Читать книгу Die Hegerkinder in der Lobau - Alois Theodor Sonnleitner - Страница 9
Im Asperner Kirchturm.
ОглавлениеDa durch die Wiederherstellung des Steges über die Furt in der Alten Naufahrt der bereits trockene Biberweg nach Aspern gangbar geworden war, konnten die Hegerkinder nun wieder zur Schule.
Franzel und Sepperl waren wenig erfreut darüber, dass der Oberlehrer Wagner, ein grosser hagerer Mann mit ernstem Geschau, sie in die eigene, nämlich in die Oberklasse aufnahm. Sein bis auf den Schnurrbart glattrasiertes Gesicht machte auf sie den Eindruck grosser Strenge; und die Stille, die in der Klasse schon vor Unterrichtsbeginn herrschte, wirkte auf sie unheimlich. In Gaming war es anders gewesen. Bertel machte die Brüder auf das neunjährige blasse Söhnchen des Oberlehrers aufmerksam, auf den Hansi. Er erzählte ihnen, dass der Bub schon ein richtiger Organist war. Bei der Schulmesse musste Hansi die Orgel spielen, wenn ihn auch in den Fingern fror und in den Füssen, mit denen er die Pedale nur erreichen konnte, wenn er ganz am vorderen Rand der Orgelbank sass. Da half kein Weinen. Der Vater war streng, sehr streng. Bewunderung und Mitleid waren es, wodurch sich die stämmigen Gebirgler zu dem so ganz anders gearteten Musikerkinde hingezogen fühlten. Sie selbst erweckten durch ihre fremdartige Tracht und durch ihr Gebaren Hansis Aufmerksamkeit. Dazu kam, dass durch Hiasels Erzählung die unglaubliche Kletterleistung Franzels und durch Liesels Prahlen auch Sepperls Geschicklichkeit im Strumpfstricken bald bekannt wurde. So zeichneten sich in Hansis Augen die beiden Neuen als Besondere aus und die Bekanntschaft war schnell gemacht.
Die Asperner Schuljugend war ein Völklein für sich. Sie hatte nun zwei Fremde in ihren Kreis aufgenommen und mit sicherem Gefühl Eigenheiten an ihnen herausgefunden. Aber diesmal war es kein äusseres Kennzeichen, wie bei Hiasel die Haarfarbe, es waren die Tätigkeiten, die zur Namensgebung führten. Der ältere der Gaminger Gschaider hiess bald nur mehr der „Steiger-Franzel“, der jüngere „Stricker-Sepperl“. So waren die drei Gschaider-Buben wohl voneinander unterschieden. Als der Oberlehrer Wagner, der sich auf Namensdeutung verstand, von den neuen Namen erfuhr, benützte er die Gelegenheit, die Entstehung ihres Familiennamens zu erklären. Danach hiessen die Hegerkinder nicht etwa darum Gschaider, weil sie gescheiter waren als alle anderen; das sollten sie sich ja nicht einbilden; sondern sie stammten alle von einem Gebirgsbauer ab, der sein Haus auf einer Wasserscheide gebaut hatte, auf einem Bergsattel, an dem die Quellwässer sich teilten. Ein Bach floss links, der andere rechts hinab zu zwei durch den Höhenzug getrennten, vom Sattel vereinten Tälern: Gschaid, Gescheide. „Gschaider ist ebenso ein Geländename wie etwa Lehner oder Lechner oder Lahner, das ist einer, der auf einer Lehne (Lahn) haust.“ Da meldete sich ein Knabe: „Bitt’, der könnt’ ja auch Leitner heissen; statt Lehne kann man auch Leiten sagen. Ich kenn’ einen Eisenbahner, der heisst Bachleitner.“ — „Richtig, und der könnt’ wieder Achleitner heissen; weil Ach soviel als Bach oder Wasser bedeutet. Wer weiss noch andre Geländenamen?“ Da kamen die Beiträge von allen Seiten: Berger, Schönberger, Unterberger, Puchberger, Weinberger und Wimberger. Nun fragte ein Mädchen dazwischen: „Wim? was soll denn Wim heissen?“ — „Nichts andres als Wein; ist doch heute noch das alte Wort ,Wimmat’ gebräuchlich für Weinernte; und der Name Wimmer für Weinbauer.“ Der Oberlehrer fuhr fort: „Wie haben die Leute früher statt „Hügel‘ gesagt?“ — „Bühel, Biegl oder Pichel.“ — „Daher?“: „Bühler, Pichler, Schönbichler, Biegler.“ Die Förstergretel meldete sich von der Fensterreihe her: „Bitt’, ich kenn’ einen Greissler in der Brigittenau, der heisst Goldbiegler.“ Der Oberlehrer nickte ihr zu: „Und in Perchtoldsdorf gibt es dazu den Goldbieglberg. Wüssten die Perchtoldsdorfer, dass Biegl ohnehin schon Hügel oder kleiner Berg bedeutet, so würden sie sich den Zusatz — ,berg‘ wohl ersparen.“ — Der Feitsinger Franzl brachte noch die Beiträge Riegler, Steinriegler, Reiner und Reininger.
Wieder einmal zur Namensforschung angeregt, zappelten die Kinder vor Ungeduld und einzelne schwenkten die hochgehobene Hand, um ihren Beitrag anzubringen; noch verweilten sie bei den Geländenamen: „Auer, Schönauer, Fischauer, Ecker, Rosegger, Landegger, Brucker, Neubrucker, Bruckner, Thaler, Freuntaler, Apfeltaler.“ Dann rückten sie mit den bekannten Standesnamen an: „Bauer, Schneider, Müller, Beck, Jäger, Schmidt, Schmiedl, Koch, Meier.“ Und Bertel, der den Namen Meier zu erklären bekam, wusste richtig zu sagen, dass der eigentlich vom lateinischen maior, der grössere oder ältere, also der für eine Hauswirtschaft Verantwortliche, abstammte; das hatte er sich seit dem Vorjahre gemerkt. Da warf der Oberlehrer die Frage ein, wer noch wüsste, was der Name Schulz ursprünglich bedeutet hätte. Aber kein Kind, ausser Hansi, dem Söhnchen des Oberlehrers, wusste mehr die vor Monaten gegebene Erklärung. Er ging zur Tafel und schrieb an: Scultheizo. „So haben die alten Deutschen erst den Schuldeneintreiber, den Richter, genannt, weil er die anderen die Schuld zahlen geheissen hat. Erst später hiessen die Bauermeister, die Dorfrichter, so und die Bürgermeister in den Städten.“
Nach der Aufzählung und Erklärung von allerlei Namen, die von persönlichen Eigenheiten herrührten, wie Langbein, Kurz, Trampler, wagten sich einzelne Kinder mit Fragen hervor über Namen, die ihnen als rätselhaft aufgefallen waren. Da hatte einer über einem Taschnerladen in der Leopoldstadt den Namen Rinőssl und gleich daneben überm Schuhmacherladen Hasenöhrl gelesen. „Nun, Össl und Öhrl ist vielleicht eins und dasselbe, der eine mochte ein krankes, rinnendes Ohr gehabt haben, der andre lange, schmale, verdrückte Ohren, in denen ein Witzbold eine Ähnlichkeit mit Hasenohren gesehen hatte. Es kommt ja im Deutschen öfter vor, dass ein R durch ein S ersetzt wird oder umgekehrt. Denkt nur an unser Lied vom Scheiden. Darin heisst es: „So dir geschenkt ein Knösplein was . . .“ Da habt ihr noch die alte Mitvergangenheit „was“ vom Zeitwort „wesen“, das heisst „sein“; heute sagt man wohl für „das Sein“ noch „das Wesen“, aber statt „er was“ sagen wir „er war“ — “ Die Kinder nickten und von mehreren Seiten liess sich ein leises „Aha!“ vernehmen. Auch der Name Ansorge machte keine Schwierigkeiten. „Ane“ hiess im alten Deutsch soviel als „ohne“ — also war der Herr Ansorge ein sorgloser Mensch gewesen, ein lustiger Bruder. Über den Namen „Anweiler“ waren die Ansichten geteilt: Die einen meinten, den Namen hätte einer bekommen, weil er an einem Weiler, d. i. an einem Landgut oder einer kleinen Ortschaft gewohnt hätte, andere aber erklärten den Namen ähnlich wie An-Sorge: Anweile mochte Anes-Weile, d. h. ohne freie Zeit, ohne Musse, bedeutet haben; und Anweiler mochte einer genannt worden sein, der sich immer Arbeit wusste und darum nie müssig war.
Als die Beiträge spärlicher wurden, rückte der Sohn des Buschenwirtes mit zwei Namen heraus, die er sich von Gästen gemerkt hatte: „Zahradnik“ und „Kominik“. Damit erreichte er, dass die Klasse zu kichern begann. Der Oberlehrer aber fragte ruhig: „Wisst ihr auch, warum ihr lacht? — Weil euch die nichtdeutschen Wörter sinnlos vorkommen. Aber wir können sicher sein, dass auch Namen, die wir nicht verstehen, ihre Bedeutung haben.“ Und schon meldete sich die kleine Ludmilla, das Töchterlein des Schneidermeisters Zaplatil: „Kominik“ heisst Kaminfeger, Rauchfangkehrer. Und „Zahradnik“ bedeutet „Gärtner“, „Zahrada“ ist der „Garten“. Der Oberlehrer schrieb die Namen nebeneinander an die Tafel. Er unterstrich Komin und Kamin.
Unter Za-hrad-nik schrieb er:
Hrad=Grad=Burg,
Graz=Gradec=Hradec=Burgstadt,
Grätzel=Bürglein,
König-Grätz=Königsburg,
Bel-grad=Weissen-burg,
Garde1 =Wache,
Garde1 -robe-Kasten=Kleiderschrank,
Zahrada=Gart-en, lateinisch hort-us
Hort
Hirt
Hürde.
hűten=hiarten (Dialekt)
Hut
Hütte
Er wartete, bis die Kinder mit dem Nachschreiben fertig waren; dann fragte er: „Was sagt ihr dazu?“ — Der Feitsinger Franzel meldete sich: „Komin und Kamin ist ja dasselbe Wort!“ — Dann aber blieb es stille, bis der Oberlehrer dreinhalf: „Versucht zunächst, die angeschriebenen Wörter in Sätzen anzuwenden. Vielleicht glückt es euch, die meisten mit einem gemeinsamen Zeitwort in Verbindung zu bringen.“ Jetzt kam Leben in die Klasse:
„Die Garde-Soldaten bewachen die Burg.“ — „Im Garderobe-Kasten werden die Kleider aufbewahrt.“ — „Wenn der Feind Graz belagert, flüchten die Einwohner in die Burg; sie soll sie vor dem Feinde bewahren.“ — „Der Zaun des Gartens bewahrt das Gemüse vor Hasen und Dieben.“. — „Auf dem Ringplatz von Eggenburg ist eine freistehende Häusergruppe, wie eine kleine Burg; die heisst ,Grätzel“ — ,Im Hort werden die Kinder vor schlechter Gesellschaft bewahrt,“ — „Der Hirt bewacht die Herde; er bewahrt sie in der Hürde, damit sie nicht auseinanderlaufen.“ Der Hut bewahrt den Kopf vor dem Regen. Die Hütte bewahrt die Leute vor Kälte. —
Und wieder schwiegen die Kinder. Da gab ihnen der Oberlehrer einen Wink: — „Ihr müsst doch etwas herausspüren, das in jedem der ähnlichen Wörter steckt. Wenn auch das H durch G ersetzt wird, oder das d sich verwandelt in t oder tz oder c, wenn auch zwei Laute den Platz wechseln und die Selbstlaute sich wunderlich ändern, es ist doch immer etwas Gemeinsames im Wort; das muss doch überall denselben Sinn tragen; ob das Wort nun gart heisst oder gard, grad, gratz, hrad, hort, hirt oder hürd.“ Von drei Seiten auf einmal kam die Antwort: ,,bewahren, behüten“. Da fiel des Oberlehrers Blick auf die zarte Martha Opferkuh, die still vor sich hinweinte. Seine guten Augen fragten das Kind: ,,Martha, warum weinst du?“ Die Kleine brachte unter stossweisem Schluchzen die Frage her vor: „Warum muss ich Opferkuh heissen?“ — „Wein’ doch nicht! bei uns heissest du ja nur Martha. Den dummen Namen hat offenbar der Feldwebel erfunden, der bei der Volkszählung vor mehr als hundert Jahren deinen Ur-Urgrossvater in die Liste der Steuerpflichtigen einschrieb. Weil die Juden zuviel gleiche Namen hatten, mussten ihnen zur Unterscheidung besondere Namen gegeben werden. Wer dem Listenschreiber viel Geld gab, der durfte sich einen Namen aussuchen, wie er ihm gefiel. Zum Beispiel: Mandelblüh, Rosenduft, Stern, Gold oder Diamant. Wer nicht genug oder nichts zahlte, musste den Namen annehmen, den man ihm mit mehr oder weniger Witz gab. Dass dein Ur-Urgrossvater kein reicher Mann war, und dass auch dein Vater nicht reich ist, darauf solltest du stolz sein.“ Über das Gesicht der kleinen Martha glitt ein verständnisvolles Lächeln. Sie setzte sich und trocknete sich die Augen. Der Oberlehrer sprach nun zur Klasse: „Was wir jetzt durchgesprochen haben, aus dem habt ihr bis heut acht Tag’ eine Aufgabe: Ein jeder sucht einige Namen, die bis heut bei uns nicht besprochen worden sind, und erklärt sie, so gut er kann. Ob er sie von Schildern herabliest oder von Grabsteinen, ob er sie von Erwachsenen erfragt, ist alles eins: Wer ein besserer Forscher ist, der wird mehr zustand bringen und besser deuten.“
Bald nahm auch der Oberlehrer von den Kindern die Gewohnheit an, die drei Pflegebrüder mit den Namen aufzurufen, die ihnen das kleine Volk beigelegt hatte. Heger-Bertel, Steiger-Franzel, Stricker-Sepperl.
Franzel wusste sich’s in einigen Tagen beim Hansi durchzusetzen, dass er ihm beim Orgelspielen helfen durfte als zweiterBlasbalgtreter; als erster behauptete Poldi seinen Platz, der flachsköpfige sommersprossige Bub des Mesners.
War ein Requiem auf halb 7 Uhr früh angesetzt, so marschierte Franzel schon um halb 6 allein aus, denn er durfte zum Blasbalgtreten nicht zu spät kommen. Hansi musste sich aufseine Pünktlichkeit verlassen können. Daneben suchte der Steiger-Franzel Gelegenheit, sich mit dem Kirchturm näher bekannt zu machen, in dem er emporsteigen wollte bis unter die Blechhaube, die kleine Guckfenster hatte und das Turmkreuz trug. Von dort musste es einen weiten Ausblick geben. Und der Mesnerbub hatte nichts dagegen, dass Bertel ihm beim Ziehen der Glockenstränge half, wenn er nach der Vormittagsschule Mittag läutete oder an Sonntagen das Läuten vor dem Gottesdienst besorgte.
An einem hellen Mittag überliess es Franzel dem Mesnerbuben, allein den Glockenstrang zu ziehen, und stieg die steile Treppe empor. Das Brettergehäuse, in dem die Glockenstränge hingen und die steinernen Uhrgewichte, nahm das Innerste des dickmäuerigen und darum schmalen Turmschachtes ein, der durch Zwischenböden in mehrere Stockwerke geteilt war. Da blieb nur wenig Raum für die Treppe. Die war so schmal, dass der Steigende mit dem linken Ellbogen die Mauer, mit dem rechten das Seilgehäuse streifte. Die Glocken dröhnten und ihr Schwingen machte alles Gebälk und die Treppe zittern. Aber Franzel stieg beherzt empor und stiess mit dem Kopf die Falltüren auf, die ein Stockwerk vom andern trennten. Er musste auf dem handbreiten Rande zwischen dem Seilkasten und dem gähnenden Falltürloch sich hinübertasten zum nächsten Treppenansatz. Nur nicht zurückschauen, sonst stürzte er rücklings in den Schacht. So gelangte er zum Uhrwerk, das in einem mächtigen Kasten untergebracht war, der ein Glasfenster hatte zur Beobachtung des kleinen inneren Zifferblattes. Franzel hob den Deckel des Kastens, beguckte die drei Walzen des Gehwerks, des Viertel- und des Stundenschlagwerks, die tellergrossen und die kleineren Zahnräder und hastete weiter. Als er an die schwingende Glocke kam, hielt er sich beide Ohren mit den Fingern zu und bestaunte die Einrichtung: Am Ende eines Hebels hing das Zugseil. Inmitten des Hebels war an eiserner Querachse die fassgrosse Glocke befestigt, die hin und her schwang. Bei jedem Schwunge schien es, als wollte sie bei der Schall-Luke hingusfliegen. Und als die Glocke zur Ruhe kam, hörte Franzel ihr dröhnendes Klingen noch eine Weile fort. Ihm war ganz dumm im Kopfe.
Der Turm wurde bedeutend enger. Eine lange eiserne Leiter, die nahe an der Mauer befestigt war, führte bis zum Ziegelgewölbe, das den gemauerten Turm unter der Blechhaube abschloss. — Da stand er nun und konnte nicht weiter. Wohl sah er im Gewölbe ein ausgebrochenes Loch und durch dasselbe das dicke Holzgebälk des Dachstuhles, auch eine der Blechtüren, die ein Guckloch verschloss, aber da war keine Leiter, die hinaufgeführt hätte. Vorsichtig streckte er sich von der vorletzten Sprosse der eisernen Leiter auf, bis er das Gewölbe mit den Fingern berührte, ertastete den Rand des Deckenloches und rüttelte an der nur einen Ziegel dicken Wölbung, ob sie fest genug wäre, ihn zu tragen. Dann umgriff er mit beiden Händen einen Randziegel, zog sich zum Beugehang auf, und seine Füsse lösten sich von der Leiter. Ohne einen Blick hinter sich zu werfen, wie tief der Abgrund sei, in den er fallen müsste, wenn er losliesse oder wenn der Ziegel nachgäbe, spannte er die Armmuskel an und ging vom Beugehang in den Stütz über. Dann zog er das rechte Knie hoch, beugte den Oberkörper vor, kniete zunächst rechts, dann links auf und stand im nächsten Augenblick mitten auf dem Kreuzgebälk, das der Wölbung auflag. Helligkeit umfing ihn, die Sonne schien durch die offene Südluke in das winzige Turmgemach, dessen Raum zum grossen Teil von den ineinander verbissenen, sehr dicken Dachstuhlbalken erfüllt wurde. Im Blechdach war ein Knistern vom Winde, der daran rüttelte. Der Blick aus dem Fensterchen brachte dem kühnen Steiger eine arge Enttäuschung. Tief unter ihm der Heldenplatz von Aspern mit dem steinernen Löwen, dann die Schule und andere Häuser, dann Felder und Wiesen und endlich die geschlossene Masse der hohen Aubäume, durch die nicht einmal der Spiegel des Mühlarms und der Alten Naufahrt blinkte. Er hatte gehofft, den Donaustrom, die Arme der Alten Donau, die Inseln und Inselchen und die ganze Wienerstadt überblicken zu können wie ein Falke, der hoch in der Luft darüberschwebt; und jetzt, nach der gefahrvollen Steigerei, sah er kein Wasser blinken; und die Auen verdeckten die Wienerstadt, über der noch dazu ein dicker Kaab1 lag, dass kaum die Kuppel der Rotunde zu erkennen war. Die Blechtürchen der anderen drei Guckfenster waren verriegelt, die Riegel eingerostet. Da entschloss er sich, wieder hinabzusteigen. Aber als er durchs Loch der Wölbung hinunterschaute in den Turmschacht, kam ihm die Überlegung, es könnte doch ein Ziegel losbrechen, wenn er, an ihm hangend, die Beine schwingen liess, um mit der Leiter Fühlung zu bekommen. Da rief er durch das Loch hinunter: „Poldi! Poldi!“ Keine Antwort, nur das langsame heisere Ticken der Turmuhr. Zum Guckloch zurückgekehrt, erspähte er zunächst in einem Fenster des Schulgebäudes den Kopf des Oberlehrers, dann aber ganz nahe am Löwen von Aspern den Mesnerbuben, der mit dem Orgel-Hansi beisammenstand und spielend den Turmschlüssel um den Finger wirbeln liess. Franzel wiederholte seinen Ruf. Poldi schien nicht zu hören; der Wind mochte den Schall vertragen. Da hob Franzel einen Mörtelbrocken vom Boden ab, band ihn in sein Sacktuch und warf ihn hinunter, dass er vor den Füssen der beiden Kameraden aufklatschte. Jetzt schauten sie zu ihm empor, schwenkten die Hüte und setzten sich in Trab. Bald vernahm er das Tappen ihrer Schritte auf den Treppenstufen. Da rief er ihnen durch die vorgehaltenen Hände zu: „Bringts a Later, i kann nit abi!“ Und richtig kamen sie mit einer kleinen Leiter angestiegen. Als Poldi das dünnholmige Ding mit dem schmäleren Ende durch das Deckenloch steckte und das breitere Ende über einer Sprosse der Eisenleiter verspreizte, rief er Franzel an: ,,Blinder Hess2, hast es denn nit lahner g’segn beim Uhrkasten?“ Franzel überhörte den neuen Namen und war froh, als er die beiden zu sich emporklettern sah.
Erst half er dem Poldi, dann dem zaghaft nachfolgenden Hansi beim gefährlichen Übersteigen von den obersten Sprossen auf das Kreuzgebälk. Im Nu waren alle drei beim offenen Guckloch. — Da hörten sie unter sich ein schweres Tappen auf der Treppe. Und Poldi wechselte die Farbe: „Uj je! Hiazt krieg’ i’s; der Vater kummt.“ — Franzel aber warf sich in die Brust: „J leid’s nit; schuld bin i.“ Damit trat er an die Leiter, und zog sie herauf, wie etwa ein belagerter Ritter die Brücke des Burggrabens aufgezogen hätte. So wollte er mit dem Mesner verhandeln, um für Poldi völlige Straflosigkeit auszubedingen. Aber kaum hatte er die Holme berührt, als er zu seinen Kameraden zurückkehrte: „Der Oberlehrer kummt.“ Jetzt überfiel Hansi das Zittern; da schob ihn Franzel hinter den Poldi, er selbst aber neigte seinen Kopf dem Strengen entgegen und liess das Leiterchen wieder hinab. Der Oberlehrer, der zur Festigkeit der schmalen Leiter kein Vertrauen hatte, schmiegte sich so an das schwache Gerät, dass er sein Körpergewicht auf die Hände, Ellbogen und Füsse verteilte, und schob seine lange Gestalt ruhig und sachte in die Turmhaube empor, in deren Mitte er kaum aufrechtzustehen vermochte. Franzel begrüsste ihn mit den Worten: „Der Hansi kann nix dafür. Er wollt’ mir nur ’nunter helfen.“ Da glitt ein Lächeln über das Gesicht des wegen seiner Strenge Gefürchteten. „Darüber reden wir vielleicht später. Aber weil wir schon heroben sind, machen wir die Augen auf und schaun hinunter.“ Ein paar Minuten lang besah er vom Südfensterchen aus die Landschaft, dann begann er seine Erklärungen: „Schaut mit Ehrfurcht auf die Strassen, die Gärten, die Felder von Aspern. Es liegen hier weit umher viele tausende Österreicher begraben, es sind Deutsche, Tschechen, Slowenen, Polen, Kroaten und Ungarn, die in den denkwürdigen Maitagen des Jahres 1809 im gemeinsamen Abwehrkampfe gefallen sind, im siegreichen Kampf gegen den Franzosenkaiser Napoleon, vor dem ganz Europa gezittert hat. Und mancher Franzose schläft mit den ehemaligen Feinden Seite an Seite friedlich unter der Erde. Wenn am Strassenrand ein Laternenpfahl gesetzt wird oder ein Baum in einem Garten, stossen die Arbeiter mit ihren Spaten auf Menschenknochen. Und wenn beim Ackern der Pflug die Scholle wendet, bringt er verrostete Flintenläufe, Gewehrschlösser, Säbel, Bajonette, Gewehrund Kanonenkugeln ans Licht.“ — „In der Schul’ ist ein Kasten volldavon,“ schaltete Hansi ein, der die Angst vor dem Vater vergessen hatte. „Und beim Feitsinger Wirt drüben und beim unteren Wirt aa,“ ergänzte der Mesner-Poldi. „Schaut da hinüber, wo die Au am Enzersdorfer Donauarm den Einbug macht. Dort hat die Napoleonstrasse aufs Marchfeld herausgeführt aus der Lobau, wo Napoleon sein Hauptquartier und sein grosses Heerlager gehabt hat. Seit dem 13. Mai 1809 war er Herr von Wien; er hat damals in Schönbrunn residiert. Vom Schloss Kaiser-Ebersdorf aus, bei Schwechat drüben, hat er die Schiffsbrücke über die Donau geschlagen, so dass seine Armee herübermarschieren konnte auf die Lobauer Insel. Und am 20. Mai haben die Franzosen die Dörfer Aspern und Essling besetzt.“ Da unterbrach Franzel die Ausführungen des Oberlehrers. Er zeigte mit der Hand weit in die Ferne, wo jenseits der Donau-Auen in Wolkenhöhe ein mattes Blinken zu sehen war, das gedämpft wurde vom dünnen Nebelschleier: „Und dort is der Ötscher!“ Es klang wie ein Jubel der Wiedersehensfreude. —
„Wenn’s auch nicht gerade der Ötscher ist, was da von weit her, von der steirischen Grenze zart herüberblinkt, ein hoher Berg ist’s wohl. Es ist der Schneeberg. Und links dahinter die Rax, deren Gipfel schon im Steirischen liegt. Mehr als 2000 Meter hoch, überragen beide Bergriesen den Anninger bei Baden, den Parapluieberg bei Perchtoldsdorf und andere Hügel des Wienerwaldes, die wir nicht sehen können, weil sie vom Wiener Kaab verschleiert sind.“ — „Am Schneeberg hab’ ich auch einen Onkel, den Losenheimer Gschaider,“ liess sich Franzel in freudiger Erregung vernehmen. Der Oberlehrer fuhr fort: „Aber viel schöner als vom Asperner Turm aus, der zu nah an den Auen steht, könnt ihr den Schneeberg sehen und die grünen Wellen der Wienerwaldberge, wenn ihr an einem hellen Tag von einer entfernteren Bodenwelle aus hinüberschaut, etwa von der Strasse aus, die hinüberführt von Aspern nach Hirschstetten. Von dort aus könnt ihr nicht nur die Rotunde im Prater sehn, die im Jahre 1873 zur grossen Weltausstellung fertig geworden ist, sondern auch den Stephansturm und unterhalb Wiens die Türme des Schlosses Kaiser-Ebersdorf, von dem aus Napoleon vor der Schlacht bei Aspern den Donau-Übergang seines Heeres nach der Insel Lobau bewerkstelligt hat.“
Er wandte sich zum Westfensterchen, dessen verrosteten Riegel er kräftig wegstiess. Dem andringenden Winde entgegen, zeigte er hinüber zum Bisamberg. „Dort oben stand Erzherzog Karl, der nach der Niederlage bei Regensburg sein Heer über Böhmen hergeführt hatte, um den bisher unbesiegten Franzosenkaiser zu besiegen. Und drüber der Donau seht ihr das Kahlengebirg. Denkt von jetzt 200 Jahr zurück: 1683. Damals belagerten die Türken die Wienerstadt. Da kam der Polenkőnig Johann Sobieski mit seinen Reiterscharen den Österreichern zu Hilfe gegen die übermächtigen Eroberer. Vom Kahlengebirg aus fiel er die Türken an und jagte sie in die Flucht.“ — Der Oberlehrer öffnete nun das Ostfenster: „Seht euch die Asperner Strasse an, die nach Essling führt. Da sind im Jahr 1809 die Österreicher von Norden her auf die Franzosen gestossen. Um jedes Haus, um die Kirche, um den Friedhof wurde gekämpft, über Leichen und Verwundete tobte der mörderische Kampf. Napoleon verlor die Schlacht, flüchtete in die Lobau und zurück über die Donau. Da drüben seht ihr den Esslinger Schüttkasten, den alten Kornspeicher, in dem die Franzosen sich tapfer verteidigt hatten und den sie erst verliessen, als Napoleons Heer die Lobau räumen musste.“ Vom Nordfenster aus zeigte der Oberlehrer den Kindern das weite, ebene Marchfeld. „Wenn ihr genau schaut, erkennt ihr noch die langgezogenen feuchten Mulden, an denen hohe Pappeln und Weidenbäume Auen bilden. Das sind ehemalige Donauarme; da ist in alten Zeiten die Donau geflossen in krummen Wasserläufen und dort hat sie auch später, als das Land mit Ortschaften besiedelt war, bei Überschwemmungen ihre Wassermassen gewälzt und das Eis getrieben, weit hinüber bis nach Breitenlee und Markgraf-Neusiedel, wo bei Deutsch-Wagram der Lössboden1 einen natürlichen Wall bildet, der die Fluten abdrängte. Von dort steigt das Weingelände an, auf Bockfliess zu.“
Erst durch die Vertiefung und Verbreiterung des einen, des „regulierten“ Strombettes sind die Wassermassen vom Marchfeld abgelenkt worden.
Der Mesner-Poldi war zum Westfenster zurückgekehrt und zeigte nach rechts: „Herr Oberlehrer, auf der Stadlauer Seiten sieht man auch noch Franzosenschanzen.“ —
„Das glauben die Leut’ nur,“ versetzte der Angerufene, „Franzosenschanzen sind nur in der Lobau und am Enzersdorfer Donauarm. Die anderen Schanzen aber zwischen Floridsdorf und Aspern sind aus dem 66er Jahr. Damals hatte Preussen, das mit Italien verbündet war, unter Führung des Königs Wilhelm I. gegen Österreich Krieg geführt, dessen Heer Erzherzog Albrecht befehligte.“
Nach der Niederlage der Österreicher bei Königgrätz rückten die Preussen über Böhmen und Mähren gegen Wien vor.
Trotz der in der preussischen Armee ausgebrochenen Cholera waren die Preussen 660.000 Mann stark. Als die Feinde bis Lundenburg, Oberhollabrunn, Nikolsburg und Pressburg vorgedrungen waren, warfen die Österreicher bei Floridsdorf, Hirschstetten und Aspern Schanzen auf. Aber der Nikolsburger Waffenstillstand und der Prager Friede machten dem Bruderkriege zwischen Preussen und Österreich ein Ende. Damals hatte Preussen allen deutschen Staaten seine Überlegenheit bewiesen und so den Grund gelegt zur Vereinigung der deutschen Länder im grossen Deutschen Reich.“
Der Oberlehrer hatte sich in Eifer geredet, als spräche er nicht vor drei Knaben, sondern vor der ganzen Klasse. Der lebhafte Luftzug, der in dem kleinen Gemach herrschte, machte ihn frösteln. Er schloss alle Guckfenster bis auf das südliche, stieg als erster über die Leiter hinunter und half den Jungen beim Abstieg.
In halber Turmhöhe machte der Mesner-Poldi auf den schmalen Gang aufmerksam, der auf den Dachboden der Kirche hinüberführte. Und der Oberlehrer liess sich bewegen, auch dort einzudringen. Da sahen sie über der vielbuckligen Kirchenwölbung den aus wuchtigen Balken gefügten Dachstuhl und darüber das vielfach durchlöcherte Schindeldach. „Vater,“ fragte Hansi, „sind die Löcher noch vom Franzosenkrieg her?“ „Nein, mein Lieber, die sind von den Spechten und Spechtmeisen; die suchen nach Würmern im Holz. Das Dach haben die Melker Stiftsherren aufsetzen lassen, weils im Neunerjahr abgebrannt war. Die Kirche gehört nämlich heut noch dem Melker Benediktinerstift aus der Zeit her, wo die östlichen Marchfelder Lehen1 den Passauer und Freisinger Bischöfen und die westlichen den Melker- und Schottenäbten gehörten. Der Kirchturm aber ist Eigentum der Asperner Gemeinde. Da zahlt sie die Ausbesserungen.
Wohlbehalten langten alle vier vor dem Asperner Löwen an. Sie hatten nicht nur einen Blick auf die friedliche Gegend getan, sondern auch weit zurückgeschaut in vergangene Zeiten voll Angst und Kampf und Blutvergiessen. Als der Oberlehrer am nächsten Tage in der Klasse mit Hilfe der drei Knaben die Aussicht vom Asperner Kirchturm besprach, baten alle Kinder, er möge sie auch auf den Turm führen.
„Das geht nicht,“ wendete er ein, „es könnte ein Unglück geben; aber wenn die Klasse brav bleibt, das heisst, wenn ihr mir fleissig kommt und sich’s keiner, aber gar keiner mehr einfallen lässt, schulzustürzen, führ’ ich euch alle am 21. Mai, das ist am Gedenktag der Schlacht bei Aspern, in die Lobau und auf den Enzersdorfer Turm, der ist viel höher als der Asperner und ist mit bequemeren Stiegen ausgestattet, dass ein jedes Kind hinaufkommen kann, ohne Gefahr, sich das Genick zu brechen.“ Damit war die Klasse zufrieden.