Читать книгу Kojas Haus der Sehnsucht - Alois Theodor Sonnleitner - Страница 6
Am Abgrund vorbei
ОглавлениеIn Wien. Die neue Wohnung der Familie Lorent lag in der Pelzgasse, die zwischen dem grossen Schmelzer Friedhof und dem Westbahnhof nordsüdwärts strich und aus zwei Reihen vierstöckiger Zinshäuser bestand. Wie öde, im Vergleich zum bescheidensten Gässchen von Pöchlarn oder Melk! Dort hatten die alten Häuser und Häuschen mit ihren Schwibbögen und Erkerchen, Strebepfeilern und Lugfensterchen ein jedes sein eigenes Gesicht, das vom bodenständigen, kleinbürgerlichen Behagen sprach. Hier war eines wie das andere. Keines hatte vor dem anderen irgend etwas Eigenartiges voraus, es sei denn, dass von den nach Westen gerichteten Stirnseiten da mehr, dort weniger verwitterter Gipsstuck abgebröckelt war. Die Lorentischen bewohnten zu ebener Erde Zimmer, Küche und Kammer eines Hoftraktes, während im Vorderhause ein Perlmutterdrechsler hauste, dessen Werkstattfenster vom anhaftenden Staube undurchsichtig waren. Vom wüsten Hofe aus gelangten sie unvermittelt in ihre langgestreckte Küche, die nur vom schmalen Fensterchen oberhalb der Türe Licht empfing. Rechts von der Küche lag das zweifenstrige Zimmer, in dem Mutter, Vater und Agi wohnen sollten. Links von der Küche war die einfenstrige Kammer, das „Kabinett“. Agi, die an die Heimkehr des Bruders dachte, hatte ihm diesen Raum als Studierstube eingerichtet. Beim Fenster stand ein kleiner Tisch, darüber waren zwei Wandbretter mit der Hausbücherei. Über dem Bett, in dem Koja schlafen sollte, hingen seine Käfer- und Schmetterlingsschachteln an der Wand und daneben, als anheimelndes Stilleben, die Wandertasche, der Wanderstab, die Feldflasche und die vernachlässigte Geige, für die wohl später wieder die Zeit kommen sollte. Auf dem breiten Fensterbrett stand das leere Vivarium, links und rechts davon die noch wenig beblätterten Geranien, welche mit dem leuchtenden Blütenrot dem Ersehnten entgegenjubeln sollten, wenn er im Sommer aus der Fremde kam, um wieder bei den Seinen zu bleiben. Der Blick aus den Fenstern war so trostlos, dass Agi sich beeilte, die unteren Scheiben mit Tüll zu verhängen. Der Hof war von zertretenem, russgeschwärztem Schnee bedeckt, unter dem mancherlei Gerümpel halbverborgen lag, leere Fässer, Kisten, zerfallene Bottiche, Hühnersteigen, rostige Blechkannen, zerbrochene Flaschen, und mitten darunter ein borstiger, umgeworfener Christbaum, dessen Nadeln zum Teil abgefallen waren.
Alle Hausarbeit in der kaum eingeräumten Wohnung fiel der armen Agi zu, die Mutter kränkelte. Der Vater war seit dem zweiten Tage des Wiener Aufenthaltes als Stellwagenschaffner von 5 Uhr früh bis Mitternacht im Dienst. Agi lobte sich’s, dass sie für die erste Zeit genug Nahrungsvorräte angelegt hatte, denn das aus den Notverkäufen gelöste Geld war fast verbraucht. Die Übersiedlung und die vierteljährliche Vorauszahlung des Mietzinses hatte sie vorausgesehen, nicht aber die Ablösung des in der Wohnung belassenen Gasherdes und des Gasmessers. Kaum, dass sie noch den für Koja bestimmten Guldenzettel rettete, den sie ihm samt einem mütterlichen Brief in die Packung des Brotes einnähte und pünktlich am Donnerstag zur Post trug, damit er die Sendung vor Sonntag erhielte. — Jetzt ging eine arge Quälerei an: Wenn sie um 4 Uhr morgens dem Vater das Frühstück bereitete, verlangte er von ihr ein paar „Sechserln“a) Zehrgeld, obwohl sie ihm Fleisch, Brot und Kaffee in die Diensttasche packte. Schon am Ende der ersten Woche war sie ganz ohne Bargeld. Um den Mehlvorrat zu schonen, verbrauchte sie täglich mehr Kartoffeln, als sie vorbestimmt hatte. Mit denen bestritt sie nicht bloss die Hauptmahlzeiten, sondern streckte auch den Teig beim Brotbacken. Da nahm sich der Vater Lohnvorschüsse; denn bei seinem anstrengenden Dienste genügten ihm die Trinkgeldkreuzer nicht zur Stärkung, die es nicht entbehren konnte. Als auch die Kartoffeln und das Mehl zur Neige gingen, wurde Agi angst und bange. Schon, um Koja vor dem ärgsten Hunger zu schützen, musste sie sich nach Verdienst umsehen. Aber ohne Lehrbrief bekam sie in Wien keine Arbeit als Näherin. Sie hätte als unbezahltes Lehrmädchen anfangen müssen. Sie aber musste jetzt gleich Geld verdienen und sie wollte daheim arbeiten, dann sie konnte sich’s nicht ausdenken, wie’s der Mutter erginge, wenn sie ihr fern wäre. Die nächste Sendung an Koja bestritt sie aus dem Erlös ihrer goldenen Ohrringe. Der Vater liess sich nach und nach die Hälfte des Monatslohns in Vorschüssen geben. Der Rest wurde von Strafabzügen geschmälert, wie sie bei seiner Art der Dienstleistung unvermeidlich waren. Was er am Ersten des Monats auf die Hand bekam, reichte gerade hin, dass der schwer entmutigte Mann sich an zwei aufeinanderfolgenden Tagen Trosträusche antrank. Und die hatten zur Folge, dass er am dritten Tag ohne Abfertigung entlassen wurde. — Und plötzlich war das Elend da, wie sich’s Agi trotz ihrer Belesenheit nicht vorgestellt hatte. Die Vorräte waren bis auf geringe Reste aufgebraucht. Die Mutter war noch bettlägerig, und der kleine Rudi weinte und wimmerte viel, weil er sich an der Mutterbrust nicht satt trinken konnte. Von Koja war noch immer keine Nachricht eingelangt. Die Vorstellung, dass der Bruder Hunger litte, quälte Agi ärger als ihr eigenes Hungergefühl. Und täglich gab es Verdruss, denn der Vater, der das gewohnte Bier schwer entbehrte und der als Arbeitsloser wenigstens rauchen wollte, wenn er schon von den dünnen Mehlsuppen nicht satt wurde, begann allerlei zu verschleppen, was er zum Trödler trug oder ins Wirtshaus, wo er dafür mehr zu bekommen hoffte. Einmal war’s sein eigener Ehering, dann ein gebundener Jahrgang der Gartenlaube, dann das wollene Umhängtuch der Mutter. Und er bestand darauf, Agi müsste sich um einen Verdienst, wenn nicht im Hause, so ausserhalb des Hauses, umschauen; im Inseratenteil des Tagblattes wären täglich genug Stellen ausgeschrieben. „Aber dazuschaun musst, dass dir keine zuvorkommt.“ — „Ich möcht ja, aber wo komm’ ich denn zu einer Zeitung, noch dazu, bevor s’ andre gelesen haben?“ — „Lauf in der Früh, so um viere, in die innere Stadt, dort erfragst die Administration in der Schulerstrasse. Jeden Morgen, wenn die Zeitung aus der Druckerei kommt, werden dort alle Seiten des Annoncenteils heraussen vor’m Lokal aufgeklebt. Da warten schon eine Menge arme Teufel drauf, die sich keine Zeitung kaufen können. Und sobald du was find’st was du leisten kannst, musst laufen, dich vorstellen, dass dir keine zuvorkommt.“ — Drei Tage nacheinander stand Agi um 3 Uhr früh auf; ohne Frühstück lief sie durch die finsteren Gassen des „Neubaus“, fragte sich bei Wachleuten zurecht und drang beim ersten Morgengrauen, als sich das Leben erst in den Gassen zu regen begann, durchs Marktgewühle am Hof in die innere Stadt vor. Sie eilte am noch verschlossenen Stephansdom vorbei und gelangte in die Schulerstrasse, wo ein Zeitungsverlag neben dem andern war. Da gesellte sie sich zur Menge der Wartenden, die sich stiessen und drängten, als die Ankündigungen aufgeklebt wurden. Und als sie sich durchgedrängelt hatte, las sie in fieberhafter Aufregung die Arbeitsangebote. Aber sie fand keine Arbeit, die es ihr möglich gemacht hätte, bei der Mutter daheim zu bleiben. Schleppenden Ganges ging sie den langen Weg zurück, vorbei an rasselnden Wagen und Wägelchen, an eilenden Arbeitern und Arbeiterinnen. Die alle hatten Arbeit und für sie war nichts da? — Mit Bangen dachte sie daran, dass sie dem hungernden Koja nicht das Brot und den Gulden schicken könnte, wenn der nächste Donnerstag kam. Mit gesenktem Kopfe ging sie dahin, dass kein Begegnender die Tränen sehen sollte, die ihr über die Wangen rollten.
Es kamen schwere Tage für die Familie; die Suppen wurden immer dünner, sie stillten den Hunger nicht. — Der Vater war wenig zu Hause. Täglich ging er zeitig aus, um Arbeit zu suchen. Er nahm sich als Wegzehrung zum Brote so viel Fleisch und Fett aus Agis Vorräten, dass diese beängstigend schwanden. Das letzte Schmalztöpfchen versteckte sie vor ihm, um doch etwas zum Suppenkochen zu haben.
Da suchte Agi aus dem wenigen Schmuck, der von der Grossmutter her da war, einige Granat- und Korallenschnüre zusammen und trug sie ins Versatzamt in der Kaiserstrasse. — Dort stand sie stundenlang vor den Schaltern herum, inmitten der langhin angereihten Kunden, in einer vom Hauch der Gasflammen und vom Schweiss der Harrenden übelriechenden Luft, bis die Reihe an sie kam. Der Schätzmeister prüfte die Goldschliessen ihrer Korallen- und Granatschnüre auf die Echtheit, indem er damit auf dem schwarzen Probierstein (Kieselschiefer) Striche machte, die er mit Scheidewasser (Salpetersäure) betupfte. Mit angehaltenem Atem starrte Agi auf die Probe und atmete erleichtert auf, als das Gelb sich nur wenig änderte. Aber schwer enttäuscht schaute sie dem Beamten ins Gesicht, als er ihre Kostbarkeiten zusammen nur mit drei und einem halben Gulden belehnte. Sie streckte die Hand nicht aus, um das Geld zu nehmen. Da schob er ihr’s hin und legte die unleserlich beschriebenen Versatzzettel dazu, die mit ihrem Adler und allerlei Zierdruck wie richtige Wertpapiere aussahen: „Ein Drittel vom Metallwert; aufs andere kriegen s’ nix.“ — Geschoben von den Nachdrängenden, raffte Agi die Zettel und das Geld zusammen und ging langsam der Stiege zu; dann aber eilte sie heim; sie musste heut noch einen Verdienst suchen und finden; sie musste dem Elend ein End’ machen. In Gedanken versunken, kämpfte sie gegen den Westwind an, der ihr Staub und Papierfetzen entgegentrieb, während schweres Gewölk den Himmel verdunkelte. Daheim fand sie die Mutter ausser Bett. Blass und matt, bewegte sie sich langsam im Zimmer hin; sie räumte auf. — Agi legte das geringe Ergebnis ihres schweren Ganges auf den Tisch: „Einen Gulden für Koja, das andre auf Brot.“ — „Sei froh, dass du nicht mehr bekommen hast; je weniger, desto eher können wir’s abzahlen; sonst werden unsere Pfänder verlizitiert.“ — Das leuchtete Agi ein. — Getröstet löffelte sie einen Teller Wassersuppe mit eingebrockten Brotrindeln aus, und suchte eilig alles, was ausser Kojas alten Lehrtexten an Büchern da war, zusammen, um es auf dem Dachboden zu verbergen. Die Bücher sollte der Vater nicht finden; die sollten der Not nicht zum Opfer fallen!
Obwohl es draussen zu regnen begonnen hatte, ging Agi aus dem Hause, um Arbeit zu suchen, geleitet von heissen, inbrünstigen Gebeten der Mutter. Sie war fest entschlossen, nicht früher heimzukehren, bis sie einen Verdienst gefunden hätte, bei dem sie die Mutter nicht allein zu lassen brauchte. Von Wind und Regen getrieben, ging sie rasch dahin, die Lippen fest geschlossen, mit den Augen die Schilder und Schaufenster der Geschäfte musternd. Wo sie eine Pfaidlereib) sah, fragte sie an. So überquerte sie, watend im Strassenkot, den vom Schwerfuhrwerk zerfahrenen Neubaugürtel und bog zwischen den Resten des Linienwallesc) durch, am Zollamt vorbei in die Westbahnstrasse ein. Als sie dort in den grossen Geschäften keinen Erfolg erzielte, begann sie die Seitengassen abzugehen. Gequält vom Hunger, herb enttäuscht von jeder Abweisung, strebte sie vorwärts, getrieben von dem Gedanken: „Es gibt für mich Arbeit, so wie für tausend andre. Sie wartet auf mich, ich muss sie nur finden.“ — Nach langem Herumirren hatte sie zweimal den halben Erfolg erzielt, dass sie als Hilfsarbeiterin Beschäftigung gefunden hätte, das einemal als Spulerin in einer Strumpfwirkerei, das andremal als Auflegerin in einer Notendruckerei. Sie aber gab der Versuchung nicht nach; sie durfte die Mutter mit dem Kleinen nicht verlassen. Schon begann es zu dämmern. Agi wankte entkräftet dahin. Von den durchnässten Schuhen rieselte ein Frösteln durch ihren Leib. Da sah sie in der Seidengasse aus einem Geschäfte, in dessen Auslage Reis- und Kaffeeproben in Säcken feilgeboten wurden, eine ärmlich gekleidete Greisin auf die Gasse treten; die trug zwei grosse Bünde Sackleinen. Von einem Hustenanfall erschüttert, liess die Alte den einen Bund fallen. Agi hob ihn auf und gesellte sich zu ihr, die nur widerwillig und misstrauisch ihre Begleitung litt. „Geh’n S’ liefern?“ fragte Agi das arme Weib, dessen Husten in Röcheln übergegangen war. „Ah, belei’d), dös kann i erst morgen auf d’ Nacht. A Dutzed Säck’ will g’naht sein. In weniger als ein’m Tag zwing’ i’s nit.“ — „Wann’s nur gut ’zahlt wird?“ versuchte Agi sie auszuforschen. Die Alte lachte heiser auf. „Vier Kreuzer für’s Stück.“ — Agi begann zu rechnen. Bei der nächsten Strassenecke machte sie kehrt. Sie suchte das Geschäft auf und fragte gleich nach dem Chef. Es war ein alter Herr, der sie trotz der stark vorspringenden Nase durch den Schnitt seines weissen „Kaiserbartes“ an den Herrn Prokop erinnerte. Sie fasste Zutrauen und schilderte ihm in hastigen Worten die Lage der Ihrigen. — „Vorläufig könnt’ ich Sie nur als Sacknäherin beschäftigen, ich lass halt auf Vorrat arbeiten; das wär’ aber besser eine Heimarbeit für Ihre Mutter. Wenn Sie da schräg hinübergehen in das Strickwarengeschäft, können Sie selbst lohnendere Beschäftigung haben.“ — Er schrieb einige Worte auf eine Geschäftskarte. Zeigen Sie meine Empfehlung vor, damit man Ihnen ohne Kautione) Wolle anvertraut. Dann kommen Sie gleich zu mir zurück. Ich richt’ Ihnen derweil was für die Mutter.“ Als Agi nach wenigen Minuten wieder bei ihm eintrat, trug sie unterm Arm ein leichtes Bündel von zehn Strähnen schwarzer Mohair-Wolle, aus der eine grobe, lange hölzerne Häkelnadel ragte. „Was zahlt er Ihnen fürs Stück?“ fragte der alte Herr. — „Vierundsechzig Kreuzer.“ — „Das ist um vier Kreuzer mehr als er sonst für ein Kopftuch zu zahlen pflegt.“ Als Agi ihm dankte und ihn zugleich um die Sackleinwand für die Mutter bat, gab er zweifelnd zur Antwort: „Ja, können S’ denn das schleppen?“ — „Oh, wie gern!“ Fast jubelnd stiess sie es hervor.
In jeder Hand einen schweren Pack Sackleinen, unterm linken Arm das Päckchen Wolle eingeklemmt, stapfte Agi tapfer durch den Regen heim. Sie geriet auf die hell erleuchtete Mariahilferstrasse und drängte sich durch die Menschenmenge, die im Licht der Bogenlampen und der Auslagenbeleuchtung dahinwogte. Die Schnüre ihres Packes schnitten sie empfindlich in die Finger, aber sie achtete nicht darauf. Vor ihren Augen stand das Antlitz der Mutter, die unter Tränen lachen würde. Agi brachte Arbeit heim, Arbeit, Verdienst, Brot! Und es war ihr, als erlebte sie ein Kapitel der Geschichte eines Auswanderers, der sich in der bösen Übergangszeit zu Newyork als Schuhputzer oder Zeitungsausträger vor dem Verhungern noch gerettet, der aber dann immer bessere, immer lohnendere Arbeit gefunden, bis er so viel erspart hatte, dass er sich eine Farm hatte kaufen können, das Haus seiner Sehnsucht. Und sie dachte an Auerbachs Barfüssele, das Gänse gehütet und als Bauernmagd gedient hatte, bevor es ihm beschieden war, auf dem stattlichsten Hofe des Gaues als Herrin zu walten. Als sie vor der Mariahilfer Linie an dem durch seine Volkssänger berühmten Gasthaus „Zum Vogelsang“ vorbeikam, riss ihr ein Schuhband, das schon längst dünn gerieben war. Da musste sie haltmachen. Aus den offenen Oberlichtern der Gasthausfenster quoll ein warmer Hauch heraus, der, vom Wind gedrückt, ihr um Mund und Nase strich. Es war ein Duft von Bier, Bratensaft und Gulyas; davon wurde der Hungrigen fast übel. Und während sie das Schuhband knüpfte, hörte sie ungewollt eine Strophe des Wiener Couplets an, das von einer etwas schrillen Stimme vorgetragen wurde:
„Im Wirtshaus sitzt a Deutschmeister
Und schafft scho’ dreimal an;
Der Kellner kummt langmächti net,
Drum schreit er, was er kann:
Ös gasbeleucht’ten Schwalbenschwaf
Mit’n Trinkgeldnehmerg’sicht,
Mir scheint, ös habt’s mit samt’n Wirt
Im Hirn alle die Gicht.
Ham s’ a’n’ Idee?
Das is halt weanerisch, holladiö,
An Witz, an Kern,
So reden d’ Leut in Wean!“ — — —
Von allen Gästen wiederholt, von Jauchzen, Stampfen und Lachen begleitet, scholl der Kehrreim durch die Fensterluken zur Lauschenden. — Gestern noch hätte es ihr bitter weh getan; jetzt musste sie lächeln, während sie durch den märzfeuchten Bahnhofpark der Pelzgasse zustrebte. Daheim angekommen, warf sie ihre Päcke von sich und flog der harrenden Mutter an die Brust. Schluchzend brachte sie die Freudenbotschaft heraus. „Wir haben Arbeit, wir haben beide Arbeit.“ Mit fliegenden Händen packte sie aus. Und sie rechnete der Mutter vor: „Wenn ich an einem Tag ein Mohair-Tüchel fertig bring’ und wenn du, Mutter, ein Dutzend Säcke nähst, verdienen wir mitsammen täglich einen Gulden und zwölf Kreuzer. — Damit sind wir alle vor dem Verhungern geschützt. — Drei Kilo Kartoffel zwölf Kreuzer, ein Liter Milch zehn Kreuzer, zwei Laib Brot fünfzig Kreuzer, da bleiben noch vierzig Kreuzer aufs Gemüs und hie und da auf ein Stück Fleisch; ich hab’ bei einem Pferdefleischhauer am Gürtel das Kilo mit acht Kreuzern angeschrieben gesehen.“ Da schüttelte sich die Mutter vor Abscheu. „Aber, Agi, was fällt dir ein, wer wird denn Pferdefleisch essen?“ — „Essen’s Leute, die nicht so arm sind wie wir, werden’s auch wir essen. Ein altes Vorurteil ist’s, dass Pferdefleisch nicht gegessen werden sollte. Das Pferd ist reinlicher als das Schwein, es frisst nur reines, unverdorbenes Futter, Weil’s aber in alten Zeiten dem Wodan geweiht war, wurde es nur bei Opfermahlzeiten gegessen. Sonst war dem Volk der Genuss von Pferdefleisch verwehrt. — Nur das ist gemerkt worden durch Jahrtausende, aber den Grund haben die Leute vergessen.“ — Die Mutter musste klein beigeben. Agi hatte den Gulyasduft in der Nase und setzte es durch: Am nächsten Sonntag sollte es ein Festessen geben: Pferd-Gulyas mit Nockerln. — Dass sie Arbeit gefunden hatte, musste gefeiert werden. — Plötzlich aber sprang Agi auf und stellte sich in scherzhafter Entrüstung vor die Mutter hin. „Hast mir gar nichts aufgehoben zum Essen?“ Da strich ihr die Mutter beschwichtigend über Stirn und Scheitel. „Schon, schon.“ Im Nu war das Aufgehobene gewärmt. Was war es? Eine nach Majoran duftende Einbrennsuppe mit gerösteten Brotschnitten, und die Mutter tat eine Messerspitze Gänseschmalz hinein, dass es in grossen Augen oben schwamm. — Auch das war ein Festessen. — Wer aber bei der grossen Freude fehlte, das war der Vater. Der hatte schon gestern Kojas Geige von der Wand genommen und beim Trödler verkauft; denn er brauchte Geld, weil er ja weite Wege machte, um Verdienst zu finden. — Kaum hatte Agi den Löffel weggelegt, als sie mit Wolle und Nadel die Arbeit begann. Ihrem Beispiel folgte die Mutter. So stille wurde es bei ihrer emsigen Arbeit im Zimmer, dass das eilige Ticken der Weckeruhr aufdringlich hörbar wurde, und Agi unbewusst die Bewegung der Häkelnadel darnach richtete. Mutter und Tochter dachten an den abwesenden Vater. Und als hätte die eine die Gedanken der andern gehört, verstand die Mutter die Worte Agis: „Aber wir müssen die Arbeit verstecken.“ — „Es gäb’ Verdruss,“ versetzte die Mutter. „Deine Rechnung muss ohne ihn gemacht bleiben, sonst geht’s nicht auf.“ — Es ging auf elf Uhr. — Die arbeitenden Hände hasteten weiter. Und weiter gingen die überlegenden Gedanken. „Für’n Koja wird der Gulden wöchentlich herausgespart. Aber, wenn wir alles aufessen, was wir verdienen, bleibt nichts auf den Wohnungszins, nichts auf Schuh —; mit den Kleidern helfen wir uns noch lang’,“ so Agi. Und die Mutter darauf: „Der Mietzins, der Zins!“ — Schneller zog sie den groben Faden, rascher, als die Uhr angab, ging die Häkelnadel Agis vor und zurück. Und wieder warf die Mutter ein Wort hin: „Wenn wir die Kammer vermieteten?“ — „Was trägt’s?“ fragte die Tochter zurück, ohne die Augen vom gespannten Faden zu heben. „Fünfzehn Gulden mit Bedienung und Frühstück.“ — „Fünfzehn Gulden?!“ staunte die andere. — „Fünfzehn Gulden.“ — Da liess Agi die Hände in den Schoss sinken. — „Dann tun wir’s.“ Und emsiger als vorher suchte sie die verlorene Minute der Akkordarbeit einzubringen. — Aber dem Entschlusse humpelten ihre Bedenken nach. Die Kammer war ja für Koja! Wenn er heimkam, sollte er doch ein liebes Stübchen vorfinden, wo er ungestört seine Gedanken sammeln konnte! Und Agi beschloss, der Mutter die Sache auszureden. Was sie soeben gedacht, sprach sie in kurzen, hingeworfenen Sätzen aus. Sie erklärte, sich bald nach einer besser gezahlten Arbeit umzusehen, dass nur Koja nicht vertrieben wurde aus dem Optimum, dem Besten von jetzt, was doch so bescheiden war gegen das Beste von einst: statt Haus und Garten nur ein Kämmerlein, dessen Fenster in einen trüben Hof gingen. Aber im Kämmerlein anheimelnde Ordnung. Und so sehr hatte sich auch bei der Mutter die Bedeutung des einst vom Oberlehrer Greil gebrauchten Wortes „Optimum“ ins Bewusstsein eingelebt, dass sie nachgab. — Die Kammer sollte also nicht vermietet werden. Gott hatte heute geholfen, er würde weiter helfen. Beruhigt von diesem Trostgedanken, nähte die Mutter weiter. Immer langsamer, immer müder ging die Hand; die Augenlider wurden schwer; nur noch die eine Naht, dass der dritte Sack fertig sei. Dann verbarg sie die Säcke samt Leinwand, Fadenknaul und Nadel unterm Strohsack ihres Bettes und begab sich zur Ruhe. Agi arbeitete fort, bis der Vater käme. — Ein Uhr vorbei. Die Torglocke schrillte durch die Stille der Nacht. — Schlurfende Schritte auf dem Hof. Der Hausmeister ging öffnen. Agi wickelte rasch ihre Arbeit ins Packpapier und legte sie unter ihren Kopfpolster. Dann ging sie dem Vater entgegen. Als sie ihm öffnete, berührte sein Atem ihren Mund. „Vater, Sie haben Rum getrunken?“ So empfing sie ihn. — „Na — und?“ fragte er gereizt zurück. Schwer liess er sich auf den Sessel fallen und verlangte zu essen. — Als sie ihm aber die gewärmte Suppe hinstellte, stocherte er mit dem Löffel darin herum und schob den Teller von sich. — „Agi, so geht’s nicht weiter!“ — „Nein, Vater, so geht’s nicht weiter.“ — „Es muss anders werden!“ schrie er und schlug mit der Faust auf den Tisch. „Es muss!“ sprach Agi vor sich hin. Da begann der kleine Rudi quäkend zu weinen, die Mutter erwachte. „Lass doch das Kind schlafen, geh’, geh’, Alter, leg’ dich ins Bett und schlaf dich aus, dass du morgen deinen Kopf klar hast, wenn du Arbeit suchst.“ — „Arbeit? Ich hab’ Arbeit.“ — „Ah!“ riefen Mutter und Agi zugleich. — „Ausreden lassen! Ich hab’ Arbeit für die Agi. — Die Sattler-Rosel hab’ ich getroffen.“ — „Aus Pöchlarn?“ — „Aus Pöchlarn.“ — „Wo?“ — „In einem Nachtkaffee. Hat dort einen schönen Posten, ist Sitzkassierin.“ — Mutter und Agi schwiegen betroffen. „Hat achtundvierzig Gulden monatlich, die ganze Kost und Nebenverdienst. — Und sie will mit der Agi zu ihrem früheren Herrn gehen;der braucht eine.“ — Lorent drehte sich nach seiner Frau um. „Was sagst? — „Nix!“ — „Warum nix?“ — „Weil’s heut schon spät ist; halb zwei; morgen reden wir darüber, morgen. Heut bist schon müd. Geh’, geh’, Vater, tu’s dem Kind zulieb; leg’ dich schlafen.“ — Mit unverständlichem Murren stützte Lorent den Kopf trotzig auf beide Fäuste. Vor sich hinbrütend, sass er da, bis ihm der Kopf auf die Tischplatte sank. Ohne ihm die Stiefel auszuziehen, wie Koja es so oft getan hatte, liess Agi ihn schlafen, drehte den Gashahn ab, entkleidete sich im Finstern und begab sich zur Ruhe. — Obwohl die Lidränder sie brannten, floh der Schlummer ihre Augen. Angestrengt horchte sie zur Mutter hinüber, die mit leisem Singsang den wimmernden Kleinen einzuschläfern suchte. Als das Kind ruhig war, hörte sie die Mutter lispeln; die betete, betete für ihre Tochter. Die Mutter hatte Angst. Da stand Agi von ihrem Lager auf und ging blossfüssig zum Bette der Mutter. Bebend vor Kälte, drängelte sie sich zu ihr unter die Bettdecke, schob den linken Arm unter ihren Kopf, streichelte ihre Wange mit der Rechten und flüsterte ihr zu: „Mutter, Mutter, ich bleib bei euch; ich verlass euch nicht.“ — Dann lagen sie eine Weile still nebeneinander, bis Agi begann, der Mutter lispelnd vom besseren Ertrag der Heimarbeit zu sprechen, die sie finden wollte. Es musste ja doch in Wien Geschäfte geben, die Stickereien und Märkereien brauchten. Hatte nicht die Handarbeitslehrerin von Alt-Pakaf) solche Arbeiten nach Prag und nach Reichenberg geliefert? Erst als Agi an den ruhigen Atemzügen der Mutter merkte, dass es ihr gelungen war, sie in sorglosen Schlaf zu plaudern, verstummte sie. — Aber sie selbst blieb noch wach, die neuen Verdienstmöglichkeiten mit Eifer überdenkend. Da hörte sie von der nahen Lazaristen-Kirche herab die Uhr zwei schlagen und sie nahm sich vor, bis fünf Uhr früh zu schlafen, um schon eine Stunde, bevor der Wecker rasselte, zu häkeln. Eng beisammen schlummerten die treuen Lebenskämpferinnen ein und schliefen ihren kurzen, tiefen Schlaf so friedvoll, als gäbe es nichts, das ihr Glück, ihre Gesundheit, ja vielleicht ihre Ehre bedrohte.
Das unerschütterliche Vertrauen zueinander gab ihnen beiden die Ruhe der Sicherheit inmitten einer Welt von Gefahren, vor denen sie nur ein Gefühl warnte. Es waren die Gefahren der gesellschaftlichen Tiefen, Gefahren der irrenden Armut, die — vom Schwindel ergriffen — im Abgrund versinkt.
Die Liebe, mit der Agi an den Ihrigen hing, war ihr Schutzengel.