaus in den Hof, hinauf in den weiten Garten, hinunter in den langen, tiefen verschlungenen Weinkeller.

„Iwan?“

„Iwan ist verschwunden, sucht ihn, schafft ihn herbei, Iwan muss her, wir brauchen ihn!“, peitschte der Befehlende seine Offiziere an.

Kein Wunder! Der Einzige, der nicht nur russisch fluchen konnte, sibirische Geschichten über Machtkämpfe zwischen den Roten und den Weißen erzählen konnte, über die große Revolution und Trotzki, sondern auch derjenige war, der genaue und für die Betroffenen verhängnisvolle, sogar tödliche Angaben über die jetzigen Parteifunktionäre des Dorfes machen konnte, war verschwunden. Es war ihm wohl bewusst, dass zwar viel gefragt werden würde, aber wenig geprüft oder sogar abgewogen. Dazu würden sie sich keine Zeit nehmen. Der Zufall war jetzt der liebe Gott, oder das Versehen, oder der Übereifer.

In diesem aufgeregten Durcheinander stand Mutter.

„Mutter, wo ist er? Um Gottes willen, wo ist er? Haben sie ihn erschossen? Was haben sie mit Vater gemacht?“ Sie schaute mich merkwürdig starr an, ohne die geringste Regung zu zeigen.

„Mutter, du weißt, was mit ihm geschehen ist, warum sagst du nichts?“ Ich war mir sicher, sie wusste es. Ohne zu antworten, sagte sie nur: „Geh schnell, Alois, dort steht ein Mann in der Tür, geh zu ihm, er winkt dir zu. Er will was von dir!“

Am Ende des Flurs stand unbeweglich ein schwarzhaariger dunkelhäutiger Mann in der Eingangstür, als wäre er ein Geist, einem Engel gleich, umhüllt von einem langen, wallenden Mantel.

„Komm, Alois, komm!“

Wie von magischen Händen gezogen, folgte ich dem Winkenden durch den leeren Flur. Das hektische Treiben um mich herum nahm ich nicht mehr wahr.

„Hab’ keine Angst, Alois. Endlich habe ich dich gefunden. Erinnerst du dich? Du bist mit uns Musikanten übers Land gezogen, da haben deine Eltern dich gesucht.“ Er flüsterte, aus Angst entdeckt zu werden.

„Lange kann ich hier nicht bleiben. Ich weiß, was dir zugestoßen ist mit deiner Geige. Hier …!“ Er griff tief unter seinen bodenlangen, verschlissenen Persianer-Mantel, der alle Geheimnisse der Welt zu verbergen schien, holte zärtlich eine Geige hervor und reichte sie mir.

„Hier, nimm sie! Sie wird deine Geliebte werden. Du wirst mit ihr ein Leben lang verbunden sein, ich weiß es. Du brauchst sie und sie braucht deine Seele, damit sie klingen kann. Sieh doch ihren goldbraunen, zarten Leib, ihre schlanke Taille. Es ist eine Nicolas Aine, eine Französin und sehr alt, 1760 von einem französischen Meister gebaut, von D. Nicolas Aine. Wie schön sie ist!“ Er hielt sie hoch wie ein Neugeborenes und streichelte sie.

„Einst gehörte sie einem Konzertmeister der Pariser Oper, später meinem Großvater, dann meinem Vater. Jetzt gehört sie dir. Nimm sie! Die Nicolas Aine aus Cremona wird dir ein Leben lang treu sein und deine Musik wird der Welt gehören.“

Und eindringlich flüsternd fügte er hinzu: „Wenn sie dir die Nicolas wegnehmen wollen, sag ihnen, sie sei sehr, sehr alt und daher wertlos. Sollten sie dir trotzdem die Nicolas nehmen, sorge dich nicht! Ich werde sie für dich beschützen. Und wenn es nicht mehr die Nicolas geben sollte, werde ich Sorge tragen, dir die beste Geige der Welt in deine Hände zu legen, eine Amati, Guarneri oder Stradivari! Denn wem nützt es, wenn sie nicht von Meisterhand gespielt werden.“

Mit vorgehaltener Hand sagte er leise: „Dein Vater hält sich eine Zeitlang verborgen. Er will niemanden verraten, auch diejenigen nicht, die vielleicht schuldig sind. Alle, die es betrifft, sollten zuerst mit sich selbst ins Reine kommen.“

„Wie heißt du, fremder Mann?“, fragte ich hastig.

„Ich heiße Micha, wie Michael, der Erzengel. Und jetzt Adieu, Alois!“ Damit verschwand er im Akazienwald.

„Adieu, Zigeuner, ich werde dich wiedersehen!“, rief ich ihm nach, glaubte, einen Engel gesehen zu haben, ging zu meinen Mehlsäcken in der Mühle, dorthin, wo es still war, wo die Stille zu Musik wurde und machte mich vertraut mit meiner Nicolas.

… und Olkowitz liegt doch am Meer. Schönheit ist des Teufels

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