Читать книгу Die Hegerkinder in der Lobau - Alois Theodor Sonnleitner - Страница 6
Die Wilderer-Buben.
ОглавлениеWenn auch das Hochwasser in der Lobau täglich sank, hatte der Heger doch noch immer verschärften Nachtdienst.
Bertel und Liesel waren längst zu Bette gegangen. Auch die Hegerin; aber sie schlief nicht. Sie lauschte den ruhigen Atemzügen ihrer schlummernden Kinder und dem gedämpften Brausen des Sturmes, der von Stadtl-Enzersdorf über den Lobauer Pappelwald herübertobte. Der brach aus den Kronen der uralten Bäume abgestorbene Zweige, führte sie mit sich und warf sie da und dort prasselnd gegen die Stämme. Die Hegerin dachte mit Bangen an ihren Mann, der im Pflichteifer seine nächtliche Runde machte, um den Wilddieben die Meinung zu benehmen, dass bei bösem Wetter „die Luft rein“ sei. Jetzt, wo die Wildenten und Fasane schon brüteten und wo die Rehgeissen und Hirschkühe vor dem Werfen waren, sollte kein Nestplünderer und Schlingenleger den Wildstand schädigen; es galt, die Bruten und die Muttertiere zu schützen. Das Weib des Hegers fürchtete weniger, dass ein Wilderer ihn meuchlings anfiele, als vielmehr, dass ein vom Sturm gebrochener Ast ihn im Fallen träfe.
Die windgejagten Wolken gaben den Mond frei, in der Stube wurde es silberig helle. Da setzte sich die Hegerin in ihrem Bette auf und sah zu den Kindern hinüber. Bertel schlief mit offenem Munde, hörbar atmend, sein dunkles Haar hob sich deutlich vom weissen Polster ab, während seine rechte Wange auf den gefalteten Händen ruhte. Neben Liesels Blondkopf lag das Porzellanköpfchen ihrer Puppe, die sie mit der Rechten umklammert hielt. Plötzlich verfinsterte sich das Zimmer, eine Wolkenwand hatte sich unter den Mond geschoben. Dann vernahm die Hegerin von den Fenstern her das Trommeln einzeln angeworfener Tropfen; der Sturm liess nach, der Regen nahm zu. Sein eintöniges Geräusch wirkte einschläfernd. Nur wie im Traume vernahm die Hegerin die Heimkehr ihres Mannes, der die Stubentüre leise zuzog und dann erst in der Küche Licht machte. Als er sich des durchnässten Lodenrockes entledigte, meldete sich ihm leise knisternd die in der inneren Brusttasche vergessene Jagdzeitung. Die hatte der Briefbote schon vor zwei Tagen für ihn auf dem Forstamt abgegeben, aber noch hatte der Heger nicht Musse gehabt, sie zu lesen. Als er die Anschriftschleife abnahm, fiel eine Postkarte heraus, die den Stempel „Gaming“ trug. Die Schrift war fremd. Sollte die verwitwete Schwägerin schon aufgebraucht haben, was er ihr vor wenig Wochen an Geld geschickt hatte? Warum schrieb sie nicht selbst? Hatte sich ihre Krankheit verschlimmert? Mühsam entzifferte er die klobigen Schriftzüge:
Mein lieber Gschaider!
Bin als Flösser des öftern vom Pöchlarner Rechen bis zu die Weissgerber in der Weanerstadt gfarn. Drum trau i mirs zu, dass i di find. I bring dir di zwoa Buam von dein Brudern, wie’s die Gschaider Maria wollen hat, eh vor’s gstorben is. Mittwoch bin i bei enk. Dein alter Schulkamerad
Leopold Neunteufel,
kennst mi eh.
Der Heger legte die Karte auf den Tisch. Die Todesnachricht traf ihn wie ein Vorwurf. Heute, da er im Forstamt erfahren hatte, dass infolge der Fröste im Quellgebiet der Donau die Hochwassergefahr einstweilen vorbei war, hatte er sich den Urlaub ausgebeten, um die Witwe mit ihren zwei Buben zu holen. Halblaut sprach er vor sich hin: „Versäumt; sie braucht meine Hilf’ nimmer.“ Und heute war Mittwoch; die Waisen waren unterwegs. Er überlegte: Ob der Neunteufel mit den Kindern den Weg von der Reichsbrücke über den Regulierungsdamm kam oder von der Asperner Seite? Ob er nicht gescheiterweis’ mit ihnen in Wien übernachtete? Aber gescheit war der nicht immer. Wenn er einige Gläschen Schnaps getrunken hatte, wie er’s bei der Flösserarbeit gern tat, war er verwegen. Bei der Vorstellung, dass der Flossknecht vielleicht mit den Kindern im Regen und Sturm den langen Dammweg zurücklegte oder gar durchs Wasser watete, befiel den Heger ein Frösteln. Er kleidete sich still an und stellte sich lauschend vors Fenster. Da wars ihm, als hätte er eine rufende Stimme gehört. Dann wieder, als wär’s nur der Schrei der Sumpfeule gewesen oder das Knarren windgedrückter Äste. Der Hund schlug an. Der Heger trat auf die Türschwelle und horchte gespannt hinüber zum Damm. Und deutlich, wenn auch vom Wind abgeschwächt, klang es herüber: „Herr Heeeger! Herr Heeeger!“ Es war eine hohe Knabenstimme, die Stimme des Sohnes vom Wirt Turnovsky, den die Leute den „Roten Hiasel“ nannten. Gschaider zündete die Kerze in der Stalllaterne an und ging in den strömenden Regen hinaus. Als er drüben an der Dammböschung anlangte, vernahm er die Stimme Hiasels aus der Nähe: „Herr Heger, i bring’ die zwoa Buam.“ Und schon vermochte er die Umrisse der drei Knaben zu unterscheiden, die nach ihm hintasteten. „Wo ist denn der Neunteufel?“ „Der sauft bei uns,“ gab Hiasel zur Antwort; „er hat uns alle wachgepumpert. — Und i hab’ mir’s vom Vater ausbeten, dass i die zwoa Buam herweisen därf. Hiazt aber ,Guate Nacht‘ alle miteinander!“ — Und er verschwand in der Finsternis, als hätt’ ihn der Erdboden verschluckt. Der Heger rief ihm seinen Dank nach, dann wendete er sich seinen zwei Bruderskindern zu: „Von heut an sagt ihr Vater zu mir, und zu meinem Weib Mutter.“ Durch den strömenden Regen führte er sie still hinüber zum Hegerhaus. Er brachte die Kinder in die noch warme Küche, legte sachte Holz auf die glimmenden Herdkohlen und goss Wasser auf den Kaffeesud in der Kanne, die er zustellte. Jetzt erst besah er sich die Knaben, die unbeweglich an der Tür standen und verlegen die durchnässten Lodenhüte in den Händen hielten. Von den Rändern der Wettermäntel, die sie über ihre mächtigen Rucksackhöcker gezogen hatten, tropfte das Wasser und die nassen Haare hingen ihnen tief ins gebräunte Gesicht. Ihre Augen irrten über die Gegenstände der Küche. „Der welche von euch ist denn der Franzel?“ Der kleinere und stämmigere trat einen Schritt vor. Scheu sah er zum Heger auf. Seine dunklen Augenbrauen zogen sich finster zusammen. — „Dann bist du der Sepperl.“ Der grössere nickte: „Alleweil“ und lächelte gutmütig. — „Müssts euch umg’wanden,“ sagte der Heger und entledigte sich seiner Stiefel. Sie streiften die Wettermäntel ab. Und nun half er ihnen die überfüllten Rucksäcke ablegen, deren gespannte Schulterriemen tief einschnitten. Als er Sepperls Rucksack niederstellen wollte, traf ihn ein bittender Blick aus den graublauen Augen des Kindes: „Bitt, nit gach niederstellen; san unsere Kaffeehäferln drein und aa das von der Muatter.“ Dem Heger fiel auf, dass aus Franzels Rucksack ein verrosteter, allem Anschein nach auf halbe Länge gekürzter Flintenlauf ragte. Er zog ihn heraus, fand auch inmitten der in den Rucksack gestopften Hemden und Kleider den Kolben dazu und vereinigte beide Stücke der Waffe mittels der Schnappfeder. Franzel sah ihm misstrauisch zu, dann aber griff er nach dem Wildererstutzen und riss ihn an sich. „Den gib i nit her, der is von mein’ Vadern. Den andern haben die Schandarm g’nummen.“ Der Heger schmunzelte: „Willst du epper aa wildbrateln gehn?“. Der Bub gab keine Antwort. Sein Gesicht nahm den Ausdruck trotziger Entschlossenheit an. Gschaider besah sich den stämmigen Buben genauer: „Vielleicht überlegst dir’s noch und wirst a richtiger Jager, du Rabuzzel, du.“ — Dann schlich er auf den Socken in die Stube, zog zwei seiner Flanellhemden aus der Truhe und kehrte damit zu den Kindern zurück. Er lispelte ihnen zu: „Ausschälen!“ und half ihnen aus den völlig durchnässten Kleidern, um sie in die weiten und weichen Hemden zu hüllen, deren Ärmel ihnen viel zu lang waren. Er hängte ihre Gamslederhosen, ihre Lodenjacken, die grünwollenen Kniestutzen und die groben Hausleinwandhemden über das Gerähm um den Ofen herum und stopfte die zerweichten Stiefel mit geknülltem Papier aus. Dann schob er ihnen zwei Sessel nahe zum knisternden Feuer. Da glitt ein Lächeln über die Gesichter der Waisen und auch aus Franzels braunen Augen leuchtete den Heger etwas wie erwachende Zuneigung an. Die strahlende Wärme des Herdfeuers tat so wohl! Die Knie bis zum Kinn heraufgezogen, das Hemd darüber gespannt, die Hände von den hangenden Ärmel-Enden verhüllt, sassen sie da und ihre Augen folgten gespannt jeder Bewegung des Hegers. Er mengte die heissgewordene Kaffeebrühe reichlich mit Milch, zuckerte sie und füllte sie in grosse Töpfe. Gerne griffen die Knaben darnach und umklammerten sie mit beiden Händen. Der Pflegevater strich noch für jeden ein grosses Butterbrot. Als er fragte: „Mögts no an Reanken?“ nickten sie: „Bitt schön.“ In stiller Freude sah ihnen der Heger beim gierigen Essen zu. Als sie gesättigt waren, fragte er sie flüsternd: „Habts an Hunger g’habt?“ Die Knaben zögerten mit der Antwort. „Hat er euch nix geben, der Neunteufel?“ „O ja, Brot in Schnaps getunkt hat er uns antragen! Das wär gegen die Kälten gewesen, hat er g’sagt.“ „Hat’s euch g’schmeckt?“ forschte der Heger weiter. Da schüttelten sie die Köpfe: „Wir durften’s nit nehmen. Die Leut haben g’sagt, der Vater wär’ vom Bam derschlagen worden, weil er b’soffen g’west wär’. Da hat die Mutter, wie’s mit ihr zu End’ gangen is, uns aufboten, wir dürften nia nit an Schnaps verkosten.“ „Und da habts lieber g’hungert?“ fragte der Heger. „Wir hab’n Brot mitg’habt.“
Was der Heger nicht aussprach, war der Gedanke: „Die Kinder geraten dem Vater doch nicht nach; Gott und der braven Mutter sei Dank!“ Er erinnerte sich an einige seiner Schulkameraden, die Söhne von Trinkern und doch tüchtige Menschen waren, nur weil die guten Mütter sie zur Enthaltsamkeit vom Alkohol erzogen hatten und zur Arbeitsfreudigkeit. Da fiel ihm das Sprichwort ein: „Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm.“ Und halblaut sprach er vor sich hin: „Der Apfel fällt oft weit vom Stamm.“ Leise schlich er in die Stube zurück, breitete als Lager für sich einen alten Pelz auf den Fussboden und schob sich die Jagdtasche als Kopfpolster zurecht. Dann legte er die Kinder eins nach dem andern in sein eigenes Bett. Er musste in sich hineinlachen, als er bemerkte, dass Franzel seinen Stutzen ins Bett mitnahm. Das alte Schiesseisen war wohl in des Buben Augen ein grosser Schatz, den er dem Pflegevater nicht gleich anvertrauen mochte. Von seinem Lager aus lauschte der Heger hinüber zu den zwei Kindern, die schlaftrunken ihr Nachtgebet zu lispeln begannen; aber sie kamen darin nicht weit. Bald verrieten ihre hörbaren Atemzüge, dass sie fest eingeschlafen waren, erschöpft vom langen nächtlichen Marsche durch Sturm und Regen und vom Schleppen ihrer Habseligkeiten. Da fand auch der Heger Ruhe in dem Trostgedanken: „Was ich an der Mutter versäumt hab’, werd’ ich gutmachen an den Kindern.“ Und im Einschlummern musste er lächeln, da ihm vorschwebte, was für Gesichter Liesel und Bertel machen würden, wenn sie beim Erwachen wahrnähmen, dass sie in der Nacht zwei neue Geschwister bekommen hätten, zwei stramme, wohl ausgewachsene Buben.
Um ein nochmaliges Zusammentreffen der Söhne des Wilderers mit Neunteufel zu verhindern, verliess der Heger im Morgengrauen das Haus und marschierte, vom kühlen Ostwind getrieben, auf dem Damme zum Wirtshaus, dem „Roten Hiasel“. Der Regen hatte aufgehört; die prickelnde Morgenkühle war dem Heger lieb. Er suchte den ehemaligen Schulkámeraden im Heustadl auf, wo er übernachtet hatte, und sagte ihm Dank. Dabei erfuhr er, dass die Witwe des Wilderers in der Zeit ihrer Krankheit all ihr Hab stückweise verkauft hätte, nur nicht die Kleider am Leib und das Strohlager, statt jemand um Hilfe zu bitten. Das Geld, das sie von ihrem Schwager erhalten hätte, wäre auf die Begräbniskosten daraufgegangen. So hätten die Kinder kein Erbe zu erwarten. Eilig nahm der Heger von Neunteufel Abschied. Nun hatte er das Gefühl, dass die Waisen ganz ihm und seinem Weibe gehörten. Waren bisher zwei Hegerkinder dagewesen, so waren es von nun an vier.
Nür die eine Frage beschäftigte ihn: „Wo tu’ ich die Buben hin?“ Die Wohnstube hatte bisher der Hegerfamilie als Schlafraum genügt. — Im Heustadl oder im Stall wollte er die Wildererbuben nicht nächtigen lassen. Er befürchtete, Franzel könnte sich nächtlicher Weile hinausschleichen und das Wild im Revier beunruhigen. Der Dachboden im Haus war aber zu lüftig. Da musste etwas geschehen.