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Kleine Dummheiten – grosse Wirkungen

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Mit der Vorsicht eines Einbaumschiffers handhabte der kaum dreizehnjährige Kojaa) die Lattenruder, um seinen Waschtrog am Umkippen zu verhindern, während er im lehmfarbigen Überschwemmungswasser den weitläufigen Hof überquerte, dessen alter Bretterzaun vom schweren Donauwasser vielfach umgebrochen und zertragen war. Er hielt auf den Holzschuppen zu, um das Geflügel zu füttern. Auf der Rückfahrt zum Prokophause fischte er allerlei Schwemmholz auf, steuerte sein schwankes Fahrzeug geschickt durch die offene Haustüre und band es am Stiegengeländer fest. — Er trug das nasse Holz auf den Dachboden und breitete es gegenüber der offenen Dachluke zum Trocknen auf. Aus einem Bretterverschlage, in dem die Ziegen ihren Notstall hatten, trat die Mutter des Knaben, den Milchzuber in der Hand. Das noch jugendliche Gesicht der hochgewachsenen Dreissigerin, in deren nussbraunem Haare an den Schläfen schon weisse Strähnchen schimmerten, wurde von einem Lächeln verschönt, während ein Blick ihrer graublauen Augen das Tun des Jungen lobte. Dann wies sie ihm die wenige Milch im Zuber: „Drei Achtel, mehr ist’s nicht. Die Mucki steht schon trockenb) und hat doch noch acht Wochen zum Werfenc); die Nelli ist brav, die wird wieder Milch geben, bis sie wirft. Aber höchste Zeit ist, dass die Tiere in ihren warmen Stall zurückkommen. Geh’, schau, ob das Wasser fällt.“ — Der Junge sah zur Dachluke hinaus. Weit und breit hin über das ganze Becken der Pöchlarner Ebene bis zu den Höhen des Rerapointer Waldes deckte das Wasser der Donau die Äcker und Wiesen. Es trug vereinzelte Eisschollen und Holztrümmer zutal. Die vom Morgenwind bestrichenen Wellen glitzerten im Widerschein der noch tiefstehenden Sonne, deren Strahlen fern im Osten die langen Fensterreihen der Melker Benediktinerabtei in rötlichen Flämmchen erglühen machten. Versunken in den Anblick der wundersam malerischen Landschaft vergass Koja die Frage der Mutter. Der Strahlengruss des Melker Stiftes erweckte in ihm Betrachtungen und Bangigkeit. Der Lichtjubel der ehemaligen Residenz der Babenberger, in der die Benediktiner ein Gymnasium hatten, stand im Gegensatz zum Unglück, von dem die herrliche Bildungsstätte heimgesucht war. Seit drei Wochen war das Gymnasium wegen des im Konviktd) ausgebrochenen Scharlachfiebers geschlossen. Koja fragte sich, ob nicht mancher der Konviktisten der Seuche erlegen wäre. Und er hatte so viele gute Geschäftsfreunde unter ihnen, die, ohne zu feilschen, ihm seine Dubletten von Insekten, Pflanzen und Mineralien abnahmen, welche er aus dem Ötschergebirg oder aus den Vorbergen des Jauerlings eingetragen hatte. Wohl waren Koja die unverhofften Ferien zur Überschwemmungszeit willkommen gewesen, und er hatte nichts dagegen, wenn sie noch ein paar Tage dauerten, nur sollte keiner der erkrankten Mitschüler sterben. Koja hatte seine Schädelsammlung geordnet, jetzt beschäftigte er sich mit seinen Insekten. Die Scharlachferien hatte er genützt, um sich aus gehobelten Kistenbrettchen drei dicht schliessende, schön umklebte Insektenschachteln mit Glasdeckeln und Torfböden anzufertigen. Jetzt war die alte Sammlung zerklaubt; familienweise staken die Käfer, Schmetterlinge, Immen, Zweiflügler, Netz- und Geradflügler auf Diwanpolstern, Torfplatten und Moderholzstücken und harrten des Einzuges in die neuen schmucken Unterkünfte. — Als sein Blick aus der Ferne den geraden Bahndamm entlang näherstrich, gewahrte er einen endlos scheinenden Lastenzug, der mit Pusten und Keuchen von Melk her auf Pöchlarn zufuhr. Und am Rasen des nahen Bahnhofdammes bemerkte er einen mehr als handbreiten Lehmbelag über dem Wasserrande. Da erinnerte er sich der Frage und rief der Mutter die Antwort zu: „Das Wasser ist seit gestern wieder um eine Handbreite gefallen!“ Mutter Maria aber hatte längst den Dachboden verlassen. Da ging auch Koja hinunter. In der Wohnküche fand er Mutter und Schwester schon beim Frühstück. Agi,e) die um zwei Jahre älter war als Koja und schon als Weissnäherin für die Familie verdiente, hatte ihre Tasse auf das Brett der Nähmaschine gestellt. Sie nahm ihre Mahlzeiten nur so nebenbei ein; sie hatte immer „Post-Arbeit“. Ihre blaugrauen Augen blitzten den Bruder neckisch an, während sie ihm ihr blasses, vom glattgestrichenen Blondhaar umrahmtes Gesicht zuwandte: „Nun, du verträumter Forscher, was hast du denn herausgebracht? Steigt das Wasser oder fällt es?“ — „Es fällt und die Lastzüge verkehren wieder.“ — „Das hat doch der Vater schon gestern abend gesagt, als er aus dem Dienste kam.“ — „Wenn der Vater nur wieder den Lastzügen zugeteilt würde,“ mischte sich die Mutter ins Gespräch der Kinder, „dass er nicht mehr unterm Zugsführer Ratz wäre. Der Mensch ist ihm aufsässig. Er lauert nur auf eine Gelegenheit, ihn bei der Direktion anzuschwärzen. Und der Vater macht es seinem Feinde leicht, ihn ums Brot zu bringen. Die vielen Trinkgelder, die er als Schaffner bei den Personenzügen einnimmt, sind sein Unglück. Bei den Lastzügen wär’ er nüchtern.“ — Kaum hatte Agi ihr Frühstück beendet, als sie die unterbrochene Näharbeit wieder vornahm. Als Koja ihr zu lange beim Kaffee sitzen blieb, drängelte sie, ohne die Maschine rasten zu lassen: „Geh’, mach’ weiter, schau, dass du zu einer Arbeit kommst. Auf ja und nein werden die Scharlachferien um sein. Der Albertf) wird euch in Latein und Griechisch doppelte Lektionen geben, damit er das Versäumte einbringt und der Gabriel wird auch trachten, mit dem Lehrstoff in der Mathematik fertig zu werden. Dann kommst du lange nicht zum Basteln. Die Käfer und Schmetterlinge werden auf den Diwanpolstern verstauben.“ — Da stand Koja mit einem Ruck auf und trank stehend den Kaffee aus. „Jetzt kommt aber auch das Schönste. Das Einreihen ist ein Vergnügen, da vergisst man, dass man sich beim Falzschneiden zum Einlassen der Gläser Schwielen geholt hat.“ Und er machte sich mit freudvollem Eifer darüber. Zwischen grellgrüne Papierstreifen, die den mit weissem Glanzpapier überzogenen Torfboden der Schachteln in Felder teilten, reihte er mit liebevoller Sorgfalt die Käfer familienweise ein, wusch verstaubte Stücke mit einem in Benzin getauchten Pinsel rein, schlug einzelne Artnamen im Calwerg) oder im Karschh) nach und schrieb Etiketten mit Angaben des Ortes und der Fangzeit. Schweigend tat er seine Arbeit und nahm sich kaum Zeit zum Essen. Ab und zu, wenn ihm gerade ein Prachtexemplar unter die Hand kam, hielt er es der Schwester hin, die dann sofort ihre Maschine zum Stehen brachte, um dem Bruder beim Freuen und Bewundern zu helfen. Und so oft ihn die Mutter wegschickte, dass er Holz oder Kohle oder Wasser hole, kehrte er ungesäumt zu seiner Sammlung zurück; so brachte er bis zur Dämmerung die drei Schachteln in Ordnung. Mutter und Schwester waren nicht weniger entzückt als der glückliche Koja. Vom vielen Herumstehen und Bücken steif, räkelte er sich und machte sich zum Ausgehen bereit, um statt der Mutter die Einkäufe für den nächsten Tag zu besorgen. In seinem Waschtrog überquerte er das Wasser zwischen dem Prokophause und der Übleis-Scheune, watete in dem vom abgefallenen Wasser noch zerweichten Grunde nach der Stadt Pöchlarn hinüber, kaufte bei der Übleisin Brot, beim Kaufmann Kainrath am Kirchenplatz Zucker und Zichorienkaffee und kehrte eiligst heim. Nach dem Nachtmahl feierte er in seiner Art. Den schnurrenden Kater Dummerl auf dem Schosse, sass er mit dem neuesten Lieferungsheft der Martinschen Naturgeschichtei) im Lichtkreis der Lampe, die sich Agi auf die Nähmaschine gestellt hatte, und las mit stiller Wonne vom Leben der Tiere. Auch die Mutter war mit ihrem Strickstrumpf in Agis Nähe gerückt. Und der getreue Bullenbeisser Dschogg lag zu ihren Füssen, die breite Schnauze auf ihrem Schuh. Er liess seine braunen Augen von einem zum andern gehen. So waren sie alle um Agi versammelt, für die es noch lange nicht Feierabend war. „Es geht uns jetzt besser, als wir geahnt haben damals in Alt-Paka nach dem Verlust unseres ersten Vermögens und weit besser als unmittelbar nach dem Zwangsverkauf unserer lieben Neudamühle, wo der gute Baumeister Prokop uns hier die Wohnung gab und dem Vater bei der Bahn die Stelle eines armselig entlohnten Verschiebers verschaffte.“ So die Mutter. „Und es wird uns noch besser gehen,“ sprach Agi zuversichtlich, „sobald der Koja fertigstudiert haben wird. Wenn er dann Landarzt ist, pachten oder kaufen wir ein Haus mit Garten, Feldern und Wiesen. Eine Sommerstunde aus der schönen Neudazeit ist mir unvergesslich: Wie ahnungsvoll klang uns damals das Lied der beiden Studenten, das Lied vom ‚Haus der Sehnsucht‘, gesungen von Hans Paul, dem Dichter, und Urban, dem Lautenschläger! Weisst du noch, Mutter, im Schatten unserer Hauslinde, wo die Bienenvölker summten?“ — „Wohl, wohl,“ nickte die Mutter, dann arbeiteten beide schweigend weiter und in ihren Seelen schmolz die Vergangenheit zusammen mit der Gegenwart und einer Zukunft, deren Bilder aus dem Entschwundenen stammten. Als Agi merkte, dass Koja zu lesen aufgehört hatte und sich mit dem Anschauen der Bilder vergnügte, forderte sie ihn auf, ihr aus seinem Lehrbuch der Geschichte weiter vorzulesen, wo er gestern stehen geblieben war. Er las den Abschnitt vom Dreissigjährigen Kriege zu Ende, gähnte auffällig und ging zu Bette. Da legte auch die Mutter ihre Arbeit weg, küsste ihre Tochter auf die Stirne und suchte ihr Lager auf. Jetzt erst machte Agi Feierabend in ihrer Art. Sie holte aus der Tischlade ein Schreibheft hervor und arbeitete an ihrem Auszug aus der Weltgeschichte weiter, den sie vor einem Jahre begonnen hatte. Es war schier abenteuerlich, dass sie sich mit dem Gedanken trug, Lehrerin zu werden. Solange sie für fremde Leute nähen musste, um ihre Lieben vor Verelendung zu bewahren, blieben ihr für ihr Studium nur die Nachtstunden, während sie die Heimkehr des Vaters aus dem Dienste erwartete. Der kam erst gegen Mitternacht, diesmal so schwer berauscht, dass er beim späten Abendessen einschlief, ohne die Suppe ausgelöffelt zu haben. Agi musste froh sein, dass er nicht wie sonst durch überlautes Reden die Mutter aus dem Schlummer störte. Sie liess ihn sitzend schlafen, löschte das Licht und begab sich zur Ruhe. Aber sie konnte noch lange nicht einschlummern. Sie sah es kommen, dass der Vater wegen Trunksucht entlassen wurde. Ob dann Koja trotz dem Freitische im Stift und im Brauhaus weiterstudieren konnte, hing davon ab, wieviel sie mit der Nadel verdiente. Dass er beim Buchbinder Berger, wo er die schulfreien Stunden an vier Wochentagen zuzubringen pflegte, so nebenbei die Handgriffe der Buchbinderei erlernt hatte, erschien ihr als eine schwache Hilfe. Ob er die Kraft aufbrächte, als Buchbindergehilfe sich sein Brot zu verdienen und in der Mussezeit seine Studien fortzusetzen, war ihr fraglich. In ihren Augen war Koja noch ein Kind. Wie lange war es her, dass er im Wasser des Eisenbahngrabens Robinson gespielt hatte? Er war noch nicht reif zum Kampfe gegen die Not. Bei aller Begabung, ein Franklinj) war er nicht. Und Koja sollte doch Arzt werden. Hatte nicht der Oberlehrer Greil gesagt, Koja wäre ein „Besonderer“, für dessen Ausbildung jedes Opfer gebracht werden sollte? Wenn auch frei von Aberglauben, rief sich Agi die Prophezeiung der alten Schwammerliesel als Trost ins Gedächtnis. Das erfahrene Waldläuferweib hatte ja der Mutter vorhergesagt, sie werde nach vielem Leide, nach vielen Wanderfahrten und Tränen grosse Freude erleben an ihren Kindern. So schlief Agi ein voll Zuversicht trotz alledem und alledem.

Am nächsten Morgen prangten die Fenster im Schmucke der Eisblumen. Und unten gefror das Wasser wieder. Der Frost dauerte an. Das Eis wurde tragfähig.

Im Verlauf der nächsten Tage ging mit Koja eine auffallende Veränderung vor: Er verlor seine helle Knabenstimme; was er sprach, klang rauh, heiser und merkwürdig tief. Es mochte wohl sein, dass er „mutierte“. Dann aber hiess es doppelt acht geben, denn die Zeit des Stimmwechsels ist für jeden jungen Menschen eine gefährliche Zeit, in der so mancher sonst kluge Junge grosse Dummheiten macht. Das bedachte wohl die Mutter und warnte ihren Buben vor unüberlegten Streichen. Und er versprach ihr, auf der Hut zu sein.

Für Kojas Segelschlittschuhlaufk) blieb das Eis nicht lange tauglich. Es schmiegte sich an die Hügel des Bodens. Es schmolz. Mancher Schaden wurde sichtbar. Die Deckbretter des Hofbrunnens fehlten und auch die Bohlendecke der Senkgrube war weg. Im Wasser, das ein Meter tief unterm Grubenrande stand, schwamm eine „Rumpel“, und die gehörte der Frau Ratz. Das Wellblech im Holzrahmen des Waschgerätes übte auf Koja den Reiz einer Versuchung. — Es war eine Dummheit, eine kleine Dummheit, dass er dem Reiz nicht widerstand. Wie sein Vater einst mit der langgestielten Fischgabel vom Erlafer Steg hinab die Fische aus dem Wasser gestochen hatte, so wollte Koja mit seiner eisenbeschlagenen Flossstange, die noch vom Robinsonspiel da war, die „Rumpel“ heraufholen.

Erst nach elfmaligem Anstechen des Wellbleches blieb das Gerät an der Spitze haften und wurde von Koja hochgezogen. Da lag es nun, unbrauchbar geworden, und wäre vom Missetäter weit fortgeschafft worden, wenn nicht die Frau Ratz, die vom Fenster aus das Spiel Kojas beobachtet hatte, plötzlich erschienen wäre, um die Rumpel an sich zu nehmen. — Dass sie dem betroffenen Jungen nur einen giftigen Blick zuwarf und, ohne ein Wort zu sprechen, mit der Rumpel im Hause verschwand, hätte Koja wohl veranlasst, die begangene Dummheit erst der Schwester und dann vorbeugend seinem Klassenvorstand zu beichten; aber durch die Rückübersiedlung der Ziegen und die dringlichen Ordnungsarbeiten in Stall und Schuppen wurde er so in Anspruch genommen, dass er die von der angeberischen Frau Ratz drohende Gefahr vergass.

Die Scharlachferien waren vorbei. An einem wundermilden Wintermorgen, der durch leisen, grossflockigen Schneefall verschönert wurde, fuhr Koja wieder zur Schule. — Dass die Seuche überwunden worden war, ohne ein Leben gefordert zu haben, gestaltete den Unterrichtsbeginn zu einem freudigen Wiedersehensfest. Aus lange nicht mehr empfundener Lernfreudigkeit wurde Koja mitten in der Griechisch-Stunde herausgerissen. Der Schuldiener trat in die Klasse: „Der Herr Direktor lassen um den Schüler Kajetan Lorent bitten.“ — Professor Albert schob sich mit beiden Händen die Brille zurecht: „Ja, haben Sie denn schon wieder was ang’stellt?“ — Koja, dem der Schreck die Kehle zuschnürte, bejahte mit einem ruckartigen Kopfnicken, dann stiess er mit gepresster Stimme hervor: „Ich hab’ die Rumpel der Frau Ratz zerstochen.“ — Ein Kichern ging durch die Klasse. Auch Albert musste lächeln. „Die werden S’ halt müssen zum Spengler geben — und machen Sie sich auf ein paar Stunden Karzer gefasst. Mit der Zeit werden S’ schon g’scheiter werden; jetzt stecken S’ halt grad in den Flegeljahren.“ — Als Koja nach einer Viertelstunde vom Verhör zurückkam, war er kreidebleich und wankte zu seinem Platz wie ein Trunkener. Er bedeckte das Gesicht mit den Händen. Still und stossweise schluchzend sass er da. In ehrlichem Mitleid ruhten auf ihm die Augen seines Lehrers, der durch Wiederaufnahme des Unterrichts die Aufmerksamkeit der Schüler von Koja abzuwenden suchte. Erst nach Unterrichtsschluss zog er ihn wieder, wie einst, in die Nische eines Gangfensters und erfragte von ihm das Entsetzliche: Die Frau Ratz hatte nicht nur die zerbrochene Rumpel als „corpus delicti“ vorgelegt; sie hatte Koja beim Direktor verleumdet, dass er in Pöchlarn von seinen Professoren in gemeinster Weise übelgeredet hätte. Der Direktor hatte ihr Glauben geschenkt; Koja hatte die Beschädigung der Waschmaschine zugestanden. Sein Versuch, die Lügen der sehr ernst und anständig scheinenden Frau zu entkräften, hatte ihm nichts geholfen; der Direktor hatte ihm vorgehalten, die eingestandene Beschädigung fremden Eigentums wäre eine Büberei, übrigens sei Koja schon vorbestraft und hätte sich der im Vorjahre erfahrenen Nachsicht unwürdig erwiesen; wie könnte er jetzt verlangen, dass man ihm mehr glaubte als der gebildeten Frau? Mit dem Rate, die Anstalt zu verlassen, hatte ihn der Direktor weggeschickt. — Professor Alberts Stirne legte sich in Falten. Die Lage war ernst. Er versprach dem ganz Verzagten, sich für ihn einzusetzen, und getröstet fuhr Koja heim. Er wollte Agi und Mutter in alles einweihen, um sie wenigstens auf die unvermeidliche Sittennote vorzubereiten. Aber daheim gab’s herberen Kummer, der Koja schweigen liess: der Vater war seines Dienstes vorläufig enthoben. Seit Stunden lag er auf dem Divan, das Gesicht zur Wand gekehrt und qualmte aus seiner Holzpfeife. Was die Mutter von anderen über den Anlass erfahren hatte, war ganz und gar trostlos: In Kienberg war zwischen der Ankunft und der Rückfahrt des Personenzuges eine Pause von vier Stunden gewesen. Die hatte Lorent benützt, um sich gründlich zu stärken; er war ja ausser Dienst. Im Zustande der Volltrunkenheit hatte er die Rückfahrt antreten wollen. Beim Überschreiten des Bahngeleises war er gestolpert und der Länge nach hingefallen. Als der Zugführer Ratz ihn aufzurichten versuchte und dabei laut schimpfte, um die Sache recht auffällig zu machen, fasste ihn Lorent mit der Linken beim langen Vollbart und schlug ihn mit der rechten Hand ins Gesicht, wobei er unablässig schrie: „Hab’ ich dich endlich, du schwarzer Judas, du, du!“ — Lorent wurde vom Verschieber und Heizer überwältigt und als verkehrsgefährlich vom Dienste ausgeschieden. In einem leeren Wagenabteil schlief er während der Fahrt nach Pöchlarn seinen Rausch aus.

Acht bange Tage vergingen. Das Disziplinarverfahren gegen Lorent endete mit der endgültigen Entlassung gerade an dem Tage, als sein Weib eines schwächlichen Knäbleins genas. In der Taufe erhielt der in der Zeit des dritten wirtschaftlichen Zusammenbruches Geborene den Namen Rudolf.l) Agis mutterhaftes Bedürfnis nach Hegung und Betreuung anderer hatte nun Gelegenheit, sich in einer Weise zu betätigen, die Koja in der Anschauung bestärkte, sie war’ eine Heilige von unerschöpflicher Kraft. Sie pflegte die Mutter und das Brüderchen und versah die Hauswirtschaft unermüdlich, unverdrossen. Dazwischen griff sie zur Nadel. Dem völlig niedergebrochenen Vater wurde sie eine ernste Beraterin, die mit ihm neue Verdienstmöglichkeiten erwog. Eine Zumutung aber wies sie entschieden zurück: nämlich die Hilfe der Verwandten oder des Herrn Prokop in Anspruch zu nehmen; wie sollte der noch einmal für Vaters Verwendbarkeit bürgen? Mit dem Oberlehrer und ihren Kunden beriet sie sich, wohin sie Stellengesuche zu richten hätte. Die meiste Hoffnung setzte sie auf ein Gesuch, das ein ehemaliger Revisor der Wiener Stellwagenunternehmung Zalaudek ihr befürwortet hatte. Aber es konnten Monate vergehen, bis der Vater in Wien die Stelle eines Stellwagenschaffners antreten konnte. — Was sollte indes mit Koja geschehen? — Vom Bruder ins Vertrauen gezogen, erwirkte Agi beim Gymnasialdirektor durch Bitten und Vorstellungen, dass Koja auf sein Semesterzeugnis die gewöhnliche Abgangsklausel erhielt: „Schüler Kajetan Lorent hat seinen Abgang aus der hierortigen Anstalt ordnungsmässig gemeldet; seiner Aufnahme in eine andere Anstalt steht nichts im Wege.“

Was nun? Die Mutter sah keine Möglichkeit, wie Koja das Studium fortsetzen könnte und gab Agi zu bedenken, ob es nicht doch besser wäre, ihn zu einem Schlosser in die Lehre zu geben, damit er später Maschinenführer würde. Agi aber, die in einer an Starrsinn grenzenden Treue am Vorhaben festhielt, wendete ein: „Maschinenführer sein wär’ gut, aber wenn er sich dann dem Trunke hingäb’ wie der Vater?“ — „Kind, es gibt auch Ärzte, die schwere Trinker sind.“ — „Wenn er aber Medizin studiert und vor allem lernt, was die Menschen krank macht, wird er doch leichter widerstehen.“ — Das leuchtete der Mutter ein, aber wo sollte Koja studieren und wovon? — Da erklärte Agi, sie werde mit ihm nach St. Pölten fahren. Die Einschreibgebühr hatte sie. Wovon sie ihm Wohnung und Kost zahlen sollte, wusste sie noch nicht; — aber die Vielbelesene gedachte der oft ganz abenteuerlichen Art, wie mancher später bedeutend gewordene Mann sich erst als armer Student durchs Leben geschlagen hatte. Warum sollte es nicht auch für Koja eine Möglichkeit geben? Vielleicht fand sich an Ort und Stelle für ihn eine Gelegenheit, wie er sich Wohnung und Kost erarbeiten konnte, vielleicht war in der grossen Stadt ein guter, wohlhabender Mann, der sich seiner annahm. Hatte sich nicht Herr Prokop wie ein rettender Engel eingefunden, hatte er nicht dem Vater die Anstellung bei der Bahn verschafft und der ganzen Familie ein Obdach gegeben, für das sie einen lächerlich geringen Anerkennungszins zahlte? — Suchen wollte sie mit dem Spürsinn der fürsorgenden Liebe. Der betenden Mutter segnende Gedanken würden ja überall mit ihr sein. — Wie Agi einst ihrem Brüderchen die erste Wandertasche genäht hatte, so nähte sie ihm jetzt aus einem Stück Leinwand, zu der die Sonnleitner-Grossmutter den Lein gesät und den Flachs gesponnen hatte, einen Reise-Wickel. Der war nichts anderes, als ein grosses Blatt, dessen Innenseite mit Fächern benäht war, und das auf der Aussenseite Bänder hatte. Die Ränder versteifte sie hübsch mit Säumen aus roten Hanfbändern, das Innere durch Einlegen eines alten Zeichenblockdeckels. Die grünen umspannenden Gurten und den Traggurt versah sie mit Schnallen. Fiebernd vor Freude, als gelte es eine Vergnügungsfahrt, packte Koja etwas Wäsche, einen halben Laib Brot und eine Blechbüchse mit Fett in den Reisesack, der in der Zier seiner roten Ränder und grünen Bänder gar schmuck aussah. Und was Agi an Kleingeld hatte, steckte sie dem Bruder zu.

Als die Geschwister am nächsten Morgen von den Eltern Abschied nahmen, küsste Koja der Mutter die salzigen Tränen von Augen und Wangen: „Nicht weinen, Mutter; wenn die Agi mitgeht, kann’s nicht schief gehen!“

Der Tag verging der guten Mutter in Bangen und Hoffen. Erst mit dem letzten Zuge kam Agi heim, und — sie kam allein. In überstürzter Beredsamkeit, wie es sonst nicht ihr Brauch war, berichtete sie: „Beim Buchbinder Wiedreich hab’ ich ihn untergebracht, in der Herrengasse. In der schulfreien Zeit wird er arbeiten müssen, was sonst ein Lehrbub macht; aber mit ’m Kleisterpinsel kann er ja umgehen. Wie gut, dass er beim Melker Buchbinder schon was gelernt hat; sonst hätt’ ich ihn vielleicht wieder heimgebracht und mit’n Studieren wär’s derweil aus gewesen. Die Wohnung hat er umsonst; aber Kost können s’ ihm keine geben. Es sind fünf Kinder da; die Frau ist gut, der Herr auch; es sind aber arme Leut’. — Sie werden sich umschaun, dass sie ihm Kosttage verschaffen; sie haben schöne Kundschaften. Und ich hab’ dem Koja versprochen, dass er an jedem Samstag mit der Post einen Laib Brot kriegt und einen Brief; in dem muss ein Guldenzettel drin liegen, dass er sich die Woche über wenigstens Milch kaufen kann zum Frühstück; schon das schützt ihn vor dem Verhungern; das will und werd’ ich für ihn schaffen.“ Da zog die Mutter ihre liebe Agi an die Brust und tätschelte liebkosend mit der Rechten ihren Rücken. „Bist ihm halt eine gute, kluge Schwester, du; dass er in seinem dreizehnten Jahr in die Fremde muss, hat mir Kummer gemacht; aber er wird nicht verderben, gelt?“ — „Vor lauter Arbeit wird er nicht Zeit haben zum Dummheiten machen. In der schulfreien Tageszeit muss er in der Werkstatt arbeiten, nach ’m Nachtmahl muss er lernen. So kommt er in keine schlechte Gesellschaft.“ —

Wieder einmal war eine schwere Sorge gebannt. Koja studierte weiter. Ruhiger, als am Tage vorher, sahen Mutter und Agi in die Zukunft. Aber die nächsten Wochen waren schier entmutigend. Der Vater beschäftigungslos. Von der Post kamen kurze abschlägige Erledigungen der Stellengesuche. Agi, die wie selbstverständlich das Amt des Säckelwartes im Haus übernommen hatte, gab dem Vater, der nach dem tröstenden Biertrunk lechzte, kein Geld; seine Stimmung wurde eine verzweifelte. Da verkaufte er seinen zuletzt gefassten Uniformrock und verschaffte sich aus Sparsamkeit zunächst eine Flasche vom billigen Kornschnaps, der die Tröstung rascher und billiger bewirkte als Bier. Heimlich trank er und in kleinen Mengen, aber bald merkten es Mutter und Agi zu ihrem Entsetzen: Der Vater trank Schnaps! — Da brachte der Postbote eines Morgens einen Brief von der Betriebsleitung Zalaudeks. Lorent sollte den Dienst als Stellwagenschaffner in fünf Tagen antreten. Ein befreundeter Westbahnschaffner fand für die Lorentischen in Wien eine Wohnung und beangabte sie. Das Scheiden aus dem liebgewordenen Prokophause wurde ein überstürztes. Beim Packen der Kisten und Möbel fluchte der Vater, die Mutter weinte. Agi war von früh bis abends unterwegs, um in ihrem Kundenkreise Notverkäufe durchzuführen, denn die Übersiedlung kostete Geld. Getrieben von der unerbittlichen Notwendigkeit, machte sie alles Geschäftliche kurz und trocken ab; dem bittern Weh, das ihre Seele erfüllte, so oft sie sich von einem lieben Bilde oder Geräte trennte, gab sie keinen Ausdruck. Sie liess auch ihre Augen nicht feucht werden, als sie von der Ziegen Abschied nahm. Dem treuen Dschogg verschaffte sie beim Fleischhauer Lechner einen guten Platz. Den Kater brachte sie der Übleisin zurück. Altes Gerät gab sie dem Hauswart fürs Helfen beim Übersiedeln; von ihm liess sie das Geflügel schlachten. Sie salzte, würzte und briet das Fleisch, füllte es in Töpfe, und goss ein heisses Gemenge von Schweinefett, Gänse- und Entenschmalz darüber. Dann verband sie die Gefässe mit eingewässertem Pergamentpapier, damit das Fleisch, zweifach von der Luft abgeschlossen, monatelang geniessbar bliebe.

In diesen Tagen brachte die Post ein Päckchen aus der Hinterlassenschaft der Grossmutter; es waren alte Kleider und einige Schmucksachen, darunter ein hohles Goldkreuz. Kein Geld. Wenn Agi abends am Bett der Mutter sass, sprach sie in ihrer altklugen Weise von Koja, der ja geborgen war und der nach den sorgenvollen Studienjahren ihnen allen viel Freude bereiten würde. Lebhaft und anschaulich schilderte sie das Haus der Sehnsucht, mit Gärten und Wiesen und Äckern und Wald. Lächelnd lauschte die Mutter, als hörte sie ein Märchen. „Nicht so arm, als wir aus der Neudamühle gegangen sind, ziehen wir aus dem Prokophaus. — Wir haben Mehl, Kartoffeln, Fleisch und Fett auf ein paar Monate in Vorrat, und Bücher haben wir und Geld. Und der Vater hat eine Stelle, die wenigstens ihn nähren wird. Wir haben beide im Nähen zugelernt und werden in Wien schon verdienen; dort gibt’s ja genug feine Kundschaften. Und Koja wird vom Herbst an in Wien weiterstudieren. Gelt, Mutter, wir halten brav durch, bis er fertig ist.“ Still hörte die Mutter zu und stimmte ihr bei: „Von der Prophezeiung der Schwammerliesel geht wieder etwas in Erfüllung. Wir reisen jetzt bald in die Fremde, dann wird’s noch eine Zeitlang Sorgen geben, manchmal auch Tränen, aber schliesslich folgt die Freud, viel Freud.“ —

Am nächsten Morgen stiegen die Lorentischen in ein Wagenabteil des gemischten Zuges, dem ihr Möbelwagen angekoppelt worden war. Das erste Läuten war vorbei. Da erscholl vom Bahnhofsteig ein scharfes, hohes Kläffen; am Türsteher vorbei stürmte Dschogg und sprang, die Kette hinter sich herschleifend, die Stufen des Wagens hinan. Winselnd vor Freude, begrüsste er jeden Einzelnen. Die Mutter begann laut zu schluchzen, und auch den anderen wurden die Augen feucht. Noch vor dem dritten Läutenm) erreichte der Fleischergesell, atemlos vom Laufen, den Ausreisser und zerrte ihn an der Kette mit sich fort. Das Abfahrtläuten erscholl; ein schriller Pfiff, ein Ruck an den Verbindungsketten der Wagen, ein Aneinanderschlagen der Puffer, und der Zug setzte sich in Bewegung.

Im Widerglanz der Morgensonne, wie es Koja so oft gesehen hatte, flammten wieder die langen Fensterreihen des Stiftes, als der Zug an Melk vorbeifuhr. Da zog Agi ihr Taschentuch hervor und winkte hinüber, sie gedachte der Professoren Albert und Gabriel, die auch ans Gute im Wesen ihres Bruders glaubten. Und sie erneuerte in sich das Gelöbnis, diese schicksalschaffende Meinung wahr zu machen. Einen bedeutungsvollen Blick sandte sie zur Mutter hinüber, die, den Säugling an der Brust, unter Tränen zu ihr herüberlächelte. Der ihr gegenübersitzende Vater suchte ohne Rücksicht auf das Kind seinen Groll und seine Sorgen im Tabaksqualm seiner Holzpfeife zu ersticken. Der Zug fuhr in den Tunnel des Sandsteinberges vor Loosdorf ein; die schöne Heimat lag hinter der Familie. Lachend im Sonnenschein, der gelbleuchtend auf der Schneedecke der Hügel und Felder flimmerte, tauchte die Fremde vor ihnen auf. Vorüber am Schloss Schallaburg und der vom Abhang des Dunkelsteiner Waldes herniedergrüssenden Osterburg, ging die Fahrt auf St. Pölten zu, wo Koja zur selben Stunde im Gymnasium sass. Wie friedvoll war die winterliche Welt, wie lieblich das hügelige Gelände, in dessen Bachtälern freundliche Ortschaften mit ihren roten Ziegeldächern eingebettet lagen. Überall kräuselten sich bläuliche Rauchsäulen empor, die, von keinem Windhauch gedrückt, erst in der Höhe der Zwiebeltürmen) der Dorfkirchen zerstoben.

Die Abschiedsstimmung war überwunden. Der sonnige Tag weckte stille Zuversicht in den Herzen der Reisenden. — Agi öffnete den Esskorb und verteilte mit hausmütterlichem Eifer den Imbiss, Brot und Gänsebraten, darnach den unvermeidlichen Kaffee. Leise plaudernd, näherten sie sich in zuversichtlicher Stimmung ihrem Ziele. — Je weiter sie durch den Wiener Wald aufwärts fuhren, desto mehr füllte sich der Zug mit ländlichen Fahrgästen, die in den Haltestellen und Stationen mit Eierkörben und grossen, blechernen Milchkannen einstiegen. Auch zur Familie Lorent kamen zwei Bäuerinnen und besetzten die Mitte des Abteils. Ihr eintöniges, überlautes Reden störte gar sehr das Behagen der Fahrenden. Mutter und Agi horchten unwillkürlich. Die eine Bäuerin erzählte von ihrem Sohne, der in Wien Uhrmachergeselle war und ein armes Mädel geheiratet hatte. „Und jetzt sitzen s’ im Elend. Zwölf Gulden Wochenverdienst. Vier Kinder. In Ottakring haben s’ eine kleine Armeleut-Wohnung, nur Zimmer, Kammer und Küche. Der Lohn reicht kaum aufs Essen. Die Kammer haben s’ an einen Metalldreher vermietet, der zahlt dafür samt Bedienung und Frühstück fünfzehn Gulden monatlich; das ist grad der Wohnungszins. Weil’s aber auf Schuh und G’wand nit langt, haben s’ in der Küche einen zweiten Arbeiter als Bettgeher. Und die sechse hausen, essen und schlafen alle miteinander in dem ein’ Zimmer. Die Frau ist schon ganz krank; und wie schaun die Kinder aus! A’ Glück nur, dass mein Sohn nit trinkt — und dass ich doch ein bissel nachhelfen kann mit Erdäpfeln, Milch und Eiern; sonst wären’s schon lang schwindsüchtig ...“

Das klang wenig tröstlich. Agi verliess ihren Fensterplatz und drängelte sich an die Mutter heran, als wollte sie durch ihre körperliche Nähe ihr die Empfindung geben: du wirst nicht allein sein, im Kampfe gegen das Elend. Wir beide werden zusammenstehen in Sorg und Mühen; wir werden das neue Leben uns und unsern Lieben so einrichten, dass es doch vorwärts gehe, dem Hause der Sehnsucht entgegen.

Kojas Haus der Sehnsucht

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