Читать книгу Die Hegerkinder in der Lobau - Alois Theodor Sonnleitner - Страница 8
Der Steiger.
ОглавлениеBald waren die vier Kinder aneinander gewöhnt und fühlten sich als Geschwister, als wär’ es immer so gewesen. Es zeigte sich aber, wie grundverschieden die beiden Gaminger waren. Der grössere und jüngere der beiden, der blonde Sepperl, schloss sich mehr an Liesel an, half ihr in der Küche und beim Spielen mit der Puppe und liess sich von ihr zum Stricken und Häkeln abrichten. Der kleinere, um ein Jahr ältere, dunkelhaarige Franzel aber wurde der Arbeits- und Spielgenoss Bertels, mit dem er die Stall- und Hausarbeiten erledigte und in der gewonnenen Musse die neue Heimat durchstreifte. Das Wasser hatte sich vom Auwald und von den Wiesen fast ganz in seine schilfumbuschten Rinnsale zurückgezogen. Nur der staubgraue Überzug von Ton, denes auf Gräsern und Baumrinden zurückgelassen hatte, verriet, wie weit die Überschwemmung gegangen war. Die grauen Wiesen machten einen trostlosen Eindruck. Franzel sagte es dem Pflegebruder unverhohlen, dass ihn die neue Umgebung anödete. Immer wieder verglich er das Auland mit seinem geliebten Gamsgebirge. Hier der fahle Rasen, in dem nur vereinzelt verblühte Schneeglöckchen standen, von Primeln und Leberblümchen keine Spur! Graurindige, kahle Bäume und alles flach, alles eben. Dort im Gamsgebirg fichtenbegrünte Berghöhen, darüber von Schneebändern gestreifte Steinwände, mit gleissenden Firnfeldern bedeckte Hochgipfel und Bergrücken; als Riese unter den Bergen der breite Ötscher, der „Hetscherlberg“ mit seinen geheimnisvollen Höhlen, dem Geldloch, dem Taubenloch, der Eishöhle. Hier Sumpfland und stille, schilfdurchsetzte Wasser, dort murmelnde, rauschende Bäche mit springenden Forellen. Die Erlaf gischtete zwischen den felsigen Tormäuern und Stierwaschmäuern. Und zur Erlaf rieselten plaudernde Quellbäche nieder, ungezählte! In die Erlaf ergoss sich die Treffling als weissstäubender Wassersturz. Ihr eilte die Lassing zu, die mit Getös von turmhoher Felsenkante hinunterdonnerte. Im Moose des Bergwaldbodens wuchsen grossblumige Schneerosen, die schon zu Weihnachten ihre Knospen durch den Schnee bohrten und dann lange fortblühten, erst blendend weiss, dann rötlich und zuletzt gar grünlich. Die sonnigen Steinhalden waren schon zu Ostern rot von blühenden Heideln und blutroten Schlüsselblümchen; und auf den Rasenbändern der Felswände sprosste das gelbe Petergstam, die Goldprimel, eine Verwandte der Schlüsselblumen, von denen sie sich durch die fleischigen ganzrandigen Blätter, die mehligen Blütenschäfte und durch ihren Duft unterscheidet; die Leute nannten sie „Gamsveigerl“, weil sie gar so lieb duftet; unten am Waldesrand gab es Leberblümchen, die meisten dunkelblau; auf der Gaminger Schlossleiten waren auch rote und weisse. Und hoch droben im Gefels standen äsende Gemsen, die einen Steinhagel niederprasseln machten, wenn sie flüchtig hinwegsetzten über die Geröllhalden.
Wenn das Heimweh den Franzel so recht packte, suchte er den Bruder auf und stimmte mit ihm eines der Alpenlieder an, die sie in der Gaminger Schule gesungen hatten: das Holzknechtlied oder die Hahnbalz, ’s Almlüfterl oder den Almfrieden1 . Franzel sang die erste, Sepperl die zweite Stimme; leise begannen sie das Lied, liessen die Töne anschwellen und in stiller Wehmut verklingen:
Pedergstam, fein wia Gold,
Blüaht schon fruah unterm Schnee
Almrausch und Enzian
Drobn auf der Höh;
Edlweiss, Sternderl feins,
Bist’ leicht vom Himmel g’fall’n?
Bist unter d’Blüamerln doh
’s schönste von alln.
Hoch auf’n Felsenzock
’s Gamserl so lusti springt,
Und von meim Juchazer
’s Echo verklingt.
Und wann i furt muass bleibn.
Packt mi fest ’s Hoamweh an,
Halt mi mit aller G’walt,
Möcht’ glei davon!
Die vier letzten Zeilen hatten sich die Brüder eigenmächtig angepasst, wie sie’s jetzt fühlten. Anders hatten sie’s in der Schule gelernt; jetzt waren sie fort aus der Heimat; aber dem Heimweh waren sie nicht entgangen. Immer wieder war es Franzel, der von Gaming zu reden anfing wie von einer schöneren Welt.
Bertel beschlich ein Gefühl der Beschämung, wenn er Franzel die Herrlichkeiten seines Gamsgebirgs so rühmen und die geliebte Lobau schmähen hörte. Und er suchte sein Prahlen zu übertrumpfen.
Aber soviel er ihm auch von den rotgoldig und kupferig befiederten Fasanen erzählte oder gar von den Königsfasanen mit meterlangen Stossfedern, von den Rudeln der Rehe in den Stadlauer Auen, von den vielen Hirschen auf der grossen Insel Lobau, von den Kolonien der Fischreiher, der Krähen und Kormorane hoch oben in den alten Silberpappeln des Rohrwörth1 , er vermochte das Heimweh des Gebirglers nicht zu bannen, weil ihn der noch durchnässte Boden daran hinderte, den Franzel dorthin zu führen, wo das Wild seine Wohngebietehatte. Da zeigte er zunächst dem unzufriedenen Vetter in der Dammböschung die vielen mit Steinen verkeilten Kaninchenlöcher, aus denen der Vater mit Hilfe der zahmen Frettchen oft die „Künigl“ herausgetrieben hatte, und machte ihm Hoffnung auf die Teilnahme an der Jagd auf dieses Kleinwild, von dem der Heger unverrechnet abschiessen durfte, soviel er wollte. Dann zeigte er ihm von der Dammhöhe aus die Türme des Schlosses Kaiser-Ebersdorf, von dem aus Napoleon im Neunerjahr die Schiffsbrücke über die grosse Donau nach der Lobau-Insel geschlagen hatte, jene Schiffsbrücke, auf der das Franzosenheer vom rechten aufs linke Donau-Ufer hinübermarschiert war. Er erzählte ihm, dass die Österreicher die Brücke in Brand gesetzt hätten, und zwar durch brennende Schiffsmühlen, die sie stromabwärts treiben liessen. Aber, nachdem Napoleon sie hätte wiederherstellen lassen, wär’ die Donau arg angeschwollen und hätte die Brücke durch schwimmende Eismassen vernichtet.
Eines Tags gingen die Knaben stromaufwärts, immer auf der Dammhöhe, von der aus der Blick frei war über die grosse Wasserfläche. Noch war das Inundationsgebiet1 überflutet und einzelne Weidensträucher, die auf dem Schotterland wuchsen, wippten im ziehenden Wasser. Franzel, der zwar schon den ruhigen Erlaf-See, aber noch nie so viel strömende Flut gesehen hatte, machte grosse Augen.
Seine Blicke wanderten über die splitterige Wasserfläche hinüber nach dem ungeheuren Häusermeer der Wienerstadt mit dem Stephansturm und der Rotunde. Und als er den Leopolds-, den Kahlenberg und den Bisamberg erspähte, da rief er aus: Jöi, da san ja aa Berg!“ Er liess einen Jodler steigen, der weithin hallte über Wässer und Auen. Der Jauchzer des Bergbuben war auch im Buschwirtshaus des Roten Hiasels vernommen worden. Da kam Hiasel, der Bub des Wirtes, auf den Damm. Der Hegerbertel winkte ihn herbei. Hiasel und Franzel gefielen einander. Hiasel zeigte dem Neuen den Holzschuppen beim Haus, dessen Bretter von einer alten Schiffsmühle herrührten, die in der Franzosenzeit am Wasser gestanden war. Dann übernahm er die Führung ins noch feuchte Auland.
So rückten die drei Jungen nordwärts vor, bis sie zu dem vom Hochwasser zerstörten und erst am Vortage wiederhergestellten Stege kamen, der über die Alte Naufahrt auf den Grossen Biberhaufen führte. Auf dem Stege standen sie stille. Hiasel erspähte einen armlangen Hecht, der regungslos im seichten Wasser der Strömung entgegenstand, auf die kleineren Fische lauernd, die sich ahnungslos vor ihm herumtrieben, weil er einem im Wasser schwebenden Holzknüttel glich, der graugrün war von Schlamm und Algen. Hiasel winkte den beiden Kameraden, sie sollten stille sein, streifte seine Schuhe und Strümpfe ab und schob die Beinkleider bis über die Knie hinauf. Er stieg leise hinter dem Hecht ins Wasser. Dass es noch kalt war, kümmerte ihn nicht. Behutsam bewegte er sich vorwärts, um ja nicht durch eine Welle des Hechtes Aufmerksamkeit von den belauerten Fischen abzulenken. So unmerklich setzte er Fuss vor Fuss, dass die Jungfische ahnungslos um seine nackten Beine herumschwammen; er zuckte auch nicht, wenn sie neugierig an seine Haut stiessen. Als er so nahe hinter dem Hechte stand, dass er die von der wedelnden Schwanzflosse erzeugten Wellen an seinen Schienbeinen spürte, senkte er leise seine Hände ins Wasser, als wollte er den Hecht beim Schwanze packen. Mit angehaltenem Atem folgten Bertels und Franzels Augen den schleichenden Bewegungen Hiasels. Jetzt hing der Erfolg vom glücklichen Griffe ab. Hiasel hatte Geduld und Selbstbeherrschung. Langsam, ganz langsam rückten seine Hände zu beiden Seiten des Fisches vor, ihn beinahe, aber doch gar nicht berührend. Erst als er seine Daumen neben den Kiemendeckeln des Fisches sah, die sich beim Atmen bewegten, griff er herzhaft zu. Beide Daumen bohrte er ihm unter die Kiemendeckel und schloss die Finger um die Kehle. Mit jähem Ruck hob er den zappelnden Fisch aus dem Wasser, drückte ihn mit der Linken gegen einen Stein, hob mit der Rechten einen Kiesel auf und tötete den Hecht durch einen Schlag auf den Kopf.
Da standen die beiden Kameraden neben ihm. Durch einen seitlichen Druck auf die Kinnladenwinkel zwang Hiasel den toten Hecht, das tiefgeschlitzte Maul zu öffnen, das von aussen einem Entenschnabel glich, im Innern aber ein vielzähniges Raubfischgebiss aufwies. Gaumen und Zunge waren mit einer Menge kleiner nach hinten gebogener Hechelzähne besetzt, der Unterkiefer aber hatte nebst einer Reihe kleiner nadelspitzer Zähnchen eine Anzahl langer, zweischneidiger Fangzähne. „Wann der di bissen hätt’!“ sagte Bertel mit Schaudern. Hiasel lachte auf. „Er beisst nur vorn!“ Franzel aber, der bei solchem Fischfang an Wilddieberei dachte, raunte dem Hiasel zu: „Wann di aber aner g’sehn hätt’?“ — „Das Fischwasser hat ja mein Vater gepachtet,“ entgegnete Hiasel nicht ohne Selbstgefühl. Dann zog er dem Fisch eine Weidenrute quer durch die Kiemen und drehte sie zu einem Ring zusammen, an dem er den Fisch tragen konnte.
Weiterschlendernd bogen die drei Buben vom Biberweg nach links ab. „Im Schierlingsgrund steht um die Zeit ein Rudel Reh,“ flüsterte der Führer. Vorsichtig vorwärtsschreitend, dass nicht das Knistern eines getretenen Zweiges ihr Nahen verrate, drangen die Schaugierigen vor neben dem Uferröhricht der Alten Naufahrt. Aber von der Überschwemmung her lagen im Grase angeschwemmte Schneckenhäuser. Von denen waren nur die langen, spitzen der Teichschnecke auf dem Rasen sichtbar, während die kreisrunden der Sumpftellerschnecke bis zum Boden gerollt und zwischen den Halmen verborgen waren. Auf ein solch leeres Schneckengehäuse trat Bertel, dass es knisternd barst. Damit scheuchte er einen Fasan auf, der mit lautem „Frr!“ neben ihnen aufflog, dass sie erschrocken zusammenfuhren. Der kupferig schillernde Hahn stieg steil auf, bäumte aber nicht, sondern strich ab, in der Richtung auf das Randgehölz eines Weidenwaldes zu, der eine Bodenwelle bedeckte. Es war ein schöner Anblick, wie der schimmernde Vogel mit breitem Flügelschlag hinschwebte, den schmalen keilförmigen Stoss als langes Steuer wagrecht ausgestreckt. Seinem Warnruf „Kock, kock“ antwortete aus dem Buschwerk das „Tschih, tschih“ einer Henne, die offenbar auf Eiern sass.
Um aus der Nähe des Brutplatzes der Fasane zu kommen, drängte Bertel den Hiasel auf den nahen Holzweg, der westwärts führte. So gelangten sie zu einer vorjährigen Rodung im Schierlingsgrund. Sie hielten sich hinter zwei alten Bruderbäumenin Deckung und spähten die Lichtung ab. Zwei Kaninchen humpelten äsend von Grasbusch zu Grasbusch. Die schlanken Randschösslinge der im Boden gebliebenen Baumstrünke waren fast alle in Kniehöhe benagt. Bertel lenkte die Blicke der Kameraden darauf: „So hoch ist der Schnee gelegen,“ erklärte er. „Die Hasen und die Künigel haben nit zum Gras können; da haben s’ halt Rinden g’ fressen.“ „Und das da?“ fragte Hiasel. Er zeigte auf ein nahes Eschenstämmchen, das in Schulterhöhe so geschunden war, dass Rinde und Bast1 in Fetzen von der Wunde hingen. „Das hat ein Rehbock auf dem Gewissen, der hat im Vorjahr sein Geweih daran gefegt,2 weil’s ihn gejuckt hat, wie der Bast3 abgestorben ist.“
Das Auffliegen des Fasans hatte zur Folge, dass eine Schar Eichelhäher im gegenüberliegenden Pappelbestand ein rauhes Geschrei erhob und nach allen Seiten auseinanderstob. Rechtzeitig drückten sich die Knaben in die Deckung der Bäume; denn schon trat ein stattlicher Rehbock mit noch behaartem Geweih aus dem Gehölz, um zu sichern. Als er die Lichtung leer fand, wendete er sich wieder gegen den Busch1 , aus dem er gekommen war, streckte den „Windfang“2 dem von dorther wehenden Lufthauch entgegen und stellte die Lauscher3 auf. Er machte entschlossen wieder kehrt und schritt bedächtig, die schlanken Läufe mit den schwarzen Schalen4 zierlich setzend, in die freie Lichtung gerade auf die Knaben zu, die mit angehaltenem Atem sein Gebaren beobachteten. Dem Bock folgten die Ricke5 und eine Schmalgeiss,6 beide noch im braungrauen Winterkleide wie der Bock. Dann trippelten zwei Kitze aus dem Jungholz, deren rötliche Decke noch die weissen Tupfen des Jugendkleides trug. Der ganze fünfgliedrige „Sprung“ begann sorglos zu äsen.
Nur die Ricke hob von Zeit zu Zeit den Kopf, mit den braunen Lichtern1 ringsum äugend. Immer näher kam das schöne schlankgebaute Rehwild den beobachtenden Knaben. Franzel, der Wildererssohn, zitterte vor Aufregung. Er bückte sich und hob einen Knüttel auf, ohne dass Bertel und Hiasel es bemerkten. Da huschte ein grosses braunes Wiesel hinter einem Holzstrunk hervor, dem sich eines der äsenden Kaninchen genähert hatte. Blitzschnell sprang das kleine Raubtier den viel grösseren Nager an und verbiss sich in seinem Nacken. Mit einem Angstpfiff schnellte der meuchlings Überfallene in die Höhe und setzte sich in Bewegung. Nach links und rechts Haken schlagend, versuchte das wehrlose Kaninchen den blutsaugenden Reiter abzuschütteln, das Wiesel aber liess sich von ihm tragen. Franzel hob den Arm mit dem Knüttel. Da fasste ihn Bertel am Handgelenk. „Das gibt’s nit! Schmeissen darfst nit; das tät der Vater nit dulden. — San eh z’viel Künigl da.“ — Den Tod im Nacken, lief das Häschen auf ein Brombeergebüsch zu, unter dem es verschwand. Bertels Ruf aber hatte die Rehe scheu gemacht; sie setzen sich in langen bogenförmigen Sprüngen in Bewegung, dass ihre weissen Spiegel1 auf und ab hüpften. Bock voran und Ricke zuletzt, bargen sie sich im Walde, aus dem sie gekommen waren.
Franzel wollte ihnen nach, Bertel aber mahnte zur Umkehr: „Hast g’nug g’sehen für heut.“ Im Gehen fragte er ihn: „Na, was sagst jetzt, is’s bei uns in der Lobau nit aa so schön wie bei enk im Gamsgebirg?“ — „No lang nit,“ gab Franzel zur Antwort. „Da geht ma’ und geht, allweil in der Eben. Bei uns aber kannst steigen! Und von der Höh’ kannst weit ausschauen, dass dir die Augen übergengen.“ — „Steigen kannst bei uns aa, ’s gibt g’nug alte Bam, die’s d’ nit dersteigen magst.“ — „Hast mi leicht scho’ steigen g’sehn?“ fragte Franzel dagegen. — „Habts ja meist Feichten im Gebirg, hast du mir g’sagt; da steigst gar leicht von ein’m Quirl zum andern, wie auf einer Leiter von einer Sprossen zur andern. Aber unsre Pappeln da san keine Feichten. Auf ein’ jungen Felberbam,2 auf eine junge Pappel, Ruster oder Eichen kummst nauf; aber auf ein’ alten Pappelbaum kummst ohne Seil und Steigeisen nit.“ So Bertel. — „Den Bam möcht’ i sehn, auf den i nit nauf käm’,“ verteidigte sich Franzel. Und er liess seine braunen Augen in die Runde gehen.
Da kamen sie zu einer uralten Silberpappel, deren Stamm weit über Mannshöhe astlos war und dabei so dick, dass auch zwei Männer sie nicht umklammert hätten. Und ringsum fehlte die Borke bis auf geringe Reste. „Das haben die Bamschabel3 g’macht, das dumme G’sindel,“ ereiferte sich der Hegerbub. „Was dir nit einfallt,“ berichtigte ihn Hiasel. „Der Bam hat im Jahr 1830 das grosse Hochwasser mitg’macht, bei dem der Eisgang den Leuten im Marchfeld die Häuser zerdruckt hat; den Bam da haben die Eisschollen g’schunden.“ Zum Franzel gewendet, fragte er ihn herausfordernd: „Was sagst zu dem Bam? — Zwingst den? han?“ Da sprang der Gebirgler das Baumungetüm an, fasste eine der kropfigen Knorren, die den Stamm verunzierten, zog sich im Beugehang auf, bis er mit seinen genagelten Schuhen an einer tiefer sitzenden Knorre Halt fand, hielt sich mit der Linken, holte mit der Rechten weit aus, langte mit der Linken nach, zog wieder den Körper nach, fasste wieder Fuss, und im nächsten Augenblick stand er schon auf dem ersten Ast. So klomm er von Knorre zu Knorre, von Ritze zu Ritze, von Aststummel zu Aststummel, immer höher und höher, dass den beiden Zuschauern unten schwindelte. Und als er hoch oben in einer Wipfelgabelung stand, hielt er sich mit der Linken fest, schwang mit der Rechten sein spitzes Lodenhütel und sandte einen langgezogenen Juchezer weithin über die Wipfel der jüngeren Aubäume, die tief unter ihm standen. Dann deutete er nordwärts. „I siach an Turm! — Der g’hört aa mein.“
Schneller als er aufgestiegen war, glitt und rutschte er am Stamme hinab, dass sich Stücke der abgestorbenen Rinde ablösten und das Wurmmehl den in die Höhe starrenden Kameraden in die Augen stäubte. — Als er unten stand, atmete er tief und heftig. Seine Knie waren blutig verschrammt. Die Finger beider Hände, unter deren Nägeln das Blut hervorsickerte, steckte er in den Mund und lachte Hiasel an. Der war sprachlos vor Staunen. Bertel aber sprach vor sich hin: „Dass’s so was gibt?“ Und jetzt fand auch Hiasel den Ausdruck für seine Anerkennung: „Bist halt ein Steiger, ja.“ Der Gebirgler war mit der Lobau ausgesöhnt.
Als er und Bertel sich bei der Schenke von Hiasel verabschieden wollten, enteilte dieser ins Haus und rief ihnen von der Schwelle aus zu: „Wart’ts a wengerl.“ — Und im Nu war er wieder da. Den Hecht, den er bisher getragen hatte, reichte er dem neuen Freund: „Da hast, Steiger, i gib dir’n; der Vater hat’s erlaubt.“ Da nahm der so Beschenkte einen der weichfilzigen Blumensterne, die er hinter der Hutschnur stecken hatte, und reichte ihn dem Hiasel: „Heb’ das Edelweiss gut auf, es is vom Hetscherlberg.“
Auf dem Heimweg musterte Franzel an der Nordseite des Regulierungsdammes wieder die vielen Löcher, welche von den wilden Kaninchen darein gegraben worden waren. Voreilig versprach ihm Bertel, der Vater werde ihm, dem Franzel, erlauben, dass er sie abschiesse. Da leuchteten die Augen des Wildschützensohnes auf. Hatte ihm doch der Neunteufel auf der Herfahrt vorgefaselt, beim Hegeronkel dürft er schiessen, was er wollte: Hasen, Fasanen, Reh und Hirsche. Als die beiden daheim anlangten, kam ihnen Liesel freudestrahlend entgegen: „Der Sepperl hat das Strumpfstricken g’lernt. Er kann auch schon die verkehrten Maschen und ’s Abnehmen!“
Als Bertel und Franzel ihren Fisch der Hegermutter in die Küche brachten, fanden sie Sepperl nicht etwa beim Strumpfstricken, sondern vor einer umgestülpten Kiste, die er für Liesels Puppen als schöne Stube herrichtete. Eine Feigenkaffee-Schachtel, in deren Ecken er vier Stäbchen eingenagelt und die er mit weissem Papier überklebt hatte, war der Tisch, ein Brettchen mit vier Füssen und hoher Lehne, von der ein rotes Tuchrestel über den Sitz wallte, war der Diwan.
Da sassen die zwei Puppen beim Kaffee, der in grossen Eichelnäpfen aufgetragen war, und hatten einen Gugelhupf vor sich, so gross wie ein halber Apfel. Es war ein richtiger Gugelhupf, den die Liesel gebacken hatte. Und oben auf der Kiste, also über der Zimmerdecke, lag Huscherl, die graue Hauskatze; sie hatte ein himmelblaues Halsband um und schien mit Eifer jeder Handbewegung Sepperls zu folgen, der dabei war, aus einem alten Zigarrenkistchen eine Anricht — oder, wie Liesel sagte, — eine Kredenz herzustellen.
Franzel und Bertel widmeten sich dem Putzen und Ausweiden des Hechtes. Als die zweiteilige Fischblase zum Vorschein kam, riss Franzel sie heraus, warf sie auf den Tisch und schlug mit der Faust darauf, dass sie mit lautem Krach zerbarst. Das klang wie ein Schuss. Die Katze sprang von der Kiste und verkroch sich unterm Wasserbankel, Liesel und Sepperl aber liessen vom Puppenspiel ab und wendeten ihre Aufmerksamkeit dem Fisch zu. Da zog Bertel zwei gelbliche Lappen aus dem Bauche des Hechtes, die aus vielen, vielen kleinwinzigen Kügelchen bestanden. „Mutter, da hast den Rogen für die Suppen.“ — Die Hegerin aber fragte die Kinder: „Welches von euch kann mir sagen, was der Rogen eigentlich ist?“ — „Eigentlich?“ — Keines wusste eine Antwort. „Denkt an die Henn’,“ half die Mutter darein. „Sollte der Rogen der Eierstock sein?“ fragte Liesel. „Es is nit anders. Jedes gelbe Kugerl ein Ei.“ „Wann die Hechtin am Leben blieben wär’ und aus jedem Eierl wär’ ein Hecht gewachsen,“ warf Bertel ein, „da hätt’s ja von lauter Hechten in der Naufahrt gewurlt. Die hätten aufgeräumt unter den anderen Fischen und schliesslich hätten s’ verhungern müssen oder eins das andre auffressen!“ — „Es wär’ nit so arg worden,“ beruhigte ihn die Mutter, „die meisten jungen Hechterln wären ja gefressen worden von der ältern Verwandtschaft. Glaubst, so ein hungriger Hecht macht einen Unterschied zwischen gewöhnlichen Spennadlern1 und jungen Hechten?“ — Da meldete sich Liesel: „ Mutter, darf ich ein Ei nehmen, ich möcht’ den Fisch panieren.“ Die Mutter nickte. Kochenspielen ging der Liesel über alles. Flink wusch sie den Fisch, salzte ihn und zerteilte ihn in sechs gleich grosse Schnitzel, die sie mit Mehl bestäubte. Dann zerschlug sie ein Ei, tat Dotter und Eiweiss in einen Teller und verrührte sie mit einer Gabel. In die klebrige Flüssigkeit tauchte sie die Schnitzel, damit die Semmelbrösel gut daran hafteten. Aus prasselndem Schweineschmalz knusperig gebacken, duftete der Fisch, dass allen „das Wasser im Munde zusammenlief“. Wenn auch Liesels Schnitzel nur als zarte Leckerbissen das Abendmahl vervollständigten, sie war glücklich, dass allen schmeckte, was sie gebacken hatte. Das Vorgefühl hausfraulicher Freude strahlte aus ihren Augen.